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4 – IM KLUB DER GLÜCKSRITTER

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Die Stadt, in der Sigmund Bosel sein Vermögen aus dem Krieg in den Frieden hinübergerettet hatte, war 1919 nur mehr ein Abklatsch ihrer alten Größe. Wien hatte als Metropole einer Großmacht abgedankt. Die Stadt war nun das überdimensionierte Zentrum einer kleinen Alpenrepublik, die in einer kolossalen Identitätskrise steckte. Der Bestseller-Autor Hans Habe, der auch Sigmund Bosel persönlich kannte, hat den Knacks im rot-weiß-roten Selbstwertgefühl später so umrissen: Österreich sei „eine Operette mit tragischem Ausgang“ gewesen.1 Als am 12. November 1918 in Wien die Republik ausgerufen wurde, nannte sich der frischgeborene Staat „Deutsch-Österreich“. Gedacht war er als Zwischenstufe bis zum Anschluss an das neue demokratische Deutschland. Doch der Friedensvertrag von Saint-Germain erlaubte der Ersten Republik keinen Zusammenschluss mit der Weimarer Republik. Die Nachkriegsösterreicher mussten also die Suppe alleine auslöffeln, die ihnen der ach so gute alte Kaiser durch seine gemeingefährliche Bereitschaft für den „großen“ Krieg eingebrockt hatte.

Das Ende der Monarchie war für die Bevölkerung ein Wechselbad der Gefühle. Für die einen war es ein Untergang, für die anderen ein Umbruch, durch den mit der lästigen Bevormundung durch die Aristokratie endlich Schluss war. Doch dem Staat, den keiner in der Form wollte, wie er Wirklichkeit geworden war, fehlte es an Energie und Selbstsicherheit. Viele Bewohner konnten sich nicht vorstellen, dass ihr neues Staatsgebilde überlebensfähig war. Österreich war ein Armenhaus mit abertausenden Kriegswitwen, Waisenkindern und verkrüppelten Heimkehrern, in dem noch dazu die Spanische Grippe wütete. Die Kriegsgeneration war verbittert, das Bürgertum wirkte orientierungslos, die Arbeiterschaft sehnte sich nach einer sozialen Revolution. Am allermeisten wurde die Katerstimmung im Land aber von der katastrophalen Geldentwertung getragen. Sie war eine gewaltige Vermögensumverteilung und erzeugte einen enormen Politfrust.

Traumatisiert von der Inflation, verloren viele Menschen den Blick darauf, dass es während der rot-schwarzen Koalition von 1918 bis 1920 wichtige sozialpolitische Errungenschaften gab – wie das Allgemeine Wahlrecht auch für Frauen, das Arbeitslosengeld oder den Acht-Stunden-Arbeitstag. Im Tollhaus der Inflation ging der staatsbürgerlich-emanzipatorische Wert dieser Reformen unter, wie der Schriftsteller Hugo Bettauer 1922 in seinem Roman Der Kampf um Wien beklagt hat: „Die Bürger waren nie so frei, wussten aber nichts Rechtes damit anzufangen, und sehnten sich zurück nach der Monarchie mit ihren Orden und Titeln.“2

Um eine republikanische Ersatzbefriedigung für die althergebrachte Titelsucht zu schaffen, haben auch die Würdenträger der Ersten Republik munter Ehrungen verteilt. Was der inflationär vergebene Hofratstitel für die Beamtenschaft war, sollte in der Welt der Wirtschaftstreibenden der „Kommerzialrat“ werden. Diesen Titel hatte es so wie den „Hofrat“ in der Monarchie auch schon gegeben. Als Anerkennung für kommerzielle Leistungen hatte man den prestigeträchtigen „Kommerzialrat“ zu Kaisers Zeiten allerdings nicht vergeben. Ihn bekamen nur Mitglieder einer berufsständischen Kommission, die mit der Export-Statistik zu tun hatte. War die Funktionsperiode um, war die Auszeichnung wieder weg. Außer der Kaiser „geruhte“, den Titel in speziellen Fällen auf Lebenszeit zu verlängern. Nach Kriegsende hing die Kommerzialratswürde eine Zeit lang in der Luft. Die erwähnte Kommission gab es zwar weiterhin, aber die Republik hatte Wichtigeres zu tun, als dieses Gremium zu erneuern.3

