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PLATONS EXOTERISCHE MYTHEN
ОглавлениеGlenn W. Most
Schon Homer unternimmt unverkennbare Anstrengungen, den überlieferten Mythos, die tradierten Sagen über Menschen und Götter, nach seinem Begriff von Logos – Rationalität, Humanität, Angemessenheit, Wahrscheinlichkeit – zu durchdringen: Er erklärt das Unerklärliche, er unterdrückt das Ungeheuerliche, er vermenschlicht das Göttliche, er idealisiert das Menschliche. Dies setzt sich dann auch später fort: In jeder Entwicklungsphase der griechischen Kultur nach Homer rangen Dichter, Denker und einfache Hörer darum, zwischen dem gegebenen und manchmal schier unerträglichen Mythos einerseits und dem forschenden und nie zufriedenen Logos andererseits irgendwie zu vermitteln.
Aber niemand vor Platon hat dem problematischen Verhältnis von Mythos und Logos eine so zentrale Rolle in seinem Denken zugewiesen wie er.1 Das merkt man schon an dem lexikalischen Phänomen, dass eine Reihe von zusammengesetzten Wörtern, ohne die wir heute dieses Problem überhaupt nicht mehr zu begreifen vermögen, zum ersten Mal im Œuvre Platons bezeugt ist und mit großer Wahrscheinlichkeit von ihm selbst geprägt, jedenfalls erst von ihm mit solcher Prägnanz und Bedeutsamkeit verwendet wurde: mythologia erscheint achtmal in seinen Schriften, mythologēma zweimal, mythologikos einmal, mythologeō gar siebzehnmal. Auf diese Weise lässt sich auch terminologisch die Zentralität des problematischen Verhältnisses zwischen Mythos und Logos im Denken Platons belegen.
So kommt es auch nicht von ungefähr, dass nicht nur die Frage nach Platons Einstellung zu den traditionellen griechischen Mythen, sondern auch diejenige nach dem Stellenwert des Mythos innerhalb von Platons eigenen Werken von jeher seine vielen Leser beunruhigt hat. Denn kein anderer griechischer Denker hat die überlieferten Mythen so heftig angegriffen wie Platon; aber kein anderer antiker Philosoph hat so viele anschauliche und unvergessliche Mythen über sein eigenes Werk hin verstreut wie er. Wie ist ein solcher scheinbar unbestreitbarer Widerspruch zu erklären? Ein wichtiges Zeugnis für die antiken Auseinandersetzungen über dieses Problem liefert Diogenes Laertios (3,80), demzufolge einige meinten, Platon benutze zu viele Mythen – aber im Fortgang des (allerdings textkritisch nicht ganz unproblematischen) Satzes rechtfertigt er deren Gebrauch bei Platon mit ihrer abschreckenden Wirkung auf ungerechte Menschen. Bei den Neuplatonikern, namentlich bei Proklos, wurde der Ansatz, gerade in Platons Mythen das zentrale Mysterium seiner ganzen Philosophie zu finden, zu einer der wichtigsten exegetischen Strategien und dadurch zu einer Hauptströmung der späteren europäischen Literaturen.2
Dabei wurde der Versuch, mit Platons Mythen zurechtzukommen, von Anfang an dadurch erschwert, dass Platons eigener Sprachgebrauch bezüglich des Verhältnisses von Mythos und Logos erstaunlich schillernd und inkonsequent ist. Einerseits lassen mehrere Stellen keinen Zweifel daran zu, dass zumindest in einigen Kontexten Mythos und Logos als echte Alternativen zueinander zu denken sind. So bietet Protagoras in dem nach ihm benannten Dialog seinen Zuhörern die freie Auswahl zwischen einem mythos und einem logos (Prot 320c); dann fängt er zunächst mit einem mythos an (320c), geht später aber ausdrücklich zu einem logos über (324d). Ähnlich verfährt, so könnte man meinen, Aristophanes im Symposion: Er erklärt, er werde seine Rede auf eine andere Weise halten, als die eher trockenen, analytischen und begriffslastigen Reden seiner Vorgänger Pausanias und Eryximachos (Symp 189c) und erzählt dann seinen berühmten und unterhaltsamen Mythos von den Kugelmenschen (189d). Andererseits aber nennt Aristophanes selbst seine Rede niemals einen mythos, sondern vielmehr einen logos (193d, so auch Eryximachos 193e): Dieses Musterbeispiel eines platonischen Mythos entzieht sich also einer terminologischen Festlegung als Mythos. Auch andere Stellen in den platonischen Schriften sprechen gegen eine terminologisch exakte Differenzierung zwischen Mythos und Logos. So zeigt etwa der Gorgias, dass ein und dieselbe Rede von Kallikles als ein mythos aufgefasst werden kann, von Sokrates dagegen als ein logos (Gorg 523a, 526d–527a).
Eine solche Unterscheidung scheint also unabdingbar, erweist sich aber zumindest terminologisch als nicht klar oder eindeutig. In der Tat bieten viele platonische Belege widersprüchliche Angaben darüber, wie man sich die Alternative zwischen Mythos und Logos genau vorzustellen hat. Ist der philosophische Logos etwa selbst ein Mythos oder ist der Mythos eine Art von Logos oder vielmehr das genaue Gegenteil von Logos, ist der Unterschied einer zwischen „schlecht“ und „gut“ oder „falsch“ und „wahr“ oder zwischen „wahrscheinlich“ und „wahr“ oder „wandelbar“ und „unwandelbar“ oder etwas ganz anderes? Ist es ein Unterschied der Gegenstände oder der Modi? Für alle diese Richtungen lassen sich unschwer wegweisende Belegstellen finden.
