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Emporkömmlinge am gesellschaftlichen Firmament

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Im Vergleich zu den anderen Inflationsgrößen seiner Zeit ist Sigmund Bosel eher ein Spätzünder gewesen. Anfänglich steht Bosel komplett im Schatten von Camillo Castiglioni, der sich schon im Ersten Weltkrieg als Auto-, Flugzeug- und Motorenhersteller einen Namen gemacht hat. Derweil Bosel noch ein kleiner Kaufmann ist, macht der Industrielle Castiglioni als k. u. k. Kriegsgerätelieferant bereits das große Geschäft. Die Firmen des Technikpioniers fertigen mehrere tausend Flugzeuge für den Luftkampf der kaiserlichen Doppeldecker-Maschinen. Als der Krieg zu Ende geht, ist Castiglioni ein schwerreicher Mann. Noch reicher wird er dadurch, dass er auch beim Abverkauf der Rüstungsgüter nach Kriegsende mitmischt. Nachdem Castiglioni die k. u. k. Armee zuerst aufgerüstet hat, verdient er nun an ihrer Demontage. Schnell schlägt sich der aus Triest stammende Castiglioni auf die Seite der Sieger. Der umstrittene Industrie-Tycoon wird italienischer Staatsbürger und kann sich als Geldgeber der Regierung von Benito Mussolini später in Österreich auch krumme Geschäfte erlauben, weil die heimischen Behörden gegenüber dem Mussolini-Protegé an auffälliger Beißhemmung leiden.36

Während Sigmund Bosel seine Engagements noch ganz im Stillen anhäuft, ist Castiglioni ein wirtschaftlicher Trendsetter. Auch Bosel eifert ihm mit zeitlicher Verzögerung nach. Castiglioni war schon vor dem Ersten Weltkrieg ein Kommerzialrat. Bosel bekommt den Titel erst 1921. Beide hatten ein Faible für Bahnfahrten im Salonwagen. Den imperialen Eisenbahnwaggon von Kaiser Franz Joseph schnappt sich aber Castiglioni. Dieser setzt auch früher zu einem aufsehenerregenden Immobiliencoup an: Bereits im Sommer 1918 kauft Castiglioni vom 83-jährigen Eugen von Miller zu Aichholz ein feudales Palais inklusive einer riesigen Kunstsammlung. Bosel bezieht seine schlossartige Villa erst 1920. Man sieht: Beim Anhäufen der für Inflationskönige typischen Insignien war Bosel ein Nachzügler. Dennoch hat es nicht lange gedauert, bis Bosel in einem Atemzug mit Castiglioni genannt wurde und davon die Rede war, dass neben den beiden Ausnahmeerscheinungen alle übrigen neureichen Finanzjongleure verblassen würden.37

Eine gemeinsame Anekdote über Bosel und Castiglioni unterstreicht ihre Ausnahmestellung im Klub der Glücksritter. Das heitere Lexikon der Österreicher führt dazu folgende Begebenheit an: „Castiglioni spazierte einmal mit dem Bankier Sigmund Bosel über die Wiener Ringstraße. In der Nähe der Staatsoper packte ein junger Mann Bosels Aktenkoffer und eilte mit schnellem Schritt davon. Bosel wollte ihm nachlaufen, doch Castiglioni hielt ihn zurück: ‚Was wollen Sie?‘, sagte er. ‚Wir haben doch alle einmal klein angefangen.‘“38

