Читать книгу Allgemeinbildung in der Akademischen Welt - Gerd Breitenbürger - Страница 12
1.2.1 ANALYSE: Anthropologie: Aggressivität
ОглавлениеWie Hypothesen gewonnen werden, soll am Beispiel "Aggression" erläutert werden. Die biologische Anthropologie setzt heute – zum Beispiel bei dem Evolutionsanthropologen Michael Tomasello – den diachronischen Längsschnitt (historischen) evolutionär günstig bei den in Gruppen lebenden Affen und den etwa 24 Monate alten Kleinkindern an. Die Kulturanthropologie interessiert ihn nicht, sie kommt zu einem späteren Zeitpunkt zum Tragen und bringt ja auch die bekannten abweichenden Ergebnisse. Die Fragen der philosophischen Anthropologie hält er für relevant, wenn die evolutionären Würfel für den Menschen längst gefallen sind.
Bei einer solchen Fragestellung ist es nicht ungeschickt, die Theorien anzuschauen, die zu diesem Thema Relevantes vorgebracht haben. Wenn man es für richtig hält, kann man dem Thema eine Vorüberlegung vorausschicken, um den Horizont abzustecken.
Vorüberlegung zum Thema, vor jeder Hypothesenbildung: Der aggressive, agonale Charakter des Menschen stört, wenn Konflikte eskalieren. Von Homer bis jetzt ist er bezeugt. Man will wissen, warum das so ist, um Mittel zu finden, die das verhindern und um eine bessere Gesellschaft aufzubauen. Schon vor 700 Jahren vor Christus wird cool berichtet, wie Lungenteile dem Gegner aus dem Körper mit dem Kampfspeer gehauen werden. Die Aggression, heiß oder kalt, ist der ganz große Wertvernichter. Kann aber auch Identität schaffen, bestätigen, produktiv werden lassen. Für die islamische Welt ist der "Hass der Taliban", aus Aggression geboren, zur Aggression führend, nicht unbedingt gleichbedeutend mit Destruktion.
Es kann die Spekulation folgen, die zu hypothetischen Annahmen führt. Kann man das Wesen des Menschen erkennen, um daraus Anhaltspunkte zu gewinnen, ihn zu steuern. Dazu muss man herausfinden, wie eindeutig und zutreffend sein Wesen bestimmt werden kann.
Wissenschaftliche Spekulation:
Spekulation war im Mittelalter einseitig. Man beließ es dabei, Erkenntnis durch sie zu gewinnen, indem man abstrakt denkt, aber sich nicht in Richtung Praxis bewegte. Man blieb völlig abgehoben von ihr. Kann ein Kind mit einem Goldzahn geboren werden, hat eine Spinne acht Beine, wie viel Engel können auf einer Nadelspitze tanzen. Das waren Fragen, über die man debattierte, an denen man nicht vorbeikam. Auf den Gedanken nachzuschauen, kam man nicht, was allerdings bei den Engeln sowieso nicht möglich war. Es handelt sich um abstrakte Spekulation, die ein unzureichendes Denken ist.
Hypothesen:
Der Mensch ist aggressiv. Das agonale Element bestimmt sein Wesen von Anfang an. Er ist egoistisch. Seine Aggressivität ist angeboren, daher so schwer korrigierbar. Diese Meinung des englischen Philosophen Thomas Hobbes (gest.1679) wird heute noch angeführt.
Seine Aggressivität ist nicht angeboren, sondern in der Sozialisation erworben und ex post durch Neuronenschaltung im Gehirn verdrahtet, lautet die andere Position in der Aggressionsforschung der 70er Jahre. In der Gruppe ist der Mensch altruistisch und egoistisch. Somit ist sein Wesen nicht eindeutig bestimmbar. Was höchst unbefriedigend ist. Was innerhalb der Gruppe als Mord gilt, gilt im out-group Bezug als Heldentat.
Der Naturwissenschaftler und der naturwissenschaftlich orientierte Anthropologe argumentieren gerne ahistorisch. So stehen nun einmal die Dinge. Historisch sieht die Bilanz, die sich an den Taten und Untaten des Menschen orientiert und Pessimismus oder Optimismus ausdrückt, entsprechend buntscheckig aus: Der englische Philosoph Thomas Hobbes (gest. 1679) meint, der Mensch sei egoistisch und aggressiv. – Der französische Philosoph Jacques Rousseau meint, er sei gut, werde aber in der Zivilisation verdorben.