Die hermeneutische Unheimlichkeit, die in der Verbindung dieser Dringlichkeit mit dieser Schwierigkeit liegt, hat viele Gelehrte zur Suche nach einem eindeutigen Kriterium veranlasst, das es erlauben würde, diejenigen Textpartien zweifelsfrei zu identifizieren, die als „Mythen“ zu gelten hätten, damit man dann ihre Beschaffenheit besser verstehen könnte. Dabei ist man meist entweder von einzelnen formalen oder von einzelnen inhaltlichen Merkmalen ausgegangen. Aber die dabei erzielten Ergebnisse waren bislang nicht besonders befriedigend.
So erprobten Couturat3 und Zaslavsky4 einen formalen Ansatz, indem sie das bloße Vorkommen des Wortes mythos als ausreichendes Bestimmungsmerkmal eines Mythos vorschlugen – aber der Textbefund erweist, dass Platon das Wort auch gebraucht, um Partien zu kennzeichnen, die kein Leser außer Couturat und Zaslavsky je als einen Mythos beschrieben hat, während andererseits mehrere der berühmtesten platonischen Mythen niemals von Platon als mythos bezeichnet werden (so der Schluss des Gorgias oder die Erzählung von der Erfindung der Schrift im Phaidros). Ein anderes formales Kriterium hat Croiset im Vorkommen ausgedehnter, ununterbrochener Reden gesucht5 – aber das Symposion z.B. besteht aus acht solcher Reden, von denen nur eine oder zwei (die des Aristophanes und ein Teil derjenigen der Diotima) als mythisch gelten. Kaum erfolgreicher war der symmetrische Ansatz, der bestimmte Textpartien nach inhaltlichen Merkmalen als Mythen zu definieren suchte, entweder weil diese zu vage waren (so bei Frutiger)6 oder weil die zu Bestimmungskriterien erhobenen philosophischen Aussagen sich auch an vielen nichtmythischen Stellen finden lassen und deren systematische Beziehung zum mythischen Charakter der Mythen unbestimmt blieb (so bei Morgan)7.
Der Grund für das Scheitern solcher einsträngiger Ansätze zur Erfassung der platonischen Mythen ist nicht schwer zu erkennen: Denn unser moderner Begriff des Mythos ist eine Frucht der geistesgeschichtlichen Entwicklungen und der kulturellen Bedürfnisse der Neuzeit und kann daher höchstens teilweise dem antiken Verständnis des Mythos, also auch dem platonischen, entsprechen.8 Hätte Platon unseren Mythos-Begriff im Sinne gehabt, dann hätte er durchaus die Textabschnitte, die er und wir gleichermaßen als Mythen ansehen würden, mit eindeutigen Merkmalen kennzeichnen können, an denen wir seine Absicht unschwer hätten ablesen können. Aber unser Versuch, von Platons Mythen zu sprechen, stellt einen unvermeidlich unzeitgemäßen hermeneutischen Eingriff in seine Texte dar, den er allenfalls teilweise hätte verstehen, geschweige denn billigen können. Erst ein Ansatz, der auf flexible Weise inhaltliche mit formalen Kriterien verbindet und vor allem sich der eigenen Unzeitgemäßheit bewusst bleibt, kann hoffen, nicht nur den platonischen Texten, sondern auch unserem eigenen (Selbst-)Verständnis einigermaßen gerecht zu werden.
In Fortschreibung der Arbeiten Gaisers9 und vor allem Brissons10 empfiehlt sich eher ein anderer Ansatz, den man diskursiv nennen darf, und zwar deshalb, weil er nicht einseitig vom begrifflichen Inhalt der jeweiligen Textpartien bzw. von immer wiederkehrenden lexikalischen Merkmalen ausgeht, sondern vielmehr von den konkreten Bedingungen der kommunikativen Situation der Sprecher und der Zuhörer, deren sprachpragmatische Interaktion miteinander die jedem Leser unvergesslich bleibende Dramatik der platonischen Dialoge ausmacht. Die Aufstellung von acht solchen diskursiven Kriterien zur Bestimmung derjenigen Textpartien der platonischen Dialoge, die sich als platonische Mythen in einem unserem Sprachgebrauch entsprechenden Sinne identifizieren lassen, führt dazu, die folgenden Abschnitte als platonische Mythen zu klassifizieren:
• Phaidon 107c–114c: Die Unterwelt und die Struktur unserer Erde.
• Gorgias 523a–527a: Die Unterwelt.
• Protagoras 320c–323a: Anthropologie der Politik.
• Menon 81a–c: Die Unsterblichkeit der Seele.
• Phaidros 246a–257a: Die Natur der Seele.
• Phaidros 274b–275b: Die Erfindung der Schrift.
• Symposion 189c–193d: Die Entstehung der Sexualität.
• Symposion 203b–204a: Die Geburt des Eros.
• Politeia 10,613e–621d: Der Mythos des Er.
• Politikos 268e–274e: Die Weltperiode.
• Timaios 20d–25e: Atlantis.
• Timaios 29d–92c: Die Schöpfung des Kosmos.
• Kritias 108e–121c: Atlantis.
