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II. Mythische Zeit

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Zunächst sei daran erinnert, dass wir uns im Bereich des Mythos bewegen. Und hier gibt es in der Tat eine Vorstellung von Zeit, die sich von der unseres historischen Denkens wesentlich unterscheidet. Dieser Unterschied zwischen mythischer und historischer Zeit sei an einem Beispiel verdeutlicht.17

Ein wesentliches Merkmal griechischer Landschaft ist der Lorbeerbaum. Die Frage liegt nahe: Wo kommt der Lorbeerbaum her? Man kann diese Frage in zweierlei Hinsicht zunächst als Frage nach der Existenz des konkreten Lorbeerbaumes verstehen. Zur Erklärung von dessen Geschichte wird man auf den Samen verweisen, der von einem früheren Baum stammt, eingepflanzt und nach der Befruchtung zu unserem Baum wurde, seinerseits ein Produzent weiterer Samen ist und damit nur ein Glied in der langen Reihe von Lorbeerbaumgenerationen vor und nach ihm. Man sieht: Eine solche Betrachtungsweise erklärt die Herkunft unseres Baumes im Sinne einer historischen Analyse, eines „vorher“ und „nachher“, ohne dass diese Reihe einen absoluten Anfang hätte oder abgeschlossen wäre. Man kann jedoch die Frage ‚Woher kommt der Lorbeerbaum‘ auch in einem anderen Sinne verstehen und fragen, wie es oft Kinder tun: Wo kommt der Lorbeerbaum her, also die Frage nach der Herkunft der Gattung stellen.

Hier springt in der Antike der Mythos ein: Er weiß zu erzählen, dass es einstmals ein junges Mädchen gab, Daphne mit Namen. In die verliebte sich Apollon. Sie jedoch wollte seinen Avancen nicht nachgeben. Als Apollon sie verfolgte und einzuholen drohte, da verwandelte sie sich in einen Baum, eben unseren Lorbeerbaum.18 Seit dieser Zeit und aus diesem Grunde, so erklärt also der Mythos von Daphne, gibt es den Lorbeerbaum. Dank der Geschichte von Daphne und Apollon wissen wir also nicht nur, woher der Lorbeerbaum in unserem Garten kommt, sondern weshalb es den Lorbeerbaum überhaupt gibt. Der Mythos von Daphne bietet das Aition für die Existenz des Lorbeerbaumes. Dennoch könnte sich ein Zuhörer nicht zufrieden geben und eine weitere Frage stellen, die Frage nämlich, was bei der Daphne-Geschichte eigentlich mit dem Ausdruck „einstmals“ gemeint ist. Wie der historische Bericht von der Herkunft des konkreten Lorbeerbaumes in unserem Garten spielt sich auch die Daphnegeschichte in der Vergangenheit ab: Mit „es war einmal“ pflegen wir Derartiges einzuleiten. Aber ist diese Vergangenheit wirklich identisch mit der jener Geschichte unseres konkreten Lorbeerbaumes? Was bedeutet „es war einmal“ unter zeitlichem Gesichtspunkt? Offenbar kann man Daphnes Metamorphose keineswegs auf eine Weise historisch lokalisieren, wie dies beim Pflanzen unseres Lorbeerbaumes möglich ist. Die Frage nach einem „vorher“ und einem „nachher“, die historische Zeit und historische Erklärung kennzeichnet, ist hier unpassend.19 Anders als bei der beliebig hinterschreitbaren, historischen Zeit gibt es bei der Daphne-Geschichte einen definitiven Anfang – die Frage ‚was war vor Daphne‘ ist sinnlos –, aber auch ein gewisses Ende. Denn nach der Metamorphose ist der Lorbeerbaum da, ist seine Existenz erklärt und ist er versehen mit all jenen Merkmalen, die seine weitere Existenz ausmachen. Eine weitere Entwicklung im Sinne einer historischen Zeitlichkeit gibt es nicht.

