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I.

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Aber natürlich ist der Gegensatz nicht erst eine Erfindung unserer zweiten, der modernen Aufklärung, sondern er geht vielmehr auf das Aufklärungsdenken der Griechen selbst schon zurück. Der Gegensatz zwischen Mythos und Logos ist uns heute also zwar selbstverständlich, aber er ist doch erst durch die griechische Philosophie zu jenem klassischen Begriffspaar gemacht worden. Ursprünglich werden von den Griechen die Begriffe Mythos und Logos zwar unterschieden, aber nicht einander entgegengesetzt. Der Begriff Mythos bezeichnet zunächst jede Art einer Erzählung oder Geschichte, ganz gleich ob sie eine unbedeutende Alltagserfahrung oder eine Begegnung mit Göttern zum Inhalt hat. Ja, der Geschichtsschreiber Hekataios von Milet nennt sogar am Ende des 6. Jh. die Erzählungen der Griechen, die wir dem Bereich des Mythischen zuordnen würden, ausdrücklich Logoi, d.h. Berichte, von denen er sagen kann, dass sie vielartig sind und lächerlich wirken. Seine eigene Tätigkeit, das Erzählen tradierter, ernst zu nehmender Wahrheiten, nennt er selbst mytheisthai.3 Doch nachdem Xenophanes die alten Mythen im Stile der platonischen Dichterkritik abgelehnt hatte, erhielt der Begriff Mythos bald im Lichte aufklärerischer Philosophie einen negativen Beigeschmack.4 Er ist am deutlichsten erkennbar in der klassischen Antithese Mythos–Logos, die zuerst bei Pindar (476 v. Chr.) belegbar ist: „Ja, Wunder gibt es viele, freilich manchmal auch trügen der Menschen Reden über den wahren Logos hinaus, Mythen mit bunten Lügen verziert.“ (Ol 1, 27ff.) Von nun an steht Mythos für das Unwahre, das Erdichtete, die Fabel, das Kindermärchen.

Auch innerhalb der Philosophie wird der Begriff alsbald gebraucht zur Abqualifizierung literarischer Gegner, so z.B. von Demokrit (VS 68 Β 297), der die Orphiker, die von einem Leben nach dem Tode träumen, mythoplasteontes = Erfinder von Märchen nennt, oder schon von Xenophanes, der die homerischen und hesiodeischen Erzählungen über die Kämpfe der Titanen, Giganten und Kentauren als „Erfindungen der Vorzeit“ charakterisiert und in ihnen nichts Nützliches erkennen kann (VS 21 Β 1, 21ff.).

In diese Entwicklung gehört auch Platons Auffassung vom Mythos. Am deutlichsten ist das erkennbar an einer Charakterisierung am Beginn der berühmten Dichterkritik in der Politeia, nach der der Mythos im Sinne eines Kindermärchens „im Ganzen falsch“ sei5, wenngleich er auch Wahres enthalten könne. Dasselbe trifft nach Platon auch auf die „großen“ Mythen des Homer und Hesiod, freilich auch der Tragödie zu, deren Inhalt ja ebenfalls mit dem Begriff des Mythos bei den Griechen bezeichnet werden konnte, und deren Theologie insgesamt für den Philosophen anstoßerregend und falsch ist. Daraus ergibt sich schon der Gegensatz der beiden Wissensarten, nämlich des Mythologischen und des Philosophischen. Platon drückt ihn so aus: „O Adeimantos, wir sind keine Dichter in diesem Augenblick, du und ich, sondern Städtegründer, und Städtegründern ziemt es, die Muster (Umrisse) zu kennen, nach denen die Dichter die Mythen erzählen, und sie nicht zuzulassen, wenn sie von diesen abweichen, nicht aber selbst Märchen zu dichten“ (Resp 379a).

Das philosophische Wissen ist also von dem der Mythologen dadurch unterschieden, dass es die Gesetze und Grundsätze thematisiert, nach denen das Wissen der Dichter beurteilt werden muss. Ein solcher Grundsatz, der ein Kriterium für die Kritik an den Dichtern darstellt, besteht z.B. in der philosophischen Erkenntnis, dass Gott gut ist und Ursprung alles Guten, aber auch nur des Guten und nicht von allem, so dass man vom Schlechten „andere Ursachen suchen muß, nur nicht Gott“ (Resp 379c; 380c). Dieser „Typos der Theologie“, d.h. diese Erkenntnis der philosophischen Theologie erfasst, „wie Gott wirklich ist“, sie erfasst die philosophische Wahrheit über Gott. Da aber die Philosophie sich nicht nur mit dem höchsten Wesen, sondern mit schlechthin allem befasst, will sie im Hinblick auf alles die Wahrheit erfassen und so das Wahre und Falsche voneinander trennen. Wahr und Falsch, das sind die allgemeinsten Grundsätze oder „Typen“, nach denen die Mythen betrachtet werden müssen. Die Mythen und Mythologen können dies nicht als solche selbst. Der Mythos fragt nicht nach der Wahrheit.6 Nach der Wahrheit zu fragen, das ist das eigentliche Geschäft der Philosophie. Aristoteles hat sie deswegen ganz im Sinne Platons die Wissenschaft von der Wahrheit genannt (Metaph 11, 1, 993b20).