• Nomoi 4,713a–e: Das vorpolitische Leben.
Auch wenn diese Auswahl sicherlich zumindest in einigen Fällen Anlass zur Diskussion geben und wahrscheinlich unschwer um ein paar zusätzliche Beispiele erweitert werden könnte, hoffe ich dennoch damit eine Zusammenstellung derjenigen Texte vorzulegen, die am sichersten und eindeutigsten zu den platonischen Mythen gezählt werden können. Auch die acht Kriterien, deren Anwendung auf das platonische Œuvre zur Auswahl dieser Textpartien führt, werden sicherlich nicht völlig unstrittig sein. Einige (wenn auch nicht alle) von ihnen lassen gelegentliche Ausnahmen zu – das bedeutet, dass sie nicht einfach mechanisch angewendet werden dürfen, sondern mit Takt, mit Flexibilität und mit einer gesunden Selbstskepsis, das heißt: sokratisch. Hoffentlich wird die Auflistung dieser acht Merkmale in kritischer Auseinandersetzung mit anderen zu einer Präzisierung unseres Verständnisses der Beschaffenheit der platonischen Mythen beitragen. Sie lauten folgendermaßen:
1. Die platonischen Mythen sind monologisch. Vor dem Hintergrund der dialektischen Gespräche, die die meisten Seiten der platonischen Dialoge füllen, heben sich die Mythen schon dadurch ab, dass sie von einem einzelnen Sprecher ohne Unterbrechung durch seine Zuhörer von Anfang bis zum Ende vorgetragen werden. Die einzige Ausnahme findet sich im Politikos, wo die Erzählung des eleatischen Fremden immer wieder durch Einwürfe seines Zuhörers Sokrates unterbrochen wird – aber dies ist keine wirklich gravierende Ausnahme, denn es leuchtet ein, dass der jüngere Sokrates in seiner dialektischen Redefreude unmöglich völlig zum Schweigen gebracht werden könnte, und immerhin liefern seine Einwürfe keine Einwände oder Fragen, sondern vielmehr Ermutigung und Bestätigung. Nomoi 3,676b–682e dagegen ist kein Beispiel für einen dialektisch erzählten Mythos, sondern eine dialektische Analyse eines vorausgesetzten und hier gerade nicht erzählten Mythos.
2. Die platonischen Mythen werden von einem älteren Redner vor jüngeren Zuhörern vorgetragen. Das vergleichsweise fortgeschrittene Alter des Sprechers ruft Respekt bei den anderen hervor – sonst verstünde man nicht, warum diese mitten im typischerweise sehr lebhaften Austausch eines griechischen Gesprächs plötzlich anfangen zu schweigen und längere Zeit still zuhören. Der Altersunterschied zwischen Redner und Zuhörern wird im Politikos (268e) und im Protagoras (320c) besonders deutlich hervorgehoben. Die einzige mögliche Ausnahme bildet Aristophanes’ Mythos im Symposion – aber falls Aristophanes tatsächlich, wie einige meinen, schon 460 v. Chr. geboren wurde, war er zum fiktiven Zeitpunkt des im Dialog dargestellten Gesprächs im Jahr 416 v. Chr. schon 44 Jahre alt. Oder darf es sich ein genialer Komiker einfach leisten, sich unter den im Symposion geschilderten heiteren Umständen so zu verhalten, als wäre er viel älter, als er tatsächlich ist?
3. Die platonischen Mythen gehen auf explizit angegebene oder implizierte, wirkliche oder fingierte ältere mündliche Quellen zurück. Auch wenn ein Mythos evidentermaßen von Platon erfunden wurde, gibt er sich gern als ein genuiner Ausschnitt aus dem tatsächlich vorhandenen Reservoir von mündlichen Sagen in der griechischen Kultur, etwa im Politikos (268e–269b, 271a–b). Die umständlichste Beglaubigung der Überlieferung findet sich beim Atlantis-Mythos im Timaios und Kritias: Die Kette der Weitergabe reicht ununterbrochen von Ägypten über Solon, Dropides und dem älteren Kritias bis hin zum jüngeren Kritias. Aber auch in anderen Fällen werden gern Gewährsmänner und bestimmte Quellen genannt: Priester, Priesterinnen und Pindaros im Menon (81a–b); Er in der Politeia (10,614b); Urahnen im Politikos (271a). In anderen Dialogen, wo die namentliche Berufung auf angebliche Quellen unterbleibt, wird behauptet, der Sprecher habe den Mythos „gehört“: So Phaidon 107d (legetai), Gorgias 523a, 524a (legei, akēkoōs), Phaidros 274c (akoēn … tōn proterōn, ēkousa), Nomoi 4,713c (paradedegmetha). Auch erfundene platonische Mythen bedienen sich vorzugsweise leicht erkennbarer Figuren und Erzählschemata aus dem gewöhnlichen mythischen Repertoire: Zeus, Prometheus, Epimetheus, Hermes (Protagoras); Zeus, Götter, Giganten (Aristophanes im Symposion).