Heute hört man auf Naturwissenschaftler. Der Biologe Hans Mohr: Zwei Seelen wohnen in der Brust des Menschen. Altruismus und Egoismus. Eine elastische Beweglichkeit besteht zwischen 0 und 1, die ihm verwirrend erscheint. Ein leicht resignativer Standpunkt bleibt übrig, wir können es nicht ändern, weil unsere Gene das letzte Sagen haben.
Aus allen Positionen lassen sich verständlicherweise unterschiedliche Konsequenzen ziehen. Für Politik, Erziehung und Weltbild wären hier gesicherte Erkenntnisse von großem Wert.
Der Subjektbegriff, der für das Selbstverständnis eines jeden Individuums wichtig ist, "wer bin ich", "Ein Kerbtier?" (Kafka, Die Verwandlung) ist in der Neuzeit besonders wegen einer Vielzahl beunruhigender Erkenntnisse unter die Räder gekommen. Man kann es so sehen. Man kann es auch anders sehen. In solchen Fällen ist es vorzuziehen, auf eine bedingungslose Generalisierung zu verzichten und die Felder anzuführen, in denen man sicher sagen kann, hier liegt das Phänomen vor und dort eben nicht. Das Subjekt als Autor, Urheber seiner Handlungen, wird schon von der geistigen, sozialen Gestalt der Epoche, in der es lebt, stark relativiert. Unmerklich gibt es da Vorgaben für unser Verhalten aus einem Konglomerat von Determinanten und Direktiven. Auch als beobachtendes Subjekt im Experiment bleibt es ja zwangsläufig in seiner Rolle gegenwärtig, aber tunlichst kleingehalten, es soll ja nicht mit seinem Objekt interferieren (einwirken). Die Soziologen sind besorgt, weil der Mensch in den modernen Gesellschaften funktionalisiert wird, indem er, wie es paradoxerweise heißt, einer intensiven Individualisierung unterliegt, die zu vermehrtem Anpassungsdruck führt. Er übernimmt Rollen, in denen er nicht aufgeht, wird genötigt, sich sein Leben zu organisieren, wo früher Gemeinschaftsstrukturen Sicherheit und wertvolle Freiheiten gaben. Er ist ein anderer geworden; denn nur scheinbar gewinnt er bei seinem Zwang zur gesteigerten Selbstverantwortung an seiner Subjektgestalt dazu. Wie das Opfer im Westernfilm, das sich sein Grab ganz individuell und ganz allein selbst graben darf, "von widrigen Umständen des Lebens“ so etwas wie im Würgegriff gehalten.
Tomasello zählt Eigenschaften auf, über die eine Gruppe verfügt, die, wie die Kinder in frühem Alter bis 24 Monaten, eben von Natur aus altruistisch ist. Es sind erwartungsgemäß steuernde, konservative Qualitäten der Zuwendung. Die haben die Kinder als erstes gelernt. Was sie ererbt haben, muss auch nicht gleich einem boshaften Grinsen ähnlich sehen. Es fängt vielversprechend an mit einem Strauß edlen Verhaltens:
Kooperation
Kommunikation
Toleranz
Altruismus
Mutualismus
Einer für alle heißt das, aber nicht alle für einen! Sondern "allen", in diesem Sinne dem Kollektiv, ist die Aufgabe vorbehalten, den Gang der Phylogenese (Stammesentwicklung) zu bestimmen und vor allem zu sichern. Da gewinnt dann die Gruppe, eindeutig, da sie immer als Population gewinnen muss, nicht das Individuum.
In manchen Fällen der wissenschaftlichen Forschung ist es ergiebig, sich allein schon den sprachlichen Reflex des Problems anzusehen, um einen ersten Einblick in seine praktische Bedeutung zu erhalten.
Wieso gibt es diese Begriffe wie Toleranz und Kooperation? Wie steht es mit dem Determinismus, den Tomasello nicht erwähnt. Die Bedeutung des "Anderen", der Sozialbezug, ist er determinierend zu verstehen? Der Philosoph Karl Jaspers meint lapidar, dass das Ich nicht das soziale Ich ist, es ist mehr und qualitativ anders. Es ist gefährlich, allein zu stehen, trotzdem tun es viele. Da ist sehr viel „Ich“ ohne soziale Einbindung.
Dissident – Rebell – Revoluzzer – Spalter der Gruppe (provozierter Rauswurf oder nicht provoziert) – Aussteiger – Außenseiter – Querdenker – Mauerblümchen (sofern selbst und aktiv "schuld") – Individualist – Hagestolz – Extremist – Anarchist – Eremit –Säulenheiliger – Django – Eskapist – Anachoret – Einzelgänger.