Читать книгу Platon als Mythologe - Glenn W. Most - Страница 14
III.
ОглавлениеAbschließend ist zu fragen, worin wohl bei Platon hauptsächlich die spezifische Differenz zwischen mythos und logos liegen mag, soweit sie sich aus seinem kontextuell abgesicherten Sprachgebrauch eruieren lässt.
Mythos scheint zumal bei dialogreflexiver Verwendung tendenziell sein Terminus der reflektierten Narrativität respektive Fiktionalität zu sein, der den logos qualifiziert – und zwar meistens in neutraler, bestärkender oder gar autoritativer Absicht.
In den vergleichsweise seltenen Fällen eindeutig negativer Befrachtung wird mythos zum Terminus der Distanz von verführerischer und gefährdender Fiktion als Unwahrheit im weitesten Sinn, die in Opposition zum sokratisch-platonischen Konzept der philosophia steht.
Im ambivalenten Fall erschließt sich mythos als Terminus der ansprechend verkleideten, aber gefährdeten und anfälligen Wahrheit, die bei Missbrauch oder Unverständnis der „Zerstörung“ anheimzufallen droht; daher ist die oft beschworene „Rettung“ solcher mythischen logoi durch Extrapolierung ihrer philosophischen Kernaussagen eine der vornehmsten Pflichten platonischen Ringens um Wahrheit.
Im affirmativen Fall stellt der mythos die autoritärere und zugleich bezauberndere, lustvollere und bei bestimmten Themen überdies „angemessene“, weil einzig menschenmögliche Facette des logos und Quelle der Wahrheit dar.
Am Ende schält sich als doch recht überraschende Erkenntnis heraus, dass bei allem von Platon virtuos in den Dienst seines anregenden Verwirrspiels gestellten Nuancenreichtum seiner Begriffe von mythos und logos der philologische Befund viel klarer für eine Konvergenz beider Ausdrucksformen spricht, als man das weithin zu akzeptieren bereit ist.
Der heutige Dichter, Übersetzer und Essayist Durs Grünbein (*1962) wird also wenigstens dem „ganzen“ Platon nicht gerecht, wenn er die „dürftige Bildsprache“ der Philosophen beklagt und vorwurfsvoll fragt:
… welcher Philosoph hätte sich schon die Mühe gemacht, von den Kategorien auf die Bilder zu schließen? Wem war es wirklich ernst mit der Anschaulichkeit seiner Ideen? Es ist, als hätten sie die Herkulesarbeit – den bilderhungrigen Sinnesapparat zu versorgen, nicht nur die wohlgenährte Vernunft – stets den anderen überlassen, jenen vielgeschmähten, mit den Zutaten der Welt kochenden Dichtern.41
1 Vgl. zuletzt besonders Elias [1984] 208–238; Matthéi [1988]; Cerri [1991] 53–74; Droz [1992]; Gill [1993] bes. 51–69; Rowe [1999a]; Morgan [2000] 30–37.
2 Zaslavsky [1981] 223–229 legt als „Appendix 1“ lediglich eine nach lexikalischen Lemmata geordnete und als „exhaustive“ eingeschätzte Auflistung der Belege für mythos und seine Derivate ohne sinnerschließenden Kontext vor.
3 Der Anhang bei Brisson [1982] 177–183 („Données statistiques sur les occurrences de ‚mūthos‘ dans le corpus platonicien“) ist für einen ersten Zugang sehr nützlich, bleibt aber zu stark dem rein statistischen Interesse verhaftet (etwa bei der nach Dialogen geordneten Rangliste der Häufigkeit 179), begnügt sich mit eher äußerlichen Klassifikationskriterien („Traditionelle Mythen“; „Platonische Mythen“; „Abgeleiteter Wortgebrauch“) (179–182) und berücksichtigt die Kontexte kaum.
4 Moors [1982] 35–77 („Plato’s mythical terms“). Seine beiden Hauptkategorien bilden – ähnlich wie bei Brisson – die „Dialogmythen“ („Table 1: Presented Myths“) und die „überlieferten Mythen“ („Table 2: Traditional Myths“). Morgan [2000] 162, Anm. 17 kritisiert zwar zu Recht, dass Moors die paramyth-Belege unberücksichtigt gelassen hat, denen sie zum Ausgleich große Aufmerksamkeit widmet (164–168). Sie können hier aber schon deshalb außer Betracht bleiben, weil sie für die Qualifizierung eines Textes als mythos o.ä. kaum erheblich sind.