4. Die platonischen Mythen handeln von nicht nachprüfbaren Gegenständen. Was der gewöhnliche Mensch durch Prüfung seiner Erfahrung zu beobachten, zu beurteilen und anderen mitzuteilen vermag, wird als Stoff der platonischen Mythen streng ausgeschieden. Entweder handeln die Mythen von den ersten Dingen, indem sie eine Ätiologie gegenwärtiger Verhältnisse aus den Urzeiten ableiten: Dazu gehören das ursprüngliche Totengericht (Gorgias), die Entstehung politischer Gemeinschaften (Protagoras), die Erfindung der Schrift (Phaidros), die menschliche Sexualität bzw. die Geburt des Eros (Symposion), die Weltperiode (Politikos), Atlantis bzw. die Weltschöpfung (Timaios), nochmals Atlantis (Kritias), die Zeit vor dem ersten Staat (Nomoi). Oder aber die Mythen handeln von den letzten Dingen, indem sie eine Eschatologie der Ereignisse nach dem Tode liefern: Dies geschieht im Phaidon, Gorgias, Menon, Phaidros und in der Politeia.
5. Der platonische Mythos leitet seine Autorität nicht aus der eigenen Erfahrung des Sprechers, sondern aus der Tradition her. Daher unterliegt er auch nicht der rationalen Prüfung durch den Zuhörer. Manchmal wird explizit angegeben, dass Platons Mythen angezweifelt werden können, so im Gorgias, Phaidros und Politikos. Oder aber – die symmetrische Kehrseite – es wird das unbeirrbare Glauben an sie hartnäckig beteuert, so im Phaidon, Gorgias, Politikos und in den Nomoi. Aber warum wird eigentlich an sie geglaubt? Sicherlich vor allem deswegen, weil der Mythos auf seine Weise dieselben Ansichten unterstützt, die an anderen Stellen mit logischen Mitteln bewiesen werden; aber vielleicht auch deshalb, weil er ästhetisch durch seinen schönen Ausdruck gefällt und weil er einen moralischen Ansporn zum richtigen Handeln abgibt.
6. Der platonische Mythos hat eine psychagogische Wirkung. Es wird immer wieder ausdrücklich vermerkt, wie viel Vergnügen es bereitet, einem Mythos zuzuhören, etwa Phaidon 108d (hēdeōs … an akousaimi), Protagoras 320c (chariesteron), Symposion 193e (hēdeōs errēthē [scil. Aristophanes’ Rede]), in der Politeia 10,614b (hēdion). Der Appell des Mythos an die Emotionen seiner Zuhörer beschränkt sich aber nicht auf deren Unterhaltung, sondern geht über die rationale Überzeugungsarbeit hinaus, um einen stark motivierenden Antrieb zum Handeln zu bewirken (Politikos 304c–d, Nomoi 2,663d–e). Auch wenn Sokrates von der Wahrhaftigkeit des Mythos vom Leben nach dem Tode nicht völlig überzeugt ist, hält er dennoch an ihm fest und benutzt ihn wie einen magischen Zauberspruch (epāidein), der ihm Vertrauen einflößt (Phaidon 114d).
7. Der platonische Mythos ist nicht wie Dialektik, sondern wie Beschreibung oder Erzählung strukturiert. Die dialektischen Teile der platonischen Dialoge sind nach einer Reihe von logischen Verfahren organisiert: Prüfung der Prämisse(n), Aufspüren von Widersprüchen, Dihairesis (analytische Deduktion) und Synagoge (Induktion). Dagegen sind die platonischen Mythen entweder synchron als die Beschreibung eines Orts angelegt, indem die räumliche Beschaffenheit des Gegenstands die Leitlinie für die zeitliche Abfolge der Elemente des Mythos bildet (so im Phaidon, im Gorgias und in der Politeia), oder aber diachron als Erzählung einer Handlung oder mehrerer Handlungen strukturiert, indem die zeitliche Abfolge der Handlungselemente die Folge der Elemente des Mythos bestimmt (so im Protagoras, im Schrift-Mythos des Phaidros, im Symposion, im Atlantis-Mythos des Timaios und in den Nomoi). Ein berühmtes Problem für sich ist der Weltschöpfungsmythos im Timaios. Seit dem 4. vorchristlichen Jahrhundert streiten sich die Erklärer darüber, ob dieser Mythos synchron oder diachron zu verstehen sei.
8. Der platonische Mythos befindet sich immer entweder (a) am Anfang oder (b) am Ende einer dialektischen Erörterung. (a) Im Menon wird gesagt, mit dem Mythos werde ein Neuanfang gemacht (79e–81e). Im Protagoras erzählt der Sophist erst einen Mythos, dann fängt er einen Logos an. Dem Schrift-Mythos im Phaidros folgt eine dialektische Analyse der Nachteile der Schrift. Nach dem Kugelmenschen-Mythos im Symposion liefert Aristophanes eine eigene Dihairesis, die Klassifikation der Arten des menschlichen Eros. Im selben Dialog fängt Diotima mit einem Mythos der Geburt des Eros an, um dann zu philosophischem Dialog und Lehrvortrag überzugehen. Auch im Politikos wird mit dem Mythos ausdrücklich ein Neuanfang signalisiert (268d). (b) Oder aber der Mythos beschließt eine längere dialektische Textpartie, um etwa die mit logischen Mitteln erreichten Ergebnisse nunmehr in einer mythischen Form einprägsam zu wiederholen oder aber um Spekulationen, die mit logischen Mitteln allein nicht bewiesen werden können, zumindest in einer anschaulichen Form anzudeuten. So im Phaidon, im Gorgias, im Phaidros, in der Politeia, im Timaios, im Kritias und in den Nomoi.
