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II.

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Allein der Umstand, dass Platon an einer oft zitierten Stelle seines Gorgias die Qualifizierung einer Erzählung als mythos oder logos von der subjektiven Überzeugung des Rezipienten abhängig macht (Gorg 523a1–2), sollte unsere Hellhörigkeit für den Kontext der mythos-Belege bei Platon auf den Plan rufen9: Jeden Einzelfall müsste man folgendermaßen befragen: Wer bezeichnet in welchem Zusammenhang und in welcher Tendenz was als mythos oder ähnlich? Bisherige Klassifizierungen fragten meist lediglich nach dem was, gelegentlich noch nach dem wer. Vor allem aber die Frage nach Bezugsrahmen (Referenz) und Tendenz trat unverständlicherweise in den Hintergrund.

Ich schlage hingegen vor, die bei Zaslavsky und Moors (jeweils nicht ganz vollständig) aufgelisteten Platon-Belege für den Begriff mythos und seine direkten Derivate mythologein ([als] einen mythos vortragen/erzählen), mythologēma/mythologia (Erzählung eines mythos), mythologos/mythopoios (Erzähler/Erfinder von mythoi), mythikos (mythisch), mythologikos (mythenerzählerisch) und diamythologein (einen mythos in jeder Einzelheit ausführen) nach zwei bislang vernachlässigten Parametern zu gruppieren:

I) Hinsichtlich der Referenz möchte ich dialogreferentielle Fälle von fremdreferentiellen unterscheiden: 1) Unter dialogreferentiell verstehe ich die Anwendung von mythos-Vokabular – auch in Vergleichen – auf im jeweiligen Gesprächszusammenhang ausführlicher behandelte oder gar für diesen Kontext weitläufiger entwickelte sprachliche Gebilde oder textuelle Phänomene. 2) Fremdreferentiell sei demgegenüber die Anwendung von mythos-Vokabular auf sprachliche Gebilde oder textuelle Phänomene, die im Gespräch zwar erwähnt sind, ohne aber als mythoi o.ä. näher ausgeführt oder ausgestaltet zu werden.

II) Hinsichtlich der Tendenz, die der Sprecher gegenüber den von ihm erwähnten mythoi bekundet, sind grundsätzlich positive von neutralen/unentschiedenen/ambivalenten und negativen Wertungen zu unterscheiden. Da die Grenze zwischen den ersten beiden Gruppen oft fließend ist, begnüge ich mich damit, a) Fälle von Affirmation durch ausdrücklich positive Einstufung und neutralen oder ambivalenten Gebrauch von b) Fällen der Distanzierung durch eindeutig negative Befrachtung des mythos-Vokabulars zu sondern.

Durch die Kombination beider Parameter soll eine feingliedrigere Klassifizierung der Belege erfolgen, bei der auch die etablierte Dichotomie „Traditionelle Mythen“ – „Platons Mythen“ mitwirken kann, die manche durch die „Pädagogischen Mythen“ zur Trichotomie und die „Poetologischen Mythen“ zum Quartett erweitern.

1a) Die mit 57 Belegen größte Untergruppe verbindet Dialogreferenz mit affirmativer, neutraler oder ambivalenter Tendenz: Dies trifft natürlich zunächst – mit sehr wenigen, aber aufschlussreichen Ausnahmen – auf diejenigen erzählerisch ausladenden Partien in den Dialogen zu, die man gemeinhin als Platons Mythen etikettiert: Im Protagoras bezeichnet der Titelsophist seine Geschichte vom Ursprung der Menschen und ihrer Zivilisation, die er als im Vergleich zum logos „anmutigere“ (Prot 320c6–7 chariesteron) und einem älteren Erzähler angemessene Spielart der Epideixis über die Lehrbarkeit der politischen Kompetenz selbst gewählt hat (Prot 320c6–7), viermal als mythos (Prot 320c3; c7; 324d6; 328c3); Sokrates tut in seinem Rekurs am Ende des Dialogs ein Gleiches, wenn er sein Gefallen am „vorher schlauen“ Prometheus, wie er ihm „in der Geschichte“ (Prot 361d2 en tōi mythōi) des Protagoras vorgeführt wurde, bekundet und ihn zum Vorbild für den Wissensdurst im eigenen Leben kürt (361c7–d6).10

