Читать книгу Grundwissen Konfessionskunde - Gisa Bauer - Страница 8

1.4 Die Herausforderung der KonfessionskundeKonfessionskunde in der Gegenwart

Оглавление

In der orthodoxen TraditionTradition ist es wichtig, mit der Kirche zu leben. Wer diese Strömung der Christenheit kennenlernen will, kann sie nach orthodoxer Selbstauskunft nicht am Schreibtisch erfassen, sondern muss in die GottesdiensteGottesdienst gehen und das MysteriumMysterien des Glaubens und der Kirche erleben. Die LiturgieLiturgie ist der wesentliche Faktor, der es erlaubt, diese Kirche kennenzulernen.

Dieses Prinzip gilt wesentlich auch für alle anderen christlichen Kirchen, doch zeigt sich bei diesem Beispiel eine Herausforderung, die für die KonfessionskundeKonfessionskunde in doppelter Weise wichtig ist. Grundsätzlich stellt sich die Frage: Wie gewinnt man ZugangZugang zu einer Konfession? Daraus folgt die zweite Frage: Welche Relevanz und welche Bedeutung hat dieser spezielle Zugang, um das Wesen der Konfession zu erfassen?

Der in diesem Buch gewählte Ansatz versucht, einen theologischen ZugangZugangTheologisch zu den Konfessionen zu finden und in dessen Folge möglichst viele Aspekte der einzelnen Kirchen zu beschreiben, in deren Summe die wesentlichen Grundzüge der Kirche erfasst werden können. Dieses Anliegen – abgesehen vom speziellen theologischen Zugriff – verbindet die vorliegende KonfessionskundeKonfessionskunde mit ähnlichen Werken. Allerdings wird bei diesen oft die zweite Frage außer Acht gelassen, die in der Gegenwart vor allem in praktischer Hinsicht wesentlich relevant ist.

Gegenwärtige Grenzen der KonfessionskundeKonfessionskundeWer sich in einer KonfessionskundeKonfessionskunde informiert, „wie eine Kirche ist“, um danach in deren GottesdienstGottesdienst zu gehen und sich dort zurecht zu finden, kann Überraschungen erleben. Innerhalb der Konfessionen – mal mehr, mal minder – herrscht eine PluralitätPluralität – Pluralisierung, die es kaum erlaubt, von der Lehre auf das Leben zu schließen. Man kann römisch-katholische Messen erleben, die in vollem Ornat und mit viel Weihrauch in üppigen Barockkirchen zelebriert werden, man kann aber auch sehr nüchtern gehaltene römisch-katholische Messen in karg eingerichteten modernen Betonkirchen feiern, die lediglich (aber immerhin!) durch die gleiche LiturgieLiturgie geeint sind.

Wer den GottesdienstGottesdienst in einer anglikanischen Kirche besucht, weiß im Vorfeld nicht, was ihn erwartet. Je nachdem, welcher kirchlichen Richtung die Gemeinde angehört, kann der Betreffende einen katholisch wirkenden Gottesdienst erleben oder einen charismatisch ausgerichteten.

Auch bei den Kirchen, die der evangelischen Konfessionsfamilie angehören, kann man im Voraus kaum Aussagen darüber treffen, wie deren GottesdiensteGottesdienst aussehen werden, wenn man sie nicht bereits kennt. Während in der einen Kirche Heilungs-, Salbungs- und Lobpreisgottesdienste aus dem charismatisch-pfingstlerischen Milieu die Sehnsucht nach einem sinnlichen Gottesdienst befriedigen, ist dies für eine reformierte Kirche kaum denkbar und würde dort strikt abgelehnt. Lutherische Gottesdienste wiederum können Formen der Hochkirchlichkeit annehmen, die auf Gläubige anderer evangelischer Prägung wie römisch-katholische Gottesdienste wirken. Die Beispiele ließen sich zahlreich fortführen.