So scheinen sich also bei Platon Mythos und Philosophie oder Logos unversöhnlich gegenüberzustehen. Mythos – das steht für das Falsche, das Beliebige, Unverbindliche, der Logos aber ist die Form der Wahrheit. Indes, so wird man einwenden, hat Platon nicht selbst in seinen Dialogen Mythen erzählt? Weiß nicht jeder, dass im Gorgias, Phaidon und in der Politeia eschatologische Mythen enthalten sind, dass der Phaidros einen Mythos vom Lebensursprung erzählt, der Politikos im Mythos den Umlauf der Welt, der Kritias die Entstehung des Staates thematisiert, während der Timaios im Ganzen ein einziger großer Mythos über die Entstehung der Welt genannt werden kann? Ist nicht darüber hinaus bekannt, dass die Dialoge zudem noch kleinere Mythologeme und sonstige Geschichten enthalten?7 Ist es nicht ein unerträglicher Widerspruch, auf der einen Seite am Mythos als solchem fundamental Kritik zu üben und andererseits doch eben diese Form der Rede selbst zu benutzen? Die Wiederkehr des Mythos bei Platon oder – wie G. Krüger das nennt – die „Paradoxie der Rückkehr zum Mythos“8 ist eine rätselhafte Angelegenheit. Der Mythos, gerade noch von der Philosophie als das Trügerische, an den Erscheinungen der Dinge Hängende und im Sinne des logon didonai Unverantwortbare verunglimpft, wird jetzt an entscheidenden Stellen der philosophischen Argumentation wieder eingesetzt. Die Platoninterpreten haben sich denn auch schon immer schwer getan mit der Deutung des positiven Gebrauchs des Mythos in den Dialogen. Ich nenne nur zwei extreme Positionen. Karl Reinhardt hat gemeint, die platonischen Mythen seien nichts weiter als ein bloßes Gedankenspiel Platons, und Platon habe sie zunächst selbst nicht ernst genommen. Nach K. Reinhardt sind die platonischen Mythen als ein den Logos miteinbeziehendes ironisches Spiel zu begreifen, das oft als „ironische Durchbrechung der Dialektik“, als „ironisches Schweben“, als Produkt des göttlichen Wahnsinns oder auch als die notwendige spielerische Entfaltung und Selbstaufhebung des ernsten Logos bezeichnet wird.9 Dem steht die Interpretation J. Piepers gegenüber, nach der Platon „den Mythos als eine Gestalt der Wahrheit akzeptiert hat“, an die er auch geglaubt habe, und zwar als eine vom Logos unabhängige zweite Quelle der Wahrheit, die auf eine „Uroffenbarung“ zurückgehe.10 Gegen die erste Auffassung spricht schon, dass z.B. der eschatologische Mythos am Ende des Gorgias die Darstellung dessen ist, was Sokrates als das „Ärgste aller Übel“ bezeichnet, nämlich dass die Seele „mit vielen Vergehungen angefüllt in die Unterwelt kommt“ (522e). Die Deutung Piepers scheint eine Applikation des Thomismus an das platonische Denken zu sein.11