Im Phaidon schlägt Sokrates die Schilderung der „wahren Erde“ als „schöne“ und „hörenswerte“ Gesprächsvariante in mythischer Form vor (Phd 110a8–b1 ei … kai mython legein kalon) und wird von Simmias in diesem Vorhaben mit folgender Zusicherung bestärkt: „Jedenfalls wir (Anwesenden) würden uns diese Geschichte (mythou) liebend gern anhören“ (Phd 110b3–4). Später bekennt Sokrates, er schwelge deshalb so ausgiebig in seinem Jenseits-mythos (Phd 114d7–8 palai mēkynō ton mython), weil er Geschichten von der Unsterblichkeit der Seele gleichsam als „Zauberformeln“ (Phd 114d6 hōsper epāidein) in den Dienst einer Selbsttherapie stelle.

In der Politeia qualifiziert Glaukon Elemente der von ihm zur Veranschaulichung seiner advocatus-diaboli-These referierten Geschichte um den Lyder Gyges, der mit Hilfe eines nach Belieben unsichtbar und wieder sichtbar machenden Rings vom Hirten zum Herrscher aufstieg, ausdrücklich als „wundersame Sagenüberlieferung“ (ha mythologousin thaumasta) (Resp 2,359d6). Die Jenseitserlebnisse des scheintoten Pamphyliers Er, in Resp 10,614b2 als wahrhaftiger apōlogos (Bericht)11 bezeichnet, den man „sehr gerne hört“ (614b1), sind für Sokrates ein mythos, der durch Ers Rückkehr ins Leben „gerettet“, d.h. der Tradition einverleibt und vollständig erhalten wurde (621b8 mythos esōthē kai ouk apōleto), und auch „uns (Zuhörer) retten könnte, wenn wir denn daran glauben“ (621b8–c1).

Das merkwürdige Sagen-Konglomerat um die Richtungswechsel in den Entwicklungsphasen von Kosmos und Menschheit, das der Gast aus Elea im Politikos entfaltet, um „auf einem anderen Weg, mit einem Schuss Kinderei/Scherz gewürzt“ (Plt 268d5–8) Argumentationsfehlern in der Dihäreseübung auf die Spur zu kommen, wird vom Erzähler selbst ambivalent eingestuft: Anfänglich pleonastisch als „gewaltiger Brocken von Riesenmythos(Plt 268d8–9)12, bald als eine Art „Kindergeschichte“, bei der man als junger Zuhörer gut aufpassen muss (268e4–5 tōi mythōi proseche ton noun), dreimal neutral als mythos (272d5; 274e1; 275b1), am Ende jedoch als „staunenswerte Masse (thaumaston onkon) von mythos und unangemessen großer Erzählaufwand ohne richtigen Schluss“ (277b4–6; b7–8).

Ähnlich zwiespältig bewertet Sokrates in der Politeia das von ihm selbst vorgebrachte gennaion pseudos (edle Lüge) (Resp 3,414b9–c1) von der Erdentsprossenheit und göttlichen Formung der Bürger des von ihm konzipierten Staates, deren soziale Differenzierung durch die Beigabe unterschiedlicher Metalle erklärt wird. Diese von Sokrates als mythos angesprochene Fiktion (415a2) verdiene Verbreitung (415a3 phēsomen pros autous mythologountes), da sie zur Identitätsstiftung notwendig sei, bleibe aber – zumindest für die erste Generation von Bürgern – unglaubwürdig (415c6–d2).