Auch mit der Gründung seiner Privatbank ist Sigmund Bosel kein Vorreiter gewesen. Bevor er im April 1922 das „Bankhaus S. Bosel“ mit 27 Mitarbeitern aufmacht, sind in Wien schon hunderte Geldinstitute wie Schwammerln aus dem Boden geschossen. Zum Devisenhandel an der Wiener Börse waren im September 1921 bereits 360 Banken zugelassen. Bosel ist nur einer von vielen, die in der Finanzbranche Fuß fassen wollen. Das Bankhaus Bosel schlägt seine Zelte im Rathausviertel auf, und zwar in genau dem Haus, wo bereits die „Handelsgesellschaft Omnia“ ihre Büros hat. Bosel gründet seine Privatbank deshalb, weil er einen professionellen Apparat zur Verwaltung seines Vermögens braucht und große Aktiengesellschaften unter seine Kontrolle bringen möchte. Nachdem er die Gewinne aus seinen Devisengeschäften und den Handelsaktivitäten der Omnia schon seit geraumer Zeit in Aktien gesteckt und sein Wertpapier-Portfolio auf Pump erweitert hat, zieht es Sigmund Bosel an die Börse. Wahrscheinlich rechnet er damit, dass früher oder später eine Sanierung der Währung kommen wird und die Aktienkurse erwachen werden. Diesen Zug will Bosel nicht verpassen.39

1922 ist aber nicht nur das Jahr, in dem Bosel seine Privatbank gründet. Es ist auch das Jahr, in dem Hugo Bettauer seinen erfolgreichsten Roman schreibt und Sigmund Bosel dabei literarisch verewigt. Stadt ohne Juden heißt das Buch, das zwei Jahre später auch als Film in die Kinos kommt. Bettauer nennt sein Werk einen „Zukunftsroman“, in dem er sich den alltäglichen Antisemitismus seiner Zeit vorknöpft. Eine Satire soll vor Augen führen, wie dumm und abstrus die Judenfeindlichkeit ist, für die viele damals anfällig sind. Dazu konzipiert Bettauer eine Handlung, die später bisweilen als visionäre Vorahnung der Judenverfolgung nach dem „Anschluss“ gedeutet worden ist: Das inflationsgeplagte Österreich beschließt, unter Führung des fiktiven Bundeskanzlers Schwertfeger, dass alle Juden Österreich verlassen müssen. Der anfängliche Jubel verfliegt jedoch bald, weil Wirtschaft und Kultur den Bach hinuntergehen. Ohne seine Juden schlittert Wien noch tiefer in die Krise. Schließlich kapieren auch die einfachen Menschen auf der Straße, dass die Vertreibung einer wichtigen Bevölkerungsgruppe ein Schuss ins Knie gewesen ist. Die judenfeindliche Hetze des aufkommenden Nazitums wird als realitätsferne Propaganda demaskiert.40

Um diesen Gedanken zu veranschaulichen, bringt Bettauer in seinem Roman unvermutet den Namen Bosel ins Spiel. Ein Beleg dafür, dass Sigmund Bosel 1922 bereits derart bekannt gewesen sein muss, dass ihn Bettauer selbstredend in den Text einbaut: „Elend, Teuerung, Arbeitslosigkeit wuchsen, und die Führer waren in Verlegenheit, weil sie nicht wussten, wem sie die Schuld daran geben sollten … Früher hatten die Hakenkreuzler mit ihren Plakaten Aufsehen erregt, die Massen aufgehetzt. Bosel und andere jüdische Plutokraten waren als Beherrscher Österreichs, als Blutsauger und Volksbedrücker ausgerufen worden. Nun aber lebte Bosel in London, und die Plakate der Hakenkreuzler waren so inhaltslos geworden, dass sie niemand mehr las.“41

Schlussendlich werden die Juden wieder nach Wien heimgeholt, und das Happy End zwischen der Katholikentochter Lotte Linder und dem von ihr getrennten Juden Leo Strakosch, die neuerlich ein Liebespaar sein dürfen, symbolisiert das wiedergefundene friedliche Zusammenleben.

Auffällig ist, dass Bettauer als Sohn eines jüdischen Börsenmaklers für Bosel nur den Begriff „Plutokrat“ übrig hatte. Damit verwendet der sozialdemokratisch eingestellte Bettauer einen ideologischen Kampfbegriff: Plutokraten gelten als demokratiepolitisch gefährliche Turbo-Kapitalisten.42 Es besteht kein Zweifel: Sigmund Bosel hat durch seinen märchenhaften Reichtum polarisiert.

Der arme Trillionär

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