Lässt man sich von den Texten Platons selbst leiten, so muss vielmehr ein dritter Weg beschritten werden. Wir sahen schon: In der Mythenkritik (in der Politeia) erhebt sich die Philosophie als Richter über den Mythos. Das tut sie, indem sie auch ausdrücklich nach der Wahrheit des Mythos selbst fragt. Im Dialog Phaidros fragt Phaidros den Sokrates, als sie zusammen zum Ilissos hinabgegangen und zu der Stelle gekommen waren, wo Boreas die Nymphe Oreithyia entführt haben soll, ob er denn diesen Mythos für wahr halte. Die Antwort des Sokrates zeigt, dass die Philosophie an der Entmythologisierung im Sinne der rationalistischen Entzauberung der Welt als solcher kein Interesse hat. Man könnte natürlich rationalistisch den Mythos so erklären, dass der Wind Boreas das Mädchen, als sie mit ihrer Freundin spielte, von den Felsen herabgeworfen habe und auf diese Weise die Rede vom Raub durch den Gott Boreas entstanden sei. Aber ein solcher rationalistischer Mythenerklärer hätte dann das ganze Heer der wunderbaren Wesen, der Gorgonen, Kentauren, Chimären, Pegasen usw. auf derartig probable Weise zu erklären, und darüber verginge sein Leben. Diese Weisheit ist aber nicht diejenige, nach der die Philosophie strebt. Vielmehr lässt die Philosophie das alles gut sein, und „annehmend was darüber allgemein geglaubt wird, … denke ich nicht an diese Dinge, sondern an mich selbst, ob ich etwa ein Ungeheuer bin, noch verschlungener gebildet und ungetümer als Typhon, oder ein milderes und einfacheres Wesen, das sich eines göttlichen und edlen Teiles von Natur erfreut“ (Phdr 230a). Der wahre, philosophische Umgang mit den vorgegebenen Mythen besteht also darin, sie auf ihre Aussagekraft für die Veranschaulichung philosophischer Wahrheiten hin zu überprüfen, in diesem Falle also, ob die mythischen Wesen etwas vom Wesen der Seele verdeutlichen können. „Der platonische Mythos ist zu einem wesentlichen Teil Geschichte der Seele.“12 Was Platon in diesem Textstück des Phaidros nur andeutet, ist im neunten Buch der Politeia expliziert. Dort soll kraft des Logos ein Bild von der Seele entworfen werden, in dem die im Mythos vorkommenden Wesen, Chimären, Skylla, Kerberos u.a. zu einem vielgestaltigen Tier verbunden sind, das in der platonischen Philosophie für die hemmungslose Begierde steht, die durch den wahren Menschen, den „inneren Menschen“ durch das Üben der Gerechtigkeit unter Kontrolle gehalten werden muss (Resp 588c–589b), wenn wahres Glück erreicht werden soll.

Die Funktion des Mythos bei Platon tritt noch deutlicher hervor, wenn paradigmatisch die großen eschatologischen Mythen betrachtet werden. Der den Dialog Gorgias abschließende Mythos erzählt von dem jenseitigen Totengericht, in dem die sittliche Qualität der Seele beurteilt wird, woraufhin sie Belohnungen oder Strafen, die anschaulich dargestellt werden, empfängt. Zur Einführung dieses Mythos erklärt Sokrates: „Höre eine sehr schöne Geschichte, die du, wie ich annehme, für einen Mythos halten wirst, ich aber für einen Logos.“ Was dieser Logos ist, wird am Schluss des Mythos gesagt: „Vielleicht nun dünkt dich dies ein Ammenmärchen zu sein und du hältst nichts davon, wenn wir forschend Besseres und Wahreres finden könnten. … Nun aber ist unter so vielen Logoi ein einziger unerschüttert geblieben, während die anderen erschüttert wurden, nämlich daß man sich vor dem Unrechttun mehr hüten muss als vor dem Unrechtleiden.“

Daraus geht hervor, dass der erzählte Mythos lediglich die Funktion hat, den im Dialog geprüften Logos zu veranschaulichen, von dem es an anderer Stelle heißt, dass er fest und wohl verwahrt ist „mit eisernen und stählernen Gründen“ (Gorg 509a).13 Das muss gegen diejenigen Interpreten gesagt werden, die vom „Verfallscharakter“, von der „Ungesichertheit“ und „Vorläufigkeit“ des Logos bei Platon sprechen oder den Logos gar selbst als ein „Zeichen menschlichen Nichtwissens“ begreifen.14 Durch den Logos war aber gefunden und damit als objektive Wahrheit aufgewiesen worden, dass die Vermeidung allen Unrechts im Reden und Tun die wichtigste Selbsthilfe sei, denn nur so kann der Mensch, ohne sich vor sich selbst schämen zu müssen, alle Arten des elenchos, auch die Selbstprüfung, furchtlos überstehen (522d).