Eine Zwischenstellung zwischen der Pose eines Überlieferungsreferats und der Entwicklung einer betont eigenen Theorie nimmt der mehrmals vom Sprecher selbst als eikōs mythos (Darlegung mit dem Anspruch auf Wahrscheinlichkeit, nicht auf widerspruchsfreie Wahrheit) titulierte Vortrag des Timaios im gleichnamigen Dialog ein: Programmatisch verteidigt Timaios die Beschränkung auf einen „menschenmöglichen“ eikōs mythos – in Ti 29c8 durch eikotas (scil. logous) vorbereitet – als „angemessen“ (prepei) (Ti 29d2–3) und wird darin von Sokrates bestärkt (29d4–6), der allerdings das „Poetische“ von Timaios’ Ausführungen durch ihre augenzwinkernde Bezeichnung mit dichtungsspezifischen Termini unterstreicht.13 Später wird mit Verweis auf das „Prinzip“ (idea) der eikotes mythoi auf farbenprächtige Ausgestaltung verzichtet (Ti 59c6); Timaios zeigt sich bestrebt, seinen eikōs mythos „zu retten“ (diasōizoi) (Ti 68d2), also bündig zu gestalten, und ihn nicht „kopflos“, d.h. ohne rechten und mit dem Vorigen konsistenten Abschluss stehen zu lassen (Ti 69b1–2).

In den Nomoi stößt man auf einige kleinere mythoi, die affirmativ in das Gesetzgebungswerk integriert sind: Bei der Behandlung der „historischen“ Verfassungsentwicklung nach Gründung von Ur-Staaten im dritten Buch bemüht der Athener den mythos, d.h. hier die in der Ilias greifbare Version der Sage, von Ursprung und Gründung Troias als Beispiel für die dritte Stufe der politischen Organisation als gemischte und Verfassungswandel unterworfene Staatsform (Lg 3,681d7–9 triton … politeias schema), die nach väterlichdynastisch geleiteten Kleinverbänden und aristokratisch geordneten „Zusammenschlüssen“ zu größeren Gebilden eingetreten sei. Der Homer zitierende und auswertende Erzähler14 hält dem mythos hier verdeutlichende Funktion zugute: „Fahren wir doch mit dem mythos, der uns jetzt in den Sinn gekommen ist, noch etwas fort. Denn vielleicht erhellt er ja manches von unserem Vorhaben (sēmēneie ti tēs hēmeteras peri boulēseōs)“ (682a7–9). Diese Form der Beglaubigung rechtfertigt der Athener damit, dass Dichter aufgrund ihrer göttlichen Inspiration gleichsam schlafwandlerisch „viele wahre/wirkliche Vorgänge“ mit ihren Versen „zu greifen bekommen“ (pollon tōn kat’alētheian gignomenōn … ephaptetai) (682a3–5).15 Nachdem er seine verfassungsgeschichtliche „Archäologie“ in großem Bogen vom troianischen Sagenkreis zur dorischen Wanderung und Gründung Spartas weitergeführt hat, wechselt der Athener zwar seine Quelle, bleibt aber dem mythos treu: Er stützt sich nämlich im Folgenden auf die nach seinen eigenen Worten lückenlose Tradition der Spartaner: „Über die gesamte Folgezeit gibt es bei euch, ihr Lakedaimonier, Sagen und Geschichten, die alles abdecken (682e5–6 mythologeite te kai diaperainete).16

Im vierten Buch empfiehlt der Gast aus Athen, „im mythos ein wenig zusätzliche Argumentationshilfe zu suchen (mythōi smikra g’eti proschrēsteon), um die „jetzige Frage“ (nach der besten Herrschafts- und Regierungsform) auf stimmige Weise zu klären (emmelōs pōs dēlōsai)(Lg 4,713a6–7). Dem Athener geht es darum, die Herrschaft des Kronos, dessen „Menschenherden“ unter der Regentschaft übermenschlicher Daimones in paradiesischem Frieden und Wohlstand lebten, als göttliches Vorbild für das bestmögliche menschliche Gemeinwesen zu etablieren (713b2–4). Kleinias lobt diese Wendung des Gesprächs überschwänglich (713b8) und fordert den Gast auf, seinen mythos, den der Athener sowohl als phēmē (Sage) (713c2) als auch als logos bezeichnet (713e4), „Punkt für Punkt zu erzählen“ (713b8–c1). In seinem Resümee befragt der Athener die Geschichte auf ihren „wahren Gehalt“ (alētheiāi chrōmenos) (713e4) und meint damit, wie der Kontext zeigt, ihre Botschaft für die Errichtung einer gerechten Herrschaftsordnung, welche dem Modell der selbstlosen Fürsorge höherer Wesen über niedrigere Schutzbefohlene nacheifern sollte.