5 Als Beispiel genüge der Hinweis auf die Sprache der Tragiker, vgl. Ellendt [1872] 461 zu Beginn seines Lemmas mythos bei Sophokles: „Velut λόγος sed poetarum usibus reservatum significat dictum, orationem“.
6 Demokrit VS 68 B44,1.
7 Burkert, HWPh 6, 1984, Sp. 281–283, hier 281, beruft sich für seine Einschätzung „Terminus der Distanzierung wird μθος im 5. Jh.“ etwa auf Euripides, Hippolytos 197, wo Phaidras Amme beklagt, die Menschen würden durch „Märchen“ über das Jenseits „bloß an der Nase herumgeführt“ (mythois allōs pheromestha); Herodot 2,45 und Demokrat VS 68 B297.
8 Vgl. etwa Murray [1999] 256 über Platons Neigung, „seine Mythen von den Dialogpartien, in die sie eingebettet sind, in einer Weise abzuheben, die auf ihren problematischen Status aufmerksam macht, namentlich durch seine Spielereien mit den Bedeutungen von mythos und logos“.
9 Vgl. Murray [1999] 256f.: „… dass ein eschatologischer Mythos in einem Dialog als logos und im anderen als mythos gekennzeichnet sein kann, spricht deutlich dafür, dass die diesen Wörtern zugedachte Bedeutung in hohem Maße vom Kontext abhängt“. Ähnlich schon Moors [1982] 69: „… der Kontext, in dem mythos-Termini auftreten, bildet einen wichtigen Parameter für die Bestimmung der Bedeutungen“.
10 Wichtige Erläuterungen zu dieser schwierigen Stelle bietet Manuwald [1999] 448.
11 Wörtlich: „kein Alkinoos-apologos“, also keines von den Lügenmärchen, wie sie Odysseus seinen phäakischen Gastgebern in Odyssee 9–12 aufgetischt hat.
12 Zu dieser Lesart vgl. Janka [2002].
13 Vgl. Ti 29d5 prooimion (Prooemium) und 29d6 nomon (Lied, Weise) mit dem Kommentar von Taylor [1928] 75.
14 Vgl. dazu Schöpsdau [1994] 372f.
15 Zu diesem – vor allem im Vergleich mit der Politeia – positiven Bild des dichterischen Enthusiasmos vgl. Schöpsdau [1994] 373f.
16 Vgl. Schöpsdau [1994] 375–378, bes. ausführlich zu Parallelen bei Historikern und zu Quellenfragen, bei deren Bewertung immer damit zu rechnen ist, dass Platon nicht nur „sonst gänzlich verschollenen Traditionen folgt“ (377), sondern gerne auch Traditionen fingiert.
17 Vgl. Heitsch [1997] 20, Anm. 8 zu „greift mir unter die Arme…“: „Vermutlich poetische Reminiszenz. Nicht identifizierbar“.
18 Sokrates begründet diesen Abbruch nach dem Tadel des Verliebten (und vor einem Lob des Nichtverliebten) damit, dass der genius loci ihn ohnehin schon zu dichterischem Enthusiasmos hingerissen habe, unter dessen Einfluss er „bereits in epischen Versen rede und nicht mehr bloß in Dithyramben“ (241e1–2).
19 Für die unterschiedliche Bewertung beider Reden durch den Sprecher selbst ist auch sein abschließendes Gebet an Eros aufschlussreich (257a3–b6): Er widmet dem Gott die nach seinen Kräften „schönst- und bestmögliche Palinodie“ und bittet für „den früheren logos“ um Vergebung, an dem überdies Lysias als „Vater des logos“ die Schuld trage.
20 Zu Ursprüngen, Gestalt und Bedeutung des Bildes von der geflügelten Seele und vom Seelengespann vgl. eingehend Heitsch [1997] 93–100.
21 Tatsächlich führt er sein Gleichnis nämlich keineswegs zu Beginn der zweiten Rede ein, sondern erst nach den einleitenden Darlegungen über die Formen göttlichen Wahnsinns (243e9–cl) und die Unsterblichkeit der Seele (243c1–246a3).
22 Zu diesem Bild vgl. ausführlich Schöpsdau [1994] 228–239, u.a. über Beziehungen zum Seelenwagen des Phaidros und inhaltliche Berührungspunkte mit Resp 10,603dff.