Im Juni 1920 flattert dann im Handelsministerium, genauer gesagt, im damaligen „Österreichischen Staatsamt für Handel und Gewerbe, Industrie und Bauten“ ein Antrag der Wiener Polizei auf den Tisch. Sigmund Bosel möge doch für seine Verdienste mit dem Kommerzialratstitel belohnt werden, heißt es darin. Die mitgelieferte Begründung kommt von Polizeipräsident Schober höchstpersönlich: „Ich erlaube mir, die Aufmerksamkeit auf die verdienstvolle Betätigung zu lenken, welche Sigmund Bosel als kommerzieller Leiter des Lebensmittellagerbetriebes der Polizeidirektion in Wien im Interesse der mir unterstehenden Behörde, wie auch unmittelbar im Interesse der Republik Österreich entfaltet hat und bitte, für ihn eine Auszeichnung zu erwirken.“4

Den Beamten fällt auf, dass für den jungen Kaufmann parteipolitische Schwergewichte intervenieren. Allen voran der Hausherr und amtierende Ressortchef, der Sozialdemokrat Wilhelm Ellenbogen. Auch Matthias Eldersch, der sozialdemokratische „Staatssekretär für Inneres“, unterstützt den Antrag. Und zwar „wärmstens“, wie Eldersch in einem Begleitbrief meint.5 Befürwortet wird die Angelegenheit gleichfalls vom christlichsozialen Spitzenpolitiker Eduard Heinl. „Nachdrücklichst“, wie Heinl wissen lässt. Sigmund Bosel hat gewichtige Fürsprecher aus der roten und schwarzen „Reichshälfte“, die sich für einen Kommerzialratstitel ins Zeug legen.

Die großkoalitionäre Politikerphalanx holt sich vom Beamtenapparat jedoch eine Abfuhr. Die Republik könne funktionsgebundene Kommerzialratstitel nicht freihändig verleihen, erklärt das Präsidialbüro. Die beiläufige Anregung der Politiker, Bosel doch in die neu zu gründende Statistik-Kommission zu entsenden, damit er „auf diesem Weg des Kommerzialratstitels teilhaftig“ werde, blocken die zuständigen Stellen bockig ab. Man brauche kein extra bestelltes Mitglied und schon gar keinen 27-Jährigen mit Protektion. Die Beamten bekommen den politischen Willen aber recht bald zu spüren. Im November 1920 wird Bosel zum Mitglied des Beirates für Handelsstatistik ernannt. Damit darf er während der Dauer seiner Mitgliedschaft den Titel „Kommerzialrat“ führen.6

Einige Monate später bekommt Bosel den heiß ersehnten Titel ein zweites Mal verliehen, diesmal aber auf Lebenszeit. Die Republik hat auf Empfehlung des Handelsministeriums, in dem mittlerweile Eduard Heinl das Kommando führt, den „Kommerzialrat“ neu eingeführt, und zwar explizit für Wirtschaftstreibende, die sich besondere Verdienste erworben haben. Im März 1921 verlautbart die Präsidentschaftskanzlei, wer zur Riege der Auserwählten gehört. Bosel steht ganz oben auf der Liste, er ist der erste und mit Abstand jüngste Kommerzialrat der Ersten Republik.7

Hätte die Monarchie überlebt, wäre Bosel wie vereinbart mit dem Titel „Kaiserlicher Rat“ belohnt worden. Früher oder später hätte man ihn dann wohl auch in den Adelsstand erhoben. Nachdem Adelstitel bereits vor dem Ersten Weltkrieg käuflich zu haben waren, hätte der junge Bosel für eine Nobilitierung sicher freudig in die Tasche gegriffen.8 Nach dem Krieg waren solche Gedankenspielereien jedoch Schnee von gestern. Das Parlament hatte den Adel per Gesetz abgeschafft. Damit war die gesellschaftliche Zugehörigkeit nun mehr denn je eine Frage des Geldes.

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