Nun fällt auf, dass mit Ausnahme des achten alle Merkmale durchaus typisch sind für die gewöhnlichen Mythen, wie sie in der mündlichen Kultur Griechenlands üblich waren und wie sie von Platon selbst an vielen Stellen seiner Schriften beschrieben, ja heftig kritisiert werden. Dieser Befund wirft eine schwierige und grundsätzliche Frage auf: Was ist das genaue Verhältnis zwischen Platons philosophischen Mythen und den gewöhnlichen Mythen der ihn umgebenden griechischen Kultur?
Vielleicht können wir uns einer Antwort auf diese platonische Frage am besten über einen kurzen aristotelischen Umweg nähern.11 Es ist unumstritten, dass Aristoteles einige seiner Werke für die Studenten und Kollegen verfasste, die mit ihm im Lykeion zusammenarbeiteten, andere dagegen für Außenstehende. Aristoteles selbst benutzt in Bezug auf seine nach außen gerichteten Schriften solche Termini wie exōterikoi (achtmal), ekdedomenoi (einmal), enkyklia (zweimal) und en koinōi gignomenoi logoi (einmal); ab dem 2. nachchristlichen Jahrhundert (Lukian, Galen) wird der Terminus esōterikoi für die Lehrschriften gebraucht. Vom 4. bis zum 1. vorchristlichen Jahrhundert waren Aristoteles’ exoterische Schriften viel einflussreicher als seine esoterischen, aber danach wurden die exoterischen fast völlig durch die esoterischen verdrängt, so dass von den exoterischen nur mehr dürftige Fragmente überliefert sind. Offenbar schlug sich der Unterschied in der anvisierten Leserschaft in bestimmten Unterschieden des schriftstellerischen Charakters beider Werktypen nieder. Denn aus einem Fragment des Eudemos (44 Rose) wissen wir, dass dieses Werk einen Mythos enthielt, während aus einigen Fragmenten von peri eugeneias (91–94 Rose) eindeutig hervorgeht, dass dieses Werk ein Dialog war. Nun fehlen beide Merkmale – Mythos und Dialog – in Aristoteles’ esoterischen Schriften völlig. Wir brauchen nicht die wohl irrige Annahme einiger Gelehrter zu teilen, dass alle exoterischen Schriften des Aristoteles Dialoge waren, um im Dialogcharakter ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zu den esoterischen Schriften zu sehen; und im Mythos werden wir sicherlich zu Recht ein weiteres finden.
Der Befund bei Platon, dem Lehrer des Aristoteles, ist auffallend ähnlich. Wie auch immer man zu der Tübinger Platon-Schule stehen mag, es ist unbestreitbar, dass auch Platon unterschiedlich geartete Texte für zwei Arten von Rezipienten produzierte. Einerseits verfasste er die Schriften, die wir noch heute lesen: Sie sind ausnahmslos Dialoge und enthalten viele Mythen. Daneben wissen wir von mindestens einem Beispiel mündlichen Unterrichts für eine begrenzte Hörerschaft, dem Vortrag Über das Gute, über den zahlreiche antike Philosophen, beginnend mit Aristoteles, berichten.12 Aus diesen Zeugnissen erfahren wir zwar nicht mit Sicherheit, ob dieser Vortrag nur einmal oder immer wieder gehalten wurde und ob er in Platons Lehrtätigkeit eine Ausnahme oder die Regel darstellte. Aber wir können mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass der Vortrag kein Dialog war und keine Mythen enthielt – sonst hätte er wohl mehr Erfolg bei den bekanntlich zutiefst enttäuschten Zuhörern gehabt. Platons Vortrag war philosophisch anspruchsvoll und stilistisch trocken (wenn nicht sogar abschreckend) und setzte schon erhebliche philosophische Vorkenntnisse bei seinen Zuhörern voraus.
Die Unterschiede im Umgang mit den Differenzierungsmöglichkeiten, die Esoterik und Exoterik bieten, sind bei dem großen Lehrer und seinem größten Studenten unverkennbar. Für Platon ist Esoterik mündlich (Platon selbst hat seinen Vortrag Über das Gute niemals schriftlich verbreitet), für Aristoteles dagegen ist sie schriftlich (einer antiken Anekdote zufolge nannte Platon Aristoteles „den Leser“). In Platons theoretischen Überlegungen im Phaidros erscheint der Unterschied zwischen den beiden Textsorten als derjenige zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit (und wahrscheinlich tat nicht Platon selbst, sondern ein Platoniker dasselbe auf etwas gröbere Weise im 7. platonischen Brief), während Aristoteles über diesen nicht mehr zu theoretisieren braucht, sondern ihn einfach übernehmen und anwenden kann. Und die fata libelli sorgten dafür, dass beide Textsorten der beiden Autoren komplementäre Schicksale erlitten: Denn von Platon sind allein die exoterischen Schriften überliefert, während seine esoterische Lehrtätigkeit uns nur in lückenhaften Berichten greifbar ist. Von Aristoteles dagegen sind nur die esoterischen Schriften überliefert, während die exoterischen Publikationen, die seinen Ruhm in den Jahrhunderten nach seinem Tode sicherten, nur noch in spärlichen Fragmenten erhalten sind.
