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EINLEITUNG

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In den zwölf Jahren, die seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieses Buchs verstrichen sind, haben verschiedene neue monographische Studien und Sammelbände zu den Mythen im platonischen Corpus die Forschungslandschaft bereichert.1 Es gereicht unserem Band zur Ehre, damit als erster in einer Reihe hochrangiger internationaler Forschungsbeiträge zu stehen, die das wiederbelebte Interesse am Thema des platonischen Mythenerzählens eindrucksvoll belegen.

Dieses neu erwachte Interesse korrespondiert freilich mit der gar nicht so neuen Einsicht, dass die Faszination, die Platon als Philosoph ausübt, nicht zum wenigsten in der einzigartigen Form gründet, in der Platons Philosophieren für die Nachwelt dokumentiert ist, nämlich in „Dialogen“, die als literarische Kunstwerke konzipiert und ausgestaltet sind und von denen einige völlig zu Recht zu Klassikern der Weltliteratur geadelt wurden. Mit dieser grundlegenden Einsicht beginnt aber auch ganz natürlich das Interesse an Platon als Mythologen, ist doch schon Platons Sokrates nicht allein der Archetyp des eristischen Philosophen, der im dialogisch-dialektischen Klingenkreuzen und unermüdlichen Argumentieren um Annäherungen an die Erkenntnis der Wahrheit ringt, sondern auch mythischer „Held“ und dramatischer Protagonist in einer Person2: Lässt ihn sein Schöpfer Platon doch in aufwendig inszenierten Dialogdramen (Gadamer nennt sie „Dialogdichtungen“) heroische Kämpfe gegen die Antipoden seines Philosophierens austragen: gegen Naturphilosophen, eleatische Seinsphilosophie, die Riege der Sophisten und Rhetoren, ja auch gegen (Schein)Fachleute jedweder Provenienz und dabei auch gegen Dichter, Rhapsoden und Literaturwissenschaftler …; und die Schauplätze, Szenerien und Akteure gemahnen oftmals mehr an Fiktion denn an Historie, Parainese, Hypomnematik oder gar strenge Didaxe.

Dass wir seine Dialoge auch so lesen dürfen, verrät uns Platon nicht zuletzt an jener berühmten Stelle seiner Apologie des Sokrates, wo er den Sprecher sich in einer schier endlosen Periode mit Achilleus, dem strahlendsten Kämpfer der griechischen Heldenepik, parallelisieren lässt (Ap 28b2–d5). Vergleichspunkt ist der unerschütterliche Todesmut in einer dilemmatischen Situation der Entscheidung zwischen edlem Sterben und unehrenhaftem Weiterleben.

Erkennt man in den Gesprächs-Auseinandersetzungen des Sokrates also „Urkämpfe“ der Philosophie, so werden aus ganzen platonischen Dialogen Mythen, und zwar Mythen des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. Eine bekanntlich durchaus „aufgeklärte“ Zeit, in der Platons häufiger Rekurs auf die Mythen im herkömmlicheren Sinn, das heißt die sagenhaften Anfangsgeschichten um Kosmos, Götter und Menschen, sowie ihre merkwürdige Einbindung in den methodisch so hoch entwickelten Diskurs umso mehr Wunder nehmen musste.

Wort und Begriff „Mythos“ sind für jeden Leser Platons gute Bekannte. Doch können sie sich leicht auch als „falsche Freunde“ entpuppen. So proteisch ist nämlich Platons Umgang mit dem „Mythos“. Die Bandbreite reicht von der „Fabel“ im Stile des Aisopos (Phd 61b6–7) über das Reden in Gleichnissen (Gorg 493a5) bis hin zur Einschätzung des eigenen Tuns durch die Dialogpartner: So wird auch das Konstruieren von Staaten im Gespräch in der Politeia und den Nomoi zur mythologia und damit zum „Fabulieren“, das mit dem Tatsächlichen (ergon) kaum vereinbar scheint.

Die Ergebnisse der Forschung bestätigen diesen verwirrenden Eindruck. Denn die Grenzen zwischen „Mythos“ und „Logos“ bei Platon verschwimmen immer wieder. In einem sehr anregenden Aufsatz heißt es: „Myth is essential to Plato’s conception of philosophy“ und sogar „Story-telling, imagery, myth are fundamental to Plato’s meaning“.3 Müssen wir den Mythos und damit auch die Mythen in Platons Dialogen als unverzichtbare Wesenselemente seines Philosophierens noch ernster nehmen als bisher?

Es ist sicherlich nicht müßig, der Frage nach Mythos und Logos bei Platon abermals auf den Grund zu gehen, und zwar sowohl in dialogübergreifenden Reflexionen als auch in Detailanalysen einzelner Mythen oder Gruppen von Mythen. Der erste Teil des vorliegenden Handbuchs widmet sich daher grundlegenden Fragen zum Mythenbegriff im Allgemeinen und zum Problem von Mythos, wissenschaftlichem Diskurs und Dialogform bei Platon im Besonderen. Der zweite Hauptabschnitt fasst die spezifischen Eigenheiten platonischen Mythenerzählens genauer ins Auge und führt damit über zum dritten Teil, der einzelne Mythen Platons in philosophischen und philologischen Interpretationen vorstellt. Ein Schwerpunkt liegt hier vor allem auf Deutungen des weitschweifigen und intrikaten Mythos im Politikos, ein weiterer Schwerpunkt naturgemäß auf den sogenannten Jenseitsmythen, die seit jeher großes kontroverses Interesse hervorgerufen haben.

– Die vorliegende zweite Auflage hat gegenüber der ersten zahlreiche konzeptionelle Umstellungen und inhaltliche Erweiterungen erfahren. Hinzugekommen sind Beiträge zum Er-Mythos der Politeia, zum Theut-Mythos des Phaidros, dem Mythos von der Zeugung des Eros im Symposion, dem Prometheus-Mythos im Protagoras und der Atlantis-Erzählung, der Beitrag von Arbogast Schmitt liegt jetzt in vollkommener Neubearbeitung vor. Platon als Mythologe hat somit den Charakter eines Tagungsbands, der die erste Auflage noch kennzeichnete, gänzlich abgestreift und die innere und äußere Form eines Handbuchs zu den Mythen in Platons Schriften angenommen. Es soll den Zweck erfüllen, diesen Mythen, deren Erforschung im deutschsprachigen Bereich in sehr langer Zeit kein eigenes Organ gefunden hatte und die im akademischen Diskurs nicht nur, aber doch allzu oft, rein funktional, nebenher, oder zur bloßen Argumentstützung – wo nicht gar als reine Kuriosität – behandelt werden, ein würdiges eigenes Ausdrucksmedium zu verleihen und das Interesse wieder verstärkt auf sie zurück zu lenken. Als Informationsquelle, Interpretationshilfe und Belegdokument für den Forschungsstand soll das Handbuch damit auch dem weiter gefassten ehrgeizigen Ziel dienen, Philosophie und Klassische Philologie in der Platon-Forschung mit ihren Ergebnissen zur Mythenfrage zusammenzuführen und somit ein breitgefächertes und möglichst aspektreiches Bild dessen, was zu Platons Mythen heute qualifiziert zu sagen ist, vorzulegen.

1 Zu nennen sind hier vor allem: Colloud-Streit [2005], Partenie [2009] und Collobert/Destrée/Gonzalez [2012].

2 Zu Platons Sokrates als dramatischer Gestalt mit mythischer „Wertigkeit“ vgl. zum Beispiel Dönt [1995], Erler [2009] und Schäfer [2011] 173–174.

3 Murray [1999] 260; 261.

Platon als Mythologe

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