Das Phänomen der interkonfessionellen Vermischung oder der transkonfessionellen Präsentation ist keineswegs nur auf die GottesdiensteGottesdienst beschränkt. Bei öffentlichen Diskussionen zu strittigen, vor allem ethisch relevanten Fragen der Gegenwart kann nur noch der Fachmann sagen, wer zu welcher Konfession gehört, und es muss schon sehr genau beobachtet werden, wer wie argumentiert, um eine konfessionelle Prägung erkennen zu können.

Bezeichnend für die konfessionelle Verwirrung aufgrund von Unkenntnis ist der Befund, dass Christen aller Konfessionen aus ihren Kirchen austreten, wenn beispielsweise ein römisch-katholischer BischofBischof einen medienwirksamen Skandal verursacht oder römisch-katholische PriesterPriester und Bischöfe des Missbrauchs von Kindern überführt werden, auch wenn es Amtsträger einer anderen christlichen Kirche sind. Alle Kirchen werden bei Skandalen, Missmanagement oder gar kriminellen Taten in Mitleidenschaft gezogen, obwohl sie mit den entsprechenden Fällen in anderen Konfessionen nichts zu tun haben. „Die Kirche“ wird in Haftung für alle Konfessionen genommen.

Für die KonfessionskundeKonfessionskunde folgt daraus, dass ihre Beschreibungen einer Kirche lediglich Wegmarken zum besseren Verständnis sein können. Sie können und dürfen keinen Anspruch auf Vollständigkeit und erst recht keinen normativen Anspruch erheben. Konfessionskunde ist die Beschreibung einer Kirche oder Glaubensgemeinschaft und muss akzeptieren, dass sich ihr Forschungsgegenstand unter Umständen schneller verändert, als sie ihn beobachten und untersuchen kann.

Reale Kirche und kirchliches IdealDie Existenz einer Spannung zwischen dogmatischer Bestimmung und empirischer Wirklichkeit der Kirche ist nicht nur Thema der KonfessionskundeKonfessionskunde, sondern auch der anderen theologischen Fächer. Sie wird z.B. in der Systematischen Theologie als Problemanzeige in ekklesiologische Definitionen einbezogen (vgl. Laube, 2011; Hovorun, 2015). Die Einsicht, dass nur indem dieses Spannungsverhältnis konkret bestimmt und offen benannt wird, die geschichtlich gegebene Wirklichkeit einer Kirche überhaupt theologisch begriffen werden kann, setzt sich zunehmend durch. Es geht nicht mehr darum, ein dogmatisch definiertes Ideal mit einer real vorfindlichen Kirche zu vergleichen und so deren Defizite herauszustellen. Wichtiger ist es von der kirchlichen Wirklichkeit auszugehen und aufzuzeigen, inwiefern jede Kirche über sich selbst hinausweist, um so das Wesen von Kirche zu erfassen (vgl. Laube, 2011, 148). Der Konfessionskunde, die sowohl die ekklesiologisch-dogmatische Selbstbestimmung als auch die empirisch-kirchliche Wirklichkeit in ihre Betrachtung und Untersuchung einbezieht, kommt hierbei die wesentliche Funktion zu, die sich aus dem Spannungsverhältnis ergebenden Widersprüche, Kompensationsversuche und Unverhältnismäßigkeiten zu verarbeiten, ohne sie zu systematisieren, zu bewerten oder normative Schlüsse aus ihnen abzuleiten. Das bedeutet auch, dass paradoxe Phänomene innerhalb von Kirchen nebeneinander stehen bleiben, ohne dass der Spannungsbogen zwischen Ideal und Wirklichkeit aufgelöst wird bzw. aufgelöst werden kann.