Die Begriffe „exoterisch“ und „esoterisch“ haben mit der Zeit eine Anzahl irreführender Assoziationen mit Geheimwissenschaften und Mysterien entwickelt. Um den hier gemeinten Unterschied der Textsorten angemessener zu verstehen, ist es ratsam zu fragen, wie Platon selbst die Verbreitung von philosophischem Wissen in seinen Schriften darstellt. Anaxagoras ist für Platon offensichtlich ein Musterbeispiel exoterischer Publikation (Apologie 26d–e, Phaidon 97b–c): Seine Schriften sind käuflich, d.h. sie werden öffentlich am Markt zum Kauf angeboten und können von jedem Menschen erworben werden, der genug Geld hat; der Käufer liest dann die Schriften vor, aus dem philosophischen Text spricht eine fremde, nicht unbedingt philosophische Stimme. Sokrates sagt im Phaidros: „Wenn eine Rede erst einmal aufgeschrieben wird, geht sie überall herum, auf gleiche Weise bei denjenigen, die sie verstehen, wie auch bei denen, die nichts damit zu tun haben, und sie versteht nicht, wie sie die einen ansprechen soll, die anderen nicht.“ (Phdr 275e) Dagegen führt Zenon im Parmenides (127b–e) auf paradigmatische Weise eine esoterische Wissensvermittlung vor: Er liest selbst aus der eigenen Handschrift vor einer kleinen und sorgfältig ausgewählten Gruppe von Zuhörern an einem privaten Ort.
Wenn wir diesen in Platons eigenen Texten belegten Unterschied umsichtig verallgemeinern, können wir ihn folgendermaßen formulieren: Exoterische philosophische Schriften müssen am literarischen Markt nicht nur mit anderen philosophischen Schriften um die Aufmerksamkeit philosophisch geschulter Leser konkurrieren, sondern auch und vor allem mit anderen literarischen Texten um die Aufmerksamkeit eines philosophisch ungebildeten Publikums, und sie müssen daher diejenigen Textmerkmale aufweisen, die potentielle Leser des letzteren Typs von den Büchern erwarten, die sie kaufen wollen. Wenn wir uns überlegen, dass die maßgeblichen literarischen Werke, die man am damaligen griechischen Markt antreffen konnte, Drama (Tragödie und Komödie) und Epos (vor allem Homer und Hesiod) waren, dann leuchtet ein, dass ein kluger Schriftsteller, der wollte, dass auch seine Bücher gekauft und gelesen würden, diese seine eigenen Werke mit den Merkmalen solcher fremder Bücher – d.h. mit Dialog und mit Mythos – versehen und sich verpflichtet fühlen würde, die unphilosophischen Gesichtspunkte seiner unphilosophischen Leser irgendwie zu berücksichtigen. Esoterische Schriften dagegen besitzen ein weitgehendes Monopol in einem beschränkten diskursiven Raum und können sich auf wenige konzentrieren; sie brauchen keine unmittelbare Konkurrenz zu befürchten und dürfen sich ausschließlich nach philosophischen Zielen richten. Exoterische Schriften zielen auf eine breitere, aber philosophisch weniger anspruchsvolle Leserschaft, esoterische auf weniger, aber sachkundigere Leser.
Selbstverständlich ist kein Schriftsteller völlig wehrlos den Bedingungen des literarischen Markts ausgeliefert: Jeder Autor bildet auch die Leser mit, die er braucht. Aber Platon scheint eingesehen zu haben, dass er, wollte er eine geistige Umkehr bei seinen Zeitgenossen auslösen, diese erst mit dem Köder derjenigen literarischen Mittel anlocken musste, an die sie gewöhnt waren – um sie danach in eine völlig andere, philosophische Richtung zu lenken. In diesem Sinne sind seine Schriften mit ihrer Verbindung von Dialog und Mythos selbst in gewisser Hinsicht und bis zu einem gewissen Grade Beispiele für die edle Lüge, die nach der Politeia (3,414b) den Nichtsahnenden erzählt werden müsse, damit sie philosophische Ansichten akzeptieren, deren Wahrhaftigkeit sie selbst nicht mit triftigen Vernunftgründen zu prüfen in der Lage sind.
Darf man aber daraus, dass sich die exoterischen Schriften des Platon und Aristoteles auch an nichtphilosophischen Lesern ausrichteten, schließen, dass sie in den Augen ihrer Verfasser philosophisch wertlos waren? Dass insbesondere die platonischen Mythen ausschließlich ein rhetorisches Mittel waren und selbst keine philosophische Substanz besaßen? Eine solche Schlussfolgerung wäre offenkundig absurd. Denn warum hätten die beiden ihre vielen exoterischen Texte verfasst und veröffentlicht, wenn sie ihnen keinen philosophischen Wert zugeschrieben hätten? Darüber hinaus bezieht sich Aristoteles in seinen esoterischen Schriften häufig auf seine eigenen exoterischen Veröffentlichungen, die er zweimal ausdrücklich als nützlich (chrēston) bezeichnet, und auch auf Platons Dialoge, aus denen er nicht weniger als siebzehn zitiert – warum, wenn er gewusst hätte, dass solche Schriften in den Augen seines Lehrers wertlos sind?