Dasselbe Verhältnis zwischen Logos und erzähltem Mythos ist auch im Phaidon erkennbar, dessen eschatologischer Mythos eine komplizierte Beschreibung des jenseitigen Ortes enthält, wohin die Seelen gelangen werden. Am Schluss des Mythos heißt es: „Darauf zu bestehen, daß das sich so verhält, wie ich erzählte, steht einem vernünftigen Mann schlecht an. Daß es freilich mit den Seelen und ihren Wohnungen entweder so oder so ähnlich steht, so wahr die Seele sich als unsterblich erweist, das scheint mir wohl anzustehen und lohnend, es darauf zu wagen, in der Überzeugung, daß es so ist: denn gut ist das Wagnis.“ Über Einzelheiten der Beschreibung kann also gestritten werden, dadurch gerät jedoch nicht das Fundament, auf dem der Mythos beruht, eben der unumstößliche Satz von der Unsterblichkeit der Seele und der dadurch bedingten notwendigen Lebensweise, ins Wanken.15 Nicht anders steht es mit dem dritten großen eschatologischen Mythos am Ende der Politeia, in dem Platon den Pamphylier Er, der aus dem Jenseits zurückgekehrt ist, in großartigen Bildern vom Totengericht und von der den neu einzukörpernden Seelen zustehenden Wahl der neuen Lebenslose berichtet. Auch dieses Bild veranschaulicht lediglich das philosophisch Gewusste, nämlich den platonischen Grundgedanken, dass das Schicksal der Seele sowohl in ihrem Erdendasein wie auch bei jener transzendenten Wahl bei ihr allein liegt. Deswegen sagt Platon, nachdem er auf den möglichen innerweltlichen Nutzen der Gerechtigkeit und Schaden der Ungerechtigkeit am Ende des Lebens hingewiesen hat, dass diese Vergünstigungen und Vorteile bzw. Nachteile des irdischen Lebens nichts sind, verglichen mit dem, was die Gerechten und Ungerechten nach dem Tode erwartet. „Es ist aber notwendig, es zu hören, damit jeder von beiden vollständig das vom Logos Geschuldete erfasse“ (614a). Damit ist klar ausgesprochen, dass der unmittelbar folgende Mythos keine Wahrheit neben der Wahrheit des Logos verkündet, sondern diese nur in Bildern erzählt.

Dasselbe ergibt sich auch im Hinblick auf den Mythos im Politikos, der das Ende der mythischen Religion versinnbildlichen und die Emanzipation des Menschen von der Behütung Gottes in der paradiesischen Zeit darstellen soll. „So haben wir … einen monströsen Mythos auf unsere Schultern geladen“, sagt der „Fremde“ im Anschluss daran, und doch bleibt die Ausführung mangelhaft, weil der Mythos als solcher eben nur ein Bild ist, das eine didaktische oder pädagogische Funktion erfüllt. „Es ist aber für die, die folgen können, eher angebracht, durch Wort und Rede ein jedes Lebewesen zu erhellen als durch Zeichnung oder plastische Modelle“ (Plt 277c). Das soll ja wohl heißen: Wer es fassen kann, der fasse es im Logos. Die anderen bedürfen, wie z.B. der junge Sokrates, der Bilder oder des Beispiels. M. Kranz hat deswegen mit Recht in ihrer bemerkenswerten Platon-Arbeit gesagt: „Der reine Logos … ist grundsätzlich höherrangig als der Mythos, der den Logos einkleidet und ihn als ‚längeren Weg‘ philosophischen Anfängern wie dem jungen Sokrates nahebringt.“16 Die im Anschluss an den Mythos folgende Theorie über das Beispiel ist – wie die Forschung noch kaum festgestellt hat – als eine Erklärung der Funktion des Mythos im Denken Platons aufzufassen.17 „Es ist schwer, Bester“, – sagt der Fremde zu Sokrates – „wenn man nicht ein Beispiel zur Hand nimmt, irgendetwas Größeres recht deutlich zu machen.“ Der Mythos verweist so von einem konkreten, anschaubaren Bereich auf etwas „Großes“, Nichtanschaubares, ewig Gültiges.

Obwohl der Mythos auf diese Weise auf den philosophischen Logos hinweist, von dem her er verständlich wird, stellt er gleichwohl eine Bereicherung neben diesem dar, insofern die Bilder etwas zur Anschauung bringen, was ohne sie bloß begriffen wäre. Ja, dieser Reichtum der Darstellungsweise des Mythos ist von der Art, dass er nicht im Einzelnen in den Logos übertragbar ist. Doch das kann nicht bedeuten – wie auch W. Beierwaltes betont hat –, „daß der Mythos der Sache nach doch noch etwas impliziere, was der Dialektik per se unerreichbar bliebe“.18