Die interne PluralisierungPluralität – Pluralisierung der KonfessionenInnerhalb einer Konfessionsfamilie, zuweilen sogar innerhalb einer einzigen Kirche, sind die faktischen Lebensvollzüge der Kirchen oft sehr unterschiedlich und weisen eine hohe PluralitätPluralität – Pluralisierung auf. Das ist zum einen durch die verschiedenen Inkulturationen, d.h. die konkret vorfindlichen Milieus, historischen Kontexte, Mentalitäten und Frömmigkeitsstile zu erklären, zum anderen aber auch durch die Pluralisierung und Individualisierung der modernen Gesellschaft, die auf die Kirchen ausstrahlt. Weder ein polemisches Klagen, dass jeder (evangelische) Geistliche „macht, was er will“ noch eine Ignoranz der durch die Individualisierung aufgeworfenen Probleme ist dabei angeraten. Es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass die Pluralität einer Kirche nicht nur eine Stärke sein kann, sondern die gemeinsame Identität und Erkennbarkeit auch schwächt. Die gegenwärtig große Herausforderung für das Christentum ist der angemessene Umgang mit Pluralität und Pluralismus, ohne in eine oberflächliche Gleich-Gültigkeit oder eine Verteidigungshaltung der absoluten Wahrheit abzugleiten. Die Einübung einer am Anderen interessierten, toleranten und gleichermaßen fest verankerten eigenen Haltung ist eine der aktuell wichtigsten Aufgaben in Theologie und Kirche.

Beispiel: Die „Heilig-Rock-WallfahrtHeilig-Rock-Wallfahrt“Als Beispiel für konfessionsinterne PluralisierungPluralität – Pluralisierung kann die Diskussion um die Heilig-Rock-WallfahrtHeilig-Rock-Wallfahrt 2012 in Trier angeführt werden. Progressive römisch-katholische Christen beschwerten sich bezüglich dieser Wallfahrt in evangelischen Pfarrämtern darüber, dass es so etwas wie Wallfahrten überhaupt noch gibt, und hielten evangelischen Geistlichen vor, dass diese keinen Einspruch erheben würden. Gleichzeitig warfen konservativeKonservativ römisch-katholische Christen ihrer Kirchenleitung vor, dass sie durch den Begriff der „Christuswallfahrt“ den speziellen Charakter einer Reliquienwallfahrt verdunkelten und erhoben den Vorwurf, dass der BischofBischof von Trier, Stephan Ackermann$Ackermann, Stephan, geb. 1963, römisch-katholischer Bischof von Trier (geb. 1963), in Rom keinen besonderen AblassAblass, wie es bei einer Heilig-Rock-Wallfahrt möglich ist, erbeten habe und ihnen diesen nun vorenthalte.

Auf evangelischer Seite kam Kritik daran auf, dass evangelische Christen der Einladung zur Wallfahrt folgten, anstatt Martin Luthers$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner Einsichten zum Thema Reliquien zu verinnerlichen.

Das Beispiel zeigt, dass in beiden Konfessionen der gleiche Anlass heftigen Streit nach sich zog und dass neue Koalitionen jenseits der Konfessionsgrenzen gesucht und gefunden wurden. Trotz einer klaren theologischen Ablehnung von AblassAblass und Wallfahrt nahmen und nehmen Protestanten an der Heilig-Rock-WallfahrtHeilig-Rock-Wallfahrt teil, während römisch-katholische Christen zum großen Teil problemlos auf einen Ablass verzichten, der ihnen durch ihren BischofBischof aus ökumenischer Rücksichtnahme sowieso vorenthalten wird.

Paradigmatisch wird hier die Schwierigkeit deutlich, in der Moderne die Konfessionsgrenzen klar zu erfassen und dadurch bestimmte Beschreibungen der Realität zu liefern. Aus Sicht der KonfessionskundeKonfessionskunde muss eine Verwischung klassischer Konfessionsgrenzen und die Bildung neuer Koalitionen klar erkannt und benannt werden.

Die Entwicklung jenseits der KonfessionenDie Moderne hat im Umgang mit dem Transzendenten und der ReligionReligion in den westlichen Gesellschaften umwälzende Veränderungen hervorgebracht, u.a. Prozesse der SäkularisierungSäkularisierung, die bis in die Gegenwart den Verlust von Religionsrelevanz zeitigen und TraditionsabbrücheTraditionTraditionsabbruch beschleunigen. Teil solcher Entwicklungen ist das Phänomen der religiösen SelbstermächtigungSelbstermächtigung.

