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1.3.4 Plafond-Denken als Methode der Kritik

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Es gibt einen Zugang zu dem Problem, Texte auf ihr geistiges Niveau hin fair zu beurteilen, in dem man sich anschaut, wo ihr Intelligenzplafond liegt. Man will wissen, kann der Autor der Versuchung widerstehen, sich selbst überbieten zu wollen und erst recht der Gefahr, zu nachlässig zu sein. Ist er so vernünftig, bei dem zu bleiben, was er kann, oder muss er unbedingt noch die Dinge erreichen, die zu hoch für ihn und/oder für den Forschungsstand sind, also „zur Zeit nicht lösbar.“

Besonders, wenn er sich gezwungen sieht, aus anderen Disziplinen Erkenntnisse herbeizuholen, in denen er nicht firm ist, ist eine gewisse Demut angesagt, wenn er sich nicht um Kopf und Kragen bringen will. Für Studenten, die Texte interpretieren, ist es riskant, im cross over andere Disziplinen heranzuziehen. Wer als Germanist nur wenig von Soziologie versteht, muss wissen, wieweit er sie einbezieht. Wer seinen Ansatz philosophisch begründen will, muss einfach etwas mehr von Erkenntnistheorie verstehen, als er gerade braucht, das bekannte Surplus, das die Arbeit immer erleichternde redundante Wissen.

Jenseits des Plafonds mit seiner non-plus-ultra-Grenze, da hier die Kompetenz aufhört, gibt es dann noch den angesprochenen, nicht individuellen wissenschaftlichen Konsensus-Bereich als Konstrukt, den Wissenspool, weiter oben schon als "Forschungshöhe" oder "Landkarte der Forschung" angekündigt. Bewährtes und Avantgardistisches wird hier aufbewahrt und muss von dem erkundet werden, der den Forschungsstand für seine Arbeit braucht.

Die normale Menschenkenntnis, für die ein nicht akademischer Wissenspool zuständig ist, erlaubt den Zugang zu Othellos gequälter Seele direkt. Die Ambivalenz seines Charakters, seine Komplexe und sein Temperament sind unmittelbar einleuchtende Psychologie, die der Zuschauer begreift. Und fast ein halbes Jahrtausend später immer noch packend findet. Es muss also einen kulturellen Wissenspool geben, den die meisten teilen, eben auch über die Zeit. Ihm können Studienobjekte entnommen werden, die zum Beispiel der Psychologie erlauben, mit genauen Instrumenten den kulturellen Wissenspool zu überprüfen und vor allem zu begründen. Dieser Pool enthält alles, was an gesichertem und hypothetischem Wissen verfügbar ist. Ob die Psychologie dabei etwa Othellos persönliches Eifersuchtsdrama mit ihrer wissenschaftlichen Vorgehensweise zwingender erscheinen lässt, ist nicht entscheidend. Sie verspricht uns aber zu zeigen, warum Othello gute Gründe bzw. Motive für seine Tat hatte. Sie bietet außerdem Gelegenheit zu zeigen, mit welcher Kompetenz oder sogar Eleganz sie selbst den Nachweis führt, sich also auch als Wissenschaft beweisen kann. Im Wissenspool ist immer auch das Element Eigenwerbung enthalten.

Othello als Modell, als "Casus" ("Kasuistik" leitet sich davon ab), als Fall für Eifersucht zu nehmen, ergibt eine interessante "Fallstudie". Die Ermittlung von Kausalbeziehungen, von Gründen, die den Erfahrungen theoretisch zugrunde liegen könnten, ist ein Hauptanliegen der Naturwissenschaften und insofern auch der Psychologie.

Geisteswissenschaften ist eine solche messende und relativierende Validierung, die Gesetzmäßigkeiten voraussetzt und mit deren Messung sich knapp zufriedengibt, nicht möglich und ist auch nicht zu wünschen. Wenn in Linguistik oder Psychologie gemesssen und abgezählt wird, etwa in der Proxemik oder in der Bestimmung von durchschnittlichen Satzlängen, ist die Methode nicht sehr „geistreich“, aber die Ergebnisse durchaus. Hier verläuft also die Trennung der Interessenssphären. In den Augen der gesetzestreuen Naturwissenschaftler scheinen die Geisteswissenschaftler häufig in ihren Annahmen, Erklärungen, Interpretationen zu schwimmen. Besonders für die Psychologen ist die Sache dornig. Wie kann man mit Gesetzeskenntnis Dinge untersuchen, die nicht Gesetzen zu gehorchen scheinen. Sie sind individuell, und sie sind konform mit anderen Fällen. Die Lösung scheinen sie gefunden zu haben, weil man auch das Individuelle auf einer höheren, allgemeinen Ebene behandeln kann. Dies kann eine Typologie sein oder eine statistische Wahrscheinlichkeit, allerdings mit einer erheblichem Verlust an Genauigkeit. Ob das gelingt, hängt von der Qualität des Psychologen ab. Othello ist eifersüchtig, nun gut, er ist sehr oder sogar äußerst eifersüchtig, das ist ein wenig genauer. Sagen kann das nur, wer da weiß, wie ein typischer Eifersüchtiger funktioniert. Jeder Fall liegt vermutlich anders, deshalb schaut man sich Othellos Drama an. Othellos aber zu verstehen, liegt im allgemeinen Wissenspool, der auch noch das Wissen um Emotionen, sogar extreme, umfasst.

Die Aussagen, bei denen geisteswissenschaftliche Interpretationskunst genau und einleuchtend sein möchte, bringen etwas Neues. Othello mordet die, die er liebt, nicht wegen seiner seelischen Verfassung allein und determiniert, sondern weil Shakespeare es so will. Es ist "sein Spiel.", in dem die Intrige Iagos eine entscheidende Rolle spielt. Dieser Entwurf steckt im Stück und ist speziell und steht als Thema über ihm und ist gleichzeitig allgemein. Und warum will Shakespeare das? Ab jetzt wird jedermann aus seinem Publikum glauben müssen, dass der Mensch töten kann, was er liebt. Immerhin, ohne Nachhilfe, unglaublich. Der ästhetische Genuss ist gleichzeitig der Beweis ante oculos, vor die Augen geführt. Shakespeare hat etwa 1604 das Schicksal vom Mohr von Venedig so unters Volk gebracht, das diesen Stoff in Form einer Novelle von G. Giraldi mangels Bildung sowieso nicht lesen konnte. Es war eben auch "neu" und trotzdem nachvollziehbar. Es war unterhaltsame schaurige Psychologie und insofern ein Stück Aufklärung. Nicht die Kausalität und deren Präzision ist dazu nötig, sondern Leben, wie es eben einleuchtet. Der kulturelle Wissenspool ist erweitert worden eindeutig über die individuelle Rezeption der Zuschauer, wozu Kunst auch, aber nicht nur immer in der Lage ist.

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