Читать книгу Allgemeinbildung in der Akademischen Welt - Gerd Breitenbürger - Страница 8
1.1.2 Spekulieren in concreto
ОглавлениеSpekulieren kann man aber auch in concreto, sogar in der Dichtung, womit man nicht rechnen möchte. Was vermag eine Frau mit, was ohne Haare. "Sie hat beim Färben ihr Haar verloren“, so der lateinische Dichter Ovid vor 2000 Jahren in seinem Lamento auf seine Geliebte und ihr frevelhaftes Tun. Er schimpft die Ruchlose aus, die ihr wunderschönes Haar mit Brenneisen und Färben malträtiert hat. Er piesackt sie viele Verse lang und ärgert sie mit Spekulationen, wie es auch heute noch üblich ist im rhetorischen, aber auch poetischen Stil: Die Spekulation erlaubt eine enorme Steigerung und Vermehrung der Aussagen in beliebige Sinnrichtungen. Wenn in abstracto die Gedankenführung eng zu halten ist, in concreto kann sie florieren. Da zeigt die Spekulation ihre Herkunft aus dem Schauen in den Spiegel der Phantasie. Ovid bringt die Geliebte ungerührt soweit, dass sie weint, um sie dann souverän zu trösten – die Haare wachsen ja nach. Aber vorher heißt es:
Nun ist das Schöne dahin:
Gern hätte es Phöbus Apollo,
Bacchus hätte das Haar
gern auf dem Haupte gehabt.
…
Haare Gefangener nun
muss dir Germanien schicken:
Über die Rom triumphiert,
schenken ihr Haar als Ersatz.
Wie oft wirst du wohl dann,
wenn dein Haar man bewundert, erröten
Und dir sagen: "Man preist
mich für das, was ich gekauft".
(Ovid, Liebesgedichte. Amores. Eingeleitet, übertragen und erläutert von Heinrich Naumann, 14, Sie hat beim Färben ihr Haar verloren, S. 77).
In Poetik und Rhetorik und im Alltagsleben ist das Erwägen, Spekulieren, das der Autor frei gestalten kann, dazu geeignet, mit Möglichkeiten Punkte zu machen, hier zum Beispiel zu triezen, anzuheizen."Ich nehme an, du willst kein Examen machen. Dir genügt der Oskar." Das Spekulieren mit Möglichkeiten ist im akademischen Wissenschaftsbereich begrenzt durch das, was vertretbar ist und im Rahmen des Realen bleibt. Welche Chancen hat Antonius gesehen, mit Kleopatra ein neues Leben anzufangen. Die Spekulationen werden begrenzt durch seinen Rivalen Octavian und durch die Politik Roms und durch die Zufälle wie den Wetterbericht; denn er bewegt sich per Schiff. Wer ziemlich genau die Bedingungen seiner Spekulation kennt, hat halb gewonnen.
Nicht zuletzt kann man das Glück haben, wie Ovid hier nebenbei zeigt, ehrliche Kritik in der Liebe zu erfahren. Sie beschert dem, der den "richtigen" Partner hat, in der Liebe, in der Freundschaft, eine Besonderheit. Diese Personen sind die intimste Außenwelt zu seiner Innenwelt, die er je bekommen kann, intimer auch als beim Psychologen, und natürlich als die Analyse race, milieu, temps. Was das Milieu nicht verzeiht, verzeiht Elvira. Ein Thema für Fernsehserien. Oskar sagt außerdem: "Elvira ist meine strengste Kritikerin." Die allerstrengste – critica severa, severa – führt dann allerdings schon mal zum Scheidungstermin. Denn Kritik spekuliert mit der Möglichkeit, dass Gegebenes ganz anders sein könnte. Wer spekulieren kann, kann auch kritisieren. Wer kritisieren kann, kann sich Möglichkeiten seiner Welt vorstellen. Menschen, die auseinander gehen, haben eine ausgiebige Phase der Kritik hinter sich, ein Warnsignal. Im Liebes- und Lebensdrama, wie zum Beispiel Hermann Hesse es gelebt haben muss, hat das eine heftige Rolle gespielt. Liebe als Passion und als Phobie, als Liebesuntüchtigkeit und in selbstverliebter Blockade, Gefühle der Liebe in unendlicher Überdehnung bis zur Berührungsangst.
Auch im professionellen Bereich, wo es um Kritik geht, zählt deren Qualität, die mehr als eine nette Meinung ist. Es gibt Künstler, Schauspieler, die sehr gut sind und im Transfer sich zutrauen, im Gesang zu brillieren. Wenn ihnen dann keine umfassende Außenwelt kritisch zur Seite steht, wird es schwierig. Sie enthält im günstigen Fall all die Kriterien – Auswahl der Lieder – Auswahl der Begleitung – Tonstudio – Vertrag – Plattenfirma –, die sie nicht kennen und wissen können. Es ist eine andere Welt, in die sie sich von ihrem Transfer aus Selbstbewusstsein und Lebensschwung tragen lassen, eben kritiklos, mit erhöhtem Risiko. Nur Minister und Topmanager tauschen, ihrer Kompetenz vertauend, leichter ihre Sessel. Sie sind darauf trainiert, ihre Außenwelt, eben auch die kritische, als Teil ihrer Kompetenz in ihre geistige Welt zu integrieren. Sie sind dann „mit allen Wassern gewaschen“. Hier ist die Praktische Spekulation psychologisch, soziologisch, finanz- und fiscalpolitisch, taktisch und strategisch mit allen Hunden gehetzt. Ganz wichtig „Orga“ (Organisationlehre), wie organisiere ich mich und die Umgebung mit welchen Sachkenntnissen und welcher Psychologie, und wie viel Charakter brauche ich dazu. Kritik kommt aus beiden Quellen, aus der Sachkompetenz und aus der moralischen Beurteilung, falls sie zugelassen wird.