Der postmoderne Mensch lässt sich nicht mehr vorschreiben, was er zu glauben hat, sondern wählt aus, was ihm zu glauben sinnvoll erscheint. Schon das Beispiel der Heilig-Rock-WallfahrtHeilig-Rock-Wallfahrt hat dies klar gezeigt: Wenn ein Protestant zum Heiligen Rock pilgern möchte, dann tut er das ohne Rücksicht auf die Lehren seiner Kirche. Wenn ein evangelischer Christ bei seiner Trauung das klassisch katholische „Ave Maria“ hören will, weil es „einfach so schön ist“, dann kann sich auch ein Pfarrer dem kaum in den Weg stellen. Umgekehrt sind evangelikale Lobpreislieder als Sacropop in römisch-katholischen Jugendmessen keine Seltenheit. Traditionelle Rituale werden ihres Sinnes entleert, z.B. führt ein Vater die Tochter zum Traualtar, weil es romantisch ist, nicht, wie ursprünglich gemeint, als Zeichen der Übergabe des Besitzes, an das (hoffentlich) dabei niemand mehr denkt.

Besonders aus konfessionskundlicher Perspektive lassen sich zwei wesentliche Entwicklungen erheben: Einerseits werden die klassischen ökumenischen Streitfragen, obwohl sie nicht gelöst sind, in der kirchlichen Lebenswelt zunehmend verdrängt und sind in ihren theologischen Begründungen nur noch Fachleuten zugänglich. Auf der anderen Seite bilden sich neue Problemfelder, die die interne PluralisierungPluralität – Pluralisierung in den Konfessionen beschleunigen. Neue transkonfessionelle Koalitionen entstehen, jenseits der traditionellen Abgrenzungen der Konfessionen, und machen sie obsolet. Neue Gruppen finden sich anhand von gemeinsamen Interessen, Themen und gemeinsamen Gegnern in verschiedenen Konfessionen und formulieren gemeinsame Anliegen zu bestimmen kirchlichen Positionen oder theologischen Fragen.

Sackgassen des DialogsIm Allgemeinen wird wenig beachtet, wie umfangreich in den ökumenischen Dialogen der letzten 50 Jahre wesentliche kirchentrennende theologische Sachverhalte aufgenommen, bearbeitet und diskutiert wurden und in vielen Fällen zu Annäherungen geführt haben. Obwohl genügend Brücken zur Verständigung gebaut worden sind, scheint es gegenwärtig in der ÖkumeneÖkumene kaum Schritte aufeinander zu zu geben. Warum ist z.B. das AbendmahlAbendmahl/die EucharistieEucharistie ein Trennungsmerkmal der Konfessionen, obwohl viele Protagonisten der ökumenischen BewegungBewegung(en) der Meinung sind, dass es genügend Möglichkeiten gibt, diese Trennungen aufzuheben und/oder zu umgehen? Unterschiedliche Positionen zur Amtsfrage oder dem Verständnis von Kirche generell verhindern ebenfalls ein Aufeinanderzugehen. Allerdings treten die theologischen Ursachen der Konflikte langsam in den Hintergrund des allgemeinen Interesses. Viele Menschen lassen sich – wie beschrieben – nicht mehr vorschreiben, was sie glauben sollen und fühlen sich nicht mehr gebunden an die Gebote oder Verbote ihrer jeweiligen Konfession.

