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1.3.5 Der Wissenspool enthält die Paradigmata

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Dieser Paradigmenwechsel geschieht in der Spitzenforschung, bzw. in der Spitzenforschung kann man ihn erwarten. Wer Forschungsergebnisse lediglich rezipiert, anwendet und benutzt, wie die meisten Akademiker es wohl im Ausbildungs- und Lehrbereich tun, nimmt aber grundsätzlich an diesem undramatischen Wissenspool der Paradigmata teil, schon dadurch, dass er sich fortbildet und mal eine Fachzeitschrift zur Hand nimmt. Die Wissenschaft, die Kunst und ganz energisch deren Avantgarde mischen den Wissenspool auf. In der Kunstkritik ist der Begriff "Paradigma" längst nivelliert worden. Die Künstler, die ihren Stil und ihre Inhalte abrupt ändern, wie Goya mit der französischen Revolution oder wie Kandinsky und Mondrian, die plötzlich gegenstandslos zu malen beginnen, begründen einen Paradigmenwechsel. In der deutschen Literatur gibt es die "Jahrhunderterzählung" von Franz Kafka aus dem Jahr 1912 "Das Urteil", die, so heißt es bei den Germanisten, "die Gestalt der Weltliteratur verändert" hat (Nikolaus Langendorf, Ein großes Feuer, BZ 22. September 2012), also zum Paradigma wurde. In den Naturwissenschaften ist man eher zurückhaltend, einen einschneidenden Forschungsfortschritt mit diesem Begriff zu belegen.

Wenn im Wissenspool die wissenschaftlichen Erkenntnisse nah genug zusammenliegen, dass sie mittels Transfer sich gegenseitig bereichern können, stellt sich unmittelbar die Kompetenzfrage, die eine Frage der Intelligenz und des Wissensumfangs ist. Wer über zurückgenommene Subjektivität nachdenkt, findet in diesem Pool wertvolle Hinweise aus der Feder von Psychologen, Soziologen und Literaturwissenschaftlern sowie in deren Forschungsprojekten. Daraus resultieren aber erhebliche Anforderungen, die Inhalte des Pools ernst zu nehmen. Der Linguist, der von einer Sprachbetrachtung ohne Bewusstsein zu einer Sprachbetrachtung aus dem Bewusstsein heraus kommen will, ist gezwungen, in jeder seiner Bemerkungen über "Bewusstsein" erkennen zu lassen, was er damit meint, und zwar so, dass auch die Kollegen von der Psychologie oder Philosophie schon mitbekommen, was gemeint ist.

Der Wissenspool bezeichnet die Überzeugungen der scientific community des entsprechenden Faches und deren Diskussion, schließlich aller Fächer, die sich gegenseitig etwas zu sagen haben. Es gibt natürlich Abweichungen, feine Nuancen, die übertrieben dargestellt werden bei Bedarf. Öffentlich sagt man eben auf keinen Fall, was der Kollege sagt, sei "Quatsch". Auch wenn man einen Nobelpreis hat, tut man das nicht. Wenn man allerdings schon zwei Nobelpreise hat, ändert sich die Situation schlagartig und es werden 007 Qualitäten (licence to kill) übertragen. Das hier Gesagte wird zur Anekdote, wenn der Inkriminierte "Quatsch"kopf selbst den Nobelpreis erhält. Der Wissenspool ist eben immer in Bewegung, unter den Argusaugen aller Kollegen. Es gibt viel Hickhack, akademischen Wissenschaftsstreit, aber im Großen und Ganzen ist man sich einig, dass die Erde ziemlich rund ist. Man muss die Spannungen als Strömungen, sogar Moden auffassen, die der Sache dienen. Wenn sie weniger ephemer ("kurzlebig") sind, lassen sie sich als Ideologien oder Philosopheme bezeichnen, als Epochenbegriff wie Moderne, klassische Moderne und Postmoderne, als Avantgarde. Es müssen und können auch gar nicht die jeweiligen neuesten Inhalte der Forschung und der Geistesproduktionen gemeint sein. Das gilt am ehesten noch für die ahistorischen Wissenschaften. Wer über die Gotik oder die Renaissance arbeitet, hat seinen kulturellen und fachlichen Wissenspool parat und, also auch den jeweiligen Wissensstand der Forschung.

Wer interdisziplinär fachfremde Gedanken benötigt, muss sie, eigentlich schon bis in die Fundierung hinein, rezipieren können. Das nie ganz leichte cross-over vollzieht sich einmal im Kompetenz- und Intelligenzplafond, andererseits, bei wissenschaftlich anspruchsvoller Arbeit sowieso, zusätzlich im Wissenspool. Die Sterntaler-Methode funktionierte auch nur, weil das Hemdchen nicht zu knapp war, die Dezenz des Märchens ist auch die Dezenz des Akademikers, der trotz allem aufs Ganze geht. Quantitäten und Qualitäten sind hier keine Quantités négligiables. Es ist nicht gut, sich eine Leserschar auszusuchen, die mehr weiß als man selbst. Will man sie erheitern, sollte man wissen, an welchen Stellen man erheiternd wirken möchte. Auch wenn das mal die Freude von Max und Moritz war, am Ende bereiten ungewollte chaotische Verhältnisse nur Unruhe und intellektuelle Unzufriedenheit.

Allgemeinbildung in der Akademischen Welt

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