Wenn Platons exoterische Schriften (um bei ihm zu bleiben) in seinen Augen nicht wertlos waren, welchen Wert hatten sie dann für ihn genau? Im Phaidros sagt Sokrates zweimal, Schriftliches habe nur diejenige Nützlichkeit, dass es jemanden, der die Wahrheit schon wisse, daran erinnern könne (Phdr 275 c–d, 278a). Sollen wir daraus schließen, dass Platon seine Dialoge nur für den schulinternen Gebrauch verfasste, um seine Schüler etwa an die Lehren zu erinnern, die er ihnen schon vorher mündlich vermittelt hatte? Dies scheint wenig einleuchtend. Denn warum hätte er die außerordentliche schriftstellerische Sorgfalt auf seine Werke verwenden sollen, die man jeder Seite anmerkt, wenn sie nur eine Gedächtnisstütze für Unterrichtszwecke bildeten?13 Und wie könnte man die außerordentliche literarische Wirkung außerhalb der Akademie erklären, die Platons Schriften bei Xenophon, Isokrates und anderen Schriftstellern schon seit den ersten Jahrzehnten des 4. Jahrhunderts entfalteten? Und aus welchem Grund schließlich hätte Platon in seinen Dialogen mit Vorliebe nicht bereits Wissende dramatisch dargestellt, sondern Nichtwissende, die um das Lernen ringen, Philosophen „in der Ausbildung“, die lernen müssen und lernen wollen?
Plausibler scheint mir die Annahme, dass Platons Dialoge in erster Linie für solche Nichtwissende und potentiell Interessierte geschrieben wurden, d.h. für junge Männer und ihre Eltern, die wissen wollten, was sie im Leben machen sollten. Auf dem literarischen Markt Griechenlands, wo viele Wertvorstellungen feilgeboten wurden, konkurrierten die platonischen Schriften mit denjenigen anderer, die andere Werte propagierten, und warben für die eigene Position. Mit anderen Worten: Die Dialoge Platons wurden zumindest teilweise als Paränese und als Protreptik konzipiert.14 Sie wollten nichtphilosophische Leser erreichen und diese davon überzeugen, dass ihr Leben weniger wertvoll wäre, wenn sie nicht (platonische) Philosophie studierten. Anekdoten – Themistios berichtet, dass Axiothea von Arkadien durch die Lektüre der Politeia dazu bewogen wurde, nach Athen zu kommen, um als Mann verkleidet bei Platon zu studieren, und dass ein korinthischer Bauer durch die Lektüre des Gorgias zur Philosophie bekehrt wurde (Them. or 23,295c–d) – beweisen nur, dass einzelne antike Leser eine solche protreptische Wirkung in Platons Schriften verspürten, nicht, dass Platon selbst diese Wirkung beabsichtigt hätte. Vielmehr ist es die Struktur der ganzen Schriftlichkeit Platons, die nahelegt, dass er mit seinen Dialogen nichtphilosophische außenstehende Leser für seine Philosophie gewinnen wollte.
Um sie zu erreichen, musste er die erfolgreichsten Strategien der literarischen Kommunikation in der griechischen Kultur studieren, meistern, einsetzen – und dann umwenden. Die Dialogform lernte er nach Aristoteles aus Werken von Alexamenos von Styros, nach anderen aus Zenon (Diog. Laert. 3.48); sophistische Lehrschriften, vielleicht auch gelegentlich als mythische Dialoge verkleidet (Prodikos über die Lebenswahl des Herakles, Hippias’ Trojanische Rede, die Epidemiai des Ion von Chios), mögen dabei auch eine Rolle gespielt haben ebenso wie Sophrons Mimiamben. Eschatologische Mythen konnte er in den Mysterien und in der Orphik kennenlernen. Dass darüber hinaus die attische Tragödie und das homerisch-hesiodische Epos Platons große Gesprächspartner und Rivalen waren, ist evident. Beide waren in Athen politisch institutionalisiert, an den großen Dionysien und den panathenäischen Festen, und beide waren damals die beherrschenden literarischen Formen. In Platons Augen benutzten beide Dichtungsarten ihre sprachliche Schönheit, ihren Appell an die Emotionen und ihre unhinterfragte Autorität, um ein falsches Bild dieser Welt und der Möglichkeiten für die Menschen darin vorzugaukeln. Er wollte seine literarischen Rivalen vielleicht nicht so sehr spurlos verschwinden lassen, als vielmehr endgültig ersetzen, indem er für dieselben Leser und Zuschauer, die sich an diesen Gattungen ergötzten, eine philosophisch richtige Version derselben anbot. Daher kann Platon seine Politeia sowie seine Nomoi einen guten Mythos nennen (Resp 2,376d; 6,501e; Lg 6,752a; 7,812a), oder aber letzteres Werk als die beste Tragödie bezeichnen (Lg 7,817b).
Viele bekannte Aspekte der platonischen Dialoge rücken in ein etwas anderes Licht, wenn sie in diesem Kontext betrachtet werden. Die sogenannten „Aussparungsstellen“ zum Beispiel, in denen Platon Probleme benennt, die noch nicht oder nicht an diesem Ort, aber später oder sonstwo beantwortet werden können15, verweisen so gesehen nicht nur auf die Vorläufigkeit jeglicher sprachlicher Kommunikation oder auf die Grenzen der Schriftlichkeit an sich, sondern motivieren auch interessierte außenstehende Leser, sich der Akademie anzuschließen in der Hoffnung, dort endlich die ganze Wahrheit zu erfahren. Und die unverkennbare chronologische Entwicklung in Platons Œuvre als ganzem (wie unsicher auch immer die Erstellung einer genauen Reihenfolge der Schriften bleibt), eine Entwicklung von größerer Dramatik, Lebendigkeit und Unsicherheit hin zu längeren Monologen, Didaktik und Dogmatik, lässt sich nicht nur als eine allmähliche Veränderung in Platons eigenem Geschmack oder in seinen philosophischen Ansichten oder als Zeichen des Älterwerdens deuten, sondern auch als das Ergebnis seiner erfolgreichen Erziehung einer ihm ergebenen und von ihm durchtrainierten Leserschaft, der er mit der Zeit allmählich immer mehr zutrauen kann – wäre Platon so ungeschickt gewesen, um mit dem Parmenides oder Timaios seine schriftstellerische Karriere beginnen zu wollen, dann hätten wir wohl nie von ihm gehört.