Evangelische Christen bekommen grundsätzlich von ihren Kirchenleitungen nicht gesagt, was sie glauben sollen, sondern erhalten Orientierungshilfen und Denkschriften. Inwiefern diese rezipiert werden, liegt in der Hand des Einzelnen oder der einzelnen Gemeinde. Römisch-katholische Christen erfahren oft nicht umfassend, welche Verlautbarung vom Vatikan ausgeht bzw. rezipieren Lehrnormen nach individuellem Gutdünken. So nehmen z.B. viele römisch-katholische Christen ohne Gewissensprobleme am AbendmahlAbendmahl in evangelischen Kirchen teil und verzichten damit auf die theologische Klärung des ökumenischen Problems. Umgekehrt partizipieren evangelische Christen gern und ohne theologische Zweifel an besonderen Andachtsformaten der Römisch-katholischen Kirche (z.B. in der Fastenzeit) oder an den sinnlich beeindruckenden, liturgisch opulenten orthodoxen GottesdienstenGottesdienst.

Selbst die Klärung wesentlicher theologischer Fragen vermag in der kirchlichen Praxis der ÖkumeneÖkumene kaum weiterführende Impulse zu setzen. Deutlicher Beleg für diese Erkenntnis ist die „Gemeinsame Erklärung zur RechtfertigungslehreRechtfertigung / Rechtfertigungslehre“, die das zentrale reformatorische Problem der Rechtfertigung allein aus Glauben zum Gegenstand hat. Dieses Konsensdokument, das im Dialog zwischen Lutherischem Weltbund (LWB) und der Römisch-katholischen Kirche entworfen, das 1999 feierlich unterzeichnet wurde und dem 2006 der Weltrat methodistischer Kirchen zustimmte, ist in der Regel nur theologischen Experten zugänglich, die sich darum auch wieder heftig streiten können. Obwohl mit diesem Dokument die zentrale Frage der Reformation nach der Rechtfertigung des Menschen weithin einvernehmlich geklärt wurde, ist deren Relevanz bereits für die kirchliche Praxis gering, von der öffentlichen Wahrnehmung ganz zu schweigen.

Auf der anderen Seite steht eine mitunter ganz erstaunliche Scheu an der kirchlichen Basis, sich nicht in „zivilem Ungehorsam“ über Konfessionsgrenzen hinwegzusetzen, wie es sogar Papst Franziskus (Pontifikat: seit 2013)$Franziskus, Pontifikat seit 2013, römisch-katholischer Papst in der Frage des gemeinsamen AbendmahlsAbendmahl von konfessionsverschiedenen Ehepaaren angeraten hat (vgl. Metzger, 2016, 40–42). Einer Verflachung der Konfessionalität und der konfessionellen Problematik widerspricht darüber hinaus auch das zu beobachtende Interesse von Christen in einer globalisierten Welt an dem, was andere Christen leben und wonach sie sich ausrichten. Gleichfalls ist der Bildungshunger von Christen zu konstatieren, die in Zeiten des Relevanzverlustes des Christentums über ihre eigene Konfession Bescheid wissen möchten. Von daher ist es nach wie vor ein wichtiges und wesentliches Unterfangen, konfessionelles Wissen zu erwerben, ökumenische Diskussionen zu führen und die ökumenische Annäherung zu praktizieren. Besonders scheint es da angeraten, wo praktische Probleme ihrer Lösung harren (vgl. Metzger, 2014).

Streitfelder in und zwischen den KonfessionenWährend sich durch die religiöse SelbstermächtigungSelbstermächtigung und den „zivilen Ungehorsam“ scheinbar mühelos aus den ökumenischen Sackgassen der alten Probleme befreit wird, werden andere Diskussionen in den Konfessionen mit großer Wucht geführt. Dabei verlaufen neue Fronten nicht mehr entlang der Konfessionsgrenzen, sondern durch alle Konfessionen und Kirchen hindurch. Um diese Entwicklung auf den Punkt zu bringen, lässt es sich am ehesten auf die Begriffe liberalLiberal und konservativKonservativ zurückgreifen, ohne dass hier politische Ausrichtungen oder wertende Konnotationen mitschwingen. Auch eine allzu präzise Zuordnung von Haltungen, Charakteristika oder Gruppenzugehörigkeiten ist mit diesen Termini nicht möglich. Liberal meint im weitesten Sinne die progressive Bereitschaft, neue Positionen einzunehmen, konservativ das Bestreben, traditionelle Positionen als zukunftsweisend zu bewahren. Liberale und konservative Gruppen stehen sich gegenüber, ohne dass dabei traditionelle Konfessionsgrenzen ein Hindernis darstellen.