Parallelen zur Existenz der olympischen Götter springen ins Auge: Auch die Götter Homers treten irgendwann zum ersten Mal auf oder werden geboren, entfalten sofort ihr volles Wesen und entwickeln sich nicht weiter, sondern handeln sofort und dann immer ihrem Wesen gemäß. Für sie gilt, was Aristoteles über die „Geschichte der Tragödie“ schreibt: Ihre Entwicklung hörte auf, als sie ihr Wesen erreicht hatte.20 Dies legt die Vermutung nahe, dass auch bei den Göttern die Frage nach einem „vorher“, aber auch die Erwartung eines „nachher“ zu verwerfen ist. Wie beim Lorbeerbaum ist es unangemessen, ihre Welt mit der Kategorie historischer Zeitbetrachtung verstehen zu wollen. Offenbar setzt der Mythos eine besondere Zeitvorstellung voraus. Mythisches Geschehen hat deshalb Anfang und Ende, ist als „Geschichte“ kein in den Geschichtsfluss fest eingebetteter „Ausschnitt“, sondern ein beliebig lokalisierbarer Abschnitt in der Vergangenheit und deshalb der gewöhnlich historischen Zeitbetrachtung enthoben. Er repräsentiert eine Art von Zeitlosigkeit, in der Geschehnisse oder einmalige Manifestationen göttlichen Wirkens mit den immer währenden Merkmalen des jeweiligen Wesens der Gottheit zusammenfallen. Diese aus historischer Sichtweise unzeitliche, beliebig lokalisierbare Existenz verleiht mythischem Geschehen jenen paradigmatisch-dauerhaften Charakter, der dem Mythos dauerndes Interesse garantiert und auf den auch Hölderlin offenbar hinweisen will. Der Unterschied zwischen historischer und mythischer Zeitvorstellung ist in der Antike durchaus, nicht aber immer in der modernen Forschung registriert worden. Im 2. Jh. n. Chr. bringt es der Neuplatoniker Salustios in seinem Handbuch für angehende Platon-Schüler auf den Punkt, wenn er über die Götterhandlungen bei Homer sagt: „Das, was die Mythen darstellen“ – sagt er –, „geschah nie, sondern ist immer“, und fährt fort: „Was überzeitliches Denken als ein ‚zugleich‘ wahrnimmt, entfaltet der Diskurs menschlichen Denkens in ein zeitliches Nacheinander“21. Wie bei Homer die Götter also über eine besondere Sprache verfügen22, so leben sie auch in einer besonderen Zeit. Deshalb ist die logisch scheinende Frage nach dem relativen oder absoluten Beginn sowohl z.B. bei Prometheus’ Herstellung des Menschen als auch bei der Kosmogonie Hesiods23 unangemessen: Nur historisches Denken fragt, was vor dem „Chaos“ war. Die Paradoxien und Probleme, welche die Philosophen mit Homers immer seienden, aber geborenen Göttern hatten, ergeben sich, wenn man eine offenbar unangemessene Kategorie, eine historische Zeit- und Ursachenbetrachtung, an die Erzählung heranträgt. Denn die Gottesgeburt wird dann offenbar als ein historisches Ereignis empfunden und gegen die überzeitliche Existenz der Götter ausgespielt. Der paradoxe Eindruck bei Ausdrücken wie ἀειγενέται ergibt sich, weil zwei Komponenten, unzeitlich mythische Existenz und historisch-zeitliche Betrachtungsweise, seit Xenophanes von vielen Interpreten unerlaubt vermischt werden, zwei Komponenten, deren Trennung für das archaische Denken offenbar kein Problem war. In diesem Fall aber wird man sich fragen, ob denn in den entsprechenden mythischen Texten wenigstens ansatzweise Versuche zu beobachten sind, dieser besonderen, unzeitlichen Existenzweise Ausdruck zu verleihen, so wie bei Hölderlin Imperfekt und Praesens miteinander einhergehen: „Der Ahn liebte, aber er wohnet nun“ … „und kommt“24. Ich möchte zeigen, dass dies in der Tat der Fall ist.

Platon als Mythologe

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