23 Anders urteilt Moors [1982] 37; 70, Anm. 3: „Der hier gemeinte ‚Mythos‘ ist die Entwicklung einer ‚Stadt im Gespräch‘ in den Nomoi, die der Fremde … als Mythos betrachtet“. Für eine solche, grundsätzlich plausible transtextuelle Referenz fehlen hier aber kontextuelle Indikatoren.
24 Im achten Brief bezeichnet mythologein ([Ep] 8,352e1) „mahnende Berichte“ über die aktuellen politischen Wirren auf Sizilien, zu denen der Autor die Adressaten (Dions Parteigänger) auffordert. Dies scheint von Platons genuinem Sprachgebrauch weit entfernt.
25 Diese Ansicht scheint auch Rowe [1999a] zu teilen, demzufolge Platon seine Leser zur Identifikation beider poleis geradezu einlade (263f.).
26 Vgl. dazu Schöpsdau [1994] 192 zu Lg l,632e4–5: „Das Gespräch der drei Greise ist ‚vernünftiger Zeitvertreib‘ (… 685a7–8) zum Verkürzen des langen Weges (… 625b6). Sein Inhalt ist μυθολογία …, d.h. theoretische Reflexion, die nicht unmittelbar auf gesetzgeberische Praxis zielt“.
27 Vgl. dazu Rowe [1993] 125, der auf Platon-Parallelen für den Vergleich der Diskussion mit „Geschichtenerzählen“ verweist und dieses Verwischen von sprachlichen Grenzen im Phaidon für thematisch geboten erachtet.
28 Zum Komplex der sokratischen „Magie“ vgl. Belfiore [1980] (mit älterer Lit.).
29 Rowe [1993] 153 betont die Relevanz dieser Koppelung gegensätzlicher Redeweisen für die Leserlenkung. Der Rezipient werde „gleichzeitig davor gewarnt, den Argumenten als solchen allzu großes Gewicht beizumessen und daran gemahnt, dass es Sokrates todernst meint mit seinen Ausführungen“.
30 Vgl. Gill [1980] 55 mit Parallelen und Gegenbeispielen.
31 Zu Parallelen vgl. Gill [1980] 41 zur Stelle.
32 Vgl. Gill [1980] XXIII: „Aus der Feder eines solchen Schriftstellers (scil. wie Platon) – und bezogen auf eine derart phantastische Geschichte – scheint der ‚Wahrheits‘ anspruch ein erzählerischer Schnörkel zu sein, ein ironischer Wink an seine hellhörigeren Leser“.
33 Diese Maxime nimmt als Schlusspunkt des Vorgespräches eine wichtige Stellung im Dialog ein; vgl. dazu Frede [1997] 110f.
34 Eine vollständige und verlässliche Auflistung mit genauen Quellenangaben bietet Brisson [1982] 178.
35 Ähnlich verfährt auch der Autor des zwölften Briefes, wenn er sich unkritisch auf die „überlieferte Sage“ ([Ep] 12,359d5 paradedomenos mythos) von den angeblich unter Laomedon aus troischem Terrain vertriebenen Myriern beruft.
36 Zu diesem Komplex vgl. bes. Smith [1986].
37 Vgl. dazu Murray [1996] 135f. (mit Lit.). Ihre Anmerkung, diese Ambivalenz treffe lediglich auf Platons eigene Mythen, nicht jedoch auf die „gänzlich falschen“ Mythen der traditionellen Dichtung zu, greift in Anbetracht der oben vorgestellten Beispiele – etwa über die Instrumentalisierung der Ilias in den Nomoi – doch zu kurz, indem sie nur den engeren Kontext der Politeia berücksichtigt.
38 Vgl. Murray [1996] 184 mit Einzelerklärungen und Hinweis auf intratextuelle Referenzen.
39 Vgl. Schöpsdau [1994] 304f. (mit weiterer Lit.), dessen Einschätzung der „nützlichen Lüge“ „in irrealer Form als bloßes Gedankenspiel“ den Punkt nicht ganz trifft, da sie den psychagogischen „Modellcharakter“ (663e9–664a1 mega … nomothetēi paradeigma tou peisein … tas tōn neōn psychas) zu gering veranschlagt.
40 Vgl. dazu Rowe [1995a] 237f. mit wichtigen Parallelen in Resp, Lg und Phdr.
41 Durs Grünbein, Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen, Frankfurt/Main 2001, 27.