Der Mythos ist also weder nur unverbindliches Gedankenspiel noch eine vom Logos unabhängige zweite Quelle der Wahrheit. Er ist eine andere Darstellungsweise derselben Wahrheit, ein „anderer Weg“, der auf andere Weise, nämlich auch im Modus des leichten Spiels (Plt 268d), zum selben Ziel führt.19 Durch Platon ist der Mythos somit endgültig abhängig gemacht worden vom Logos, weil er nur in dessen Licht eine Bedeutung erlangt.20 Umgekehrt ist aber auch der Logos auf den Mythos angewiesen, insofern die Veränderung der Darstellungsweise hier und jetzt notwendig ist. Auf diese Weise kommt auch zum Ausdruck, dass der platonische Logos zwar fest und wohl gegründet, aber doch nichts Definitives im Sinne des ein für alle Mal Abgeschlossenen darstellt. Der philosophische Gedanke, der in der Form des Mythos universal adressierbar ist, ist prinzipiell unabschließbar.21 Die Wiederkehr des Mythos bei Platon ist also gar nicht die Wiederkehr eines Gleichen. Vielmehr erscheint der Mythos jetzt in verwandelter Form: Es sind aufgeklärte, d.h. vor dem Forum des Logos verantwortete Mythen, die erzählt werden für die Phantasie. Wenn Platon zu Beginn des Er-Mythos in der Politeia versichert, dass er keine „Alkinoos-Erzählung“ mitteilen wolle, macht er auf diese verwandelte Form des Mythos aufmerksam. Die Rückkehr zum homerischen Typ des Mythos ist unmöglich. Von nun an kann es nur noch den durch den Logos geläuterten Mythos geben. „Der Mythos wird hier in seiner Unzulänglichkeit durchschaut. Die platonischen Mythen sind durchsichtige Bilder; und wenn der Logos, vom Mythos umgeben, paradoxerweise zum mythischen Logos wird, so ist doch auch umgekehrt der Mythos ein logischer, von Vernunft durchdrungener Mythos“22.

Das ist geradezu ein Kennzeichen des neuerdings viel geschmähten abendländischen Logozentrismus, dass von nun an der Mythos immer in den Diensten des Logos steht. Die Wahrheit, die in den Mythen Platons durchscheint, ist deswegen auch immer eine gewissermaßen vom Logos geliehene Wahrheit. Man versteht die bunten Bilder dieser Geschichten nur im Lichte der schon erkannten Philosophie.

Diese Auffassung vom Verhältnis zwischen Mythos und Logos bei Platon kann sich nicht nur auf glänzende Arbeiten moderner Philologen berufen.23 Bestätigt wird sie auch durch die Einstellung des Aristoteles gegenüber den Mythen, die mit Recht „positiv“ und „kritisch“ genannt worden ist.24 Vor allem entspricht sie auch schon im Prinzip der neuplatonischen Auffassung, nach der dem Mythos die Funktion der Veranschaulichung der philosophischen Erkenntnis zukommt. Als dieses Sichtbarmachende ist der Mythos freilich „reicher“ als der dürre Logos, aber reicher nur an defizienten Einzelheiten und nur für die Phantasie.25 Nach der allgemeinsten Bestimmung bei Plotin ist der Mythos jene Darstellungsform, in der das, was eigentlich, d.h. im Geist zusammen und eines ist, als der Zeit nach voneinander getrennt erscheint.26 Der Neuplatoniker Salustios hat das in die klassischen Worte gekleidet: „Dies ist niemals geschehen, es ist immer; der Geist sieht alles zugleich, die Rede bringt das eine zuerst, das andere danach.“27 Infolgedessen fehlt dem Mythos, für sich genommen, das Licht eigener Wahrheit. Deswegen kann Olympiodor in seinem Gorgias-Kommentar sagen, dass die Mythen zu verachten und die Wahrheit zu suchen sei.28 Da der Mythos aber seine Wahrheit vom Logos empfängt, kann er zugleich das „Abbild“ der Wahrheit29 oder auch die „Nachahmung“ der Wahrheit30 genannt werden. Als solche hat er den Charakter des Verweisens, oder besser: der Andeutung, insofern die höhere, geistige Wahrheit noch verhüllt dargeboten wird.31 Auch die im Neuplatonismus gestellte Frage, warum denn Platon Mythen geschrieben habe, wird in einem einheitlichen Sinne beantwortet. Platon wollte so die philosophische Wahrheit auch für die Phantasie, das an sinnliche Bilder gebundene Vermögen in uns, ja allgemein für das Kind in uns, das gerne spielt, darstellen.32 Die Bestimmung des Synesios gibt die allgemeine Ansicht des Neuplatonismus wieder: ho mythos philosophēma paidōn estin.

Seitdem ist das abendländische Bewusstsein von diesem im Platonismus vorgebildeten Verhältnis des Logos zum Mythos bestimmt. Von nun an bemisst sich die Legitimität des Mythos daran, ob er im Dienst des Logos steht und wie er dessen Wahrheit für das niedere Vermögen der Phantasie zum Ausdruck bringen kann.

Platon als Mythologe

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