In diesem Projekt der Erziehung einer philosophischen Leserschaft sind Platons Dialektik und seine Mythen eng aufeinander bezogen. Es ist überhaupt nicht so, als stellte die Dialektik die einzige genuine Philosophie in Platons Schriften dar und als erlangten die Mythen eine eigene philosophische Qualität nur, insofern sie darauf bezogen werden könnten – Mythos und Dialektik ergänzen sich bei Platon wechselseitig und sind voneinander abhängig. Hier ist wieder auf die exponierte Stellung der platonischen Mythen aufmerksam zu machen, die immer entweder am Anfang oder am Ende einer längeren dialektischen Erörterung stehen: Vom Mythos aus geht man in eine Analyse seiner Bedeutung hinein, und die logische Auseinandersetzung mündet immer wieder in einen Mythos ein. Beide Diskursformen sind notwendig, da beide komplementäre Zugänge zur Wahrheit darstellen: Ohne Logos gäbe es in Platons Schriften keine Beweise, keine Analyse, keine Nachprüfbarkeit, keine intellektuelle Überzeugung; aber ohne Mythos gäbe es keine Modelle, keine Gesamtschau, keinen Glauben, keine Motivation. Weil kein Mensch ausschließlich ein Philosoph ist und vor allem weil keiner der nichtprofessionellen Leser, die Platon mit seinen Dialogen erreichen wollte, ausschließlich ein Philosoph war, sind beide Diskurstypen in seinem Werk unabdingbar.
Das hat auch einer der gewitztesten antiken Leser Platons, Lukian, bemerkt. Er sah, dass in Platons Werken zwei Bereiche systematisch voneinander getrennt, aber aufeinander bezogen sind: der Mythos, der mit absoluter Sicherheit vom Leben nach dem Tod in der Unterwelt berichtet, und der Dialog, der mit ständiger Unsicherheit und Skepsis um die Wahrheit im Leben in dieser Welt ringt. Kein platonischer Mythos ist genuin dialogisch, kein platonischer Dialog hat die Merkmale eines Mythos. Auch wenn alle oder fast alle der Charaktere der platonischen Dialoge nicht mehr am Leben waren, als diese verfasst wurden, sind sie innerhalb der Fiktion der Texte voll von Leben, von Zweifeln, von Reden. Lukian fragte sich, was passieren würde, wenn er die beiden streng getrennten Bereiche einmal vermischen würde. Wie würde ein philosophischer Dialog aussehen, der in der Unterwelt stattfände, dessen Teilnehmer tot und daher wissend wären? Seine Antwort: „Die Totengespräche.“
1 Zu Platons Mythen vgl. außer den in den folgenden Anmerkungen genannten Studien auch z.B. Stewart [1905]; Stöcklein [1937]; Levi [1946]; Edelstein [1949]; Loewenclau [1958]; Pieper [1965]; Hirsch [1971]; Findlay [1978].
2 Vgl. Lamberton [1986].
3 Couturat [1896].
4 Zaslavsky [1981].
5 Croiset [1895], 288; Croiset [1896].
6 Frutiger [1930] 36; 37: „Symbolisme, liberté de l’exposé, imprécision prudente de la pensée volontairement maintenue en deçà de la franche affirmation, tels sont, à notre avis, les trois caractères essentiels des mythes platoniciens. […] nous appelerons donc mythique – outre les récits nettement légendaires, mais à l’exclusion des allégories – tout ce que le philosophe expose, soit d’une facón symbolique, soit en marge de la ‚science‘ véritable et sans l’aide de la dialectique, c’est-à-dire come une probabilité, non comme une certitude“.
7 Morgan [2000] 37: „Philosophical myth can be defined as the methodologically self-conscious use of mythological material to problematise issues of language and communication. By mythological material, I mean story patterns (such as quest, anabasis, katabasis), motifs, or narrative characters, which transgress the format of standard philosophical argument and explanation“.
8 Vgl. z.B. Most [1999 und 2001].
9 Gaiser [1984], bes. S. 126: „Quasi in ogni dialogo di Platone ci imbattiamo in racconti mitici più o meno estesi. Con questi intendo, seguendo l’uso linguistico corrente, descrizioni, intuitivamente accessibili, di un evento che in qualche modo oltrepassa la commune esperienza umana, in quanto rinvia in un’epoca storicamente remota, oppure in un ambito della vita ultramondana“.
10 Brisson [1982].
11 Vgl. vor allem Dirlmeier [1962] 5ff.; auch Cerri [1996]; Usener [1994]; Dalfen [1998a].
12 Die wichtigsten Texte sind bequem zugänglich bei Gaiser [1968] 441ff.
13 Zu Platon als einem literarischen Künstler vgl. neuerdings Nightingale [1995].
14 Vgl. Festugière [1973] und vor allem Gaiser [1959].
15 Vgl. Szlezák [1985]; Szlezák [1993].