Die wesentlichen Diskussionspunkte, die gegenwärtig liberaleLiberal und konservativeKonservativ Fronten evozieren, sind FrauenordinationFrauenordination und Frauen in kirchlichen Leitungsämtern, HomosexualitätHomosexualität von Kirchengliedern und Geistlichen und – mit beidem im Zusammenhang stehend – die Frage nach dem Verständnis der Heiligen Schrift. Auf diese drei Aspekte als konfessionsüberschreitende Frontlinien wird im Ausblick ausführlich eingegangen werden. An dieser Stelle aber werden kurz die Folgen dieser Frontstellung für die KonfessionskundeKonfessionskunde skizziert.

Konsequenz für die KonfessionskundeKonfessionskundeDie Herausforderung für das Fach KonfessionskundeKonfessionskunde ist, dass sich konfessionelle Grenzen zunehmend schwerer definieren lassen. Sobald bei den transkonfessionellen Frontstellungen die gemeinsamen Ziele der aus verschiedenen Konfessionen zusammengesetzten Gruppen erreicht wurden (oder sie sich eingestehen, dass die Ziele nicht zu erreichen sind), zerfallen die sozialen Einheiten, können sich aber bei einem anderen kontroversen Thema, sogar auf verschiedenen Seiten, wieder begegnen. Die jeweilige konfessionelle Anbindung spielt dabei so gut wie keine Rolle.

In Analogie zur zunehmenden Bedeutungslosigkeit früherer politischer oder sozialer Zuordnungen wie „rechts“ und „links“ oder „oben“ und „unten“ verlieren Bezeichnungen wie „katholisch“ oder „evangelisch“, „orthodox“ oder „anglikanisch“ ihre Deutekraft, wenn es darum geht, konkrete Positionen zu bezeichnen. Somit steht die KonfessionskundeKonfessionskunde zunehmend unter dem Druck des Zerfalls ihrer Beobachtungsfelder in eine konfessionslose Praxis und eine kirchliche Theorie ihrer selbst. Wenn sich Gruppen innerhalb einer Kirche von ihrer „eigentlichen“ Position, d.h. der konfessionellen Bindung ihrer Kirche, kaum noch leiten lassen, dann kann konfessionskundlich nur darauf hingewiesen werden, dass es sich im Folgenden um Darstellungen des theoretischen Selbstbildes handelt, nicht um ein reales Abbild. Dann stehen mitunter konfessionelle Grenzen nur noch unverstanden in nicht gelesenen Büchern – u.a. Papst Franziskus wies darauf hin, dass die Lehre der Kirche in Büchern stehe, die schwer zu lesen seien (vgl. Metzger, 2014) – und werden deshalb vergessen, nicht beachtet oder nur als Verbote erlebt, ohne dass ihre Begründungen und ihr historisches Geworden-Sein verstanden wird.

Eine jede KonfessionskundeKonfessionskunde muss sich ihrer Grenzen bewusst sein, ebenso der Veränderungen, in denen sie selbst steht, und sich darum bemühen, die theologischen Beschreibungen einer Kirche mit der in ihr gelebten Wirklichkeit in Beziehung zu setzen. Phänomenologisch kann es hier zu Überraschungen kommen, die entweder zeigen, wie belastbar konfessionelle Merkmale geworden sind und wie dehnbar oder durchlässig konfessionelle Grenzen geworden sind. Die Konfessionskunde muss die Fähigkeit entwickeln, ohne Scheuklappen kirchlich-plurale, transkonfessionelle und zunehmend auch synkretistische Phänomen zu erfassen. Dann, aber nur dann, gewinnt sie entscheidend an Bedeutung für die Durchdringung und Beschreibung der religiösen Landschaft der Gegenwart.

Grundwissen Konfessionskunde

Подняться наверх