Im strafrechtlichen Teil der Nomoi rekurriert der Athener mit erstaunlicher Anerkennung auf Rachemythen: In seine Behandlung der Tötungsdelikte bindet er die „alte Überlieferung von Ur-mythoi“ über Getötete, die als Gespenster die Täter nicht zur Ruhe kommen lassen, als „nicht verächtlich“ mit ein (Lg 9,865d5–6). In ähnlicher Weise verankert er seine Normen zum Verwandtenmord in der „alten priesterlichen Überlieferung“ über die Vergeltung solcher Taten nach dem Gesetz „Der Täter muss seine Tat am eigenen Leib erfahren“ (drasanti … pathein) (Lg 9,872d7–e5). Er gibt sich unentschlossen, ob er solche Traditionen als „mythos oder logos“ betiteln soll (872d7–e1).

Beide Darstellungsweisen ergänzen sich wechselseitig, wenn der Athener im zehnten Buch der Nomoi von der Providenz und Gerechtigkeit der Götter handelt. Er erklärt dort nämlich, einem durch logoi (Argumentationstechnik) bereits zum Eingeständnis seines Irrtums „gezwungenen“ jugendlichen Renegaten „zusätzlich durch die Bezauberung gewisser mythoi“ die richtige Haltung einimpfen zu wollen (Lg 10,903a10–b2). Die zu diesem Zweck vorgestellte Veranschaulichung der göttlichen Fürsorge für Kosmos, Menschheit und Individuum führt der Erzähler dann allerdings als „überzeugende logoi“ ein (903b4).

In zwei Nomoi-Belegen wird dem mythos sogar eine vor- oder übergesetzliche Wirksamkeit zugeschrieben: Im vierten Buch legt der Athener als „einzigen (heiligen) Spruch über die Ehe“ (Lg 6,773b4–5 heis … mythos gamou) fest: „Jeder muss eine für die Stadt nützliche Ehe eingehen, nicht die für ihn selbst angenehmste“. Im Schlussteil des Dialogs geht es dem Gesprächsführer um die Waisenfürsorge: Den Zorn des Gesetzgebers bekomme nicht zu spüren, wer „dem vorgesetzlichen mythos gehorche“ (Lg 11,927c7–8 peistheis tōi pro tou nomou mythōi) und Waise von sich aus gut behandle. Hier bedeutet mythos so etwas wie „Stimme der Natur“ oder „Naturrecht“.

Etwas beunruhigender als die bislang betrachteten, zumeist eher konventionellen Verwendungsweisen von mythos sind diejenigen Fälle, in denen die für den platonisch-sokratischen Elenchos typischen Gesprächselemente, -techniken und -verfahren als mythos qualifiziert werden.

So vergleicht im Gorgias Sokrates seinen eigenen Wortwechsel (logos) mit Kallikles mit einem mythos, der nicht „kopflos“, also unvollendet, in der Gegend herumschwirren dürfe (Gorg 505c10–d3).

Erst recht können längere Einlassungen eines Gesprächspartners, um die sich die Diskussion rankt, mit mythischem Vokabular bedacht sein, das auf die Poetizität dieser Texte verweist: Im Phaidros leitet Sokrates mit einer ironischen Beistandsbitte an die Musen17 seine erste, wider besseres Wissen und in schamhafter Verhüllung gegen den Verliebten gerichtete Rede über Eros ausdrücklich als mythos ein (Phdr 237a9), dem, wie er nach dem Abbruch der Geschichte18 betont, „(genau) das zustoßen wird, was ihm zustoßen soll“ (241e8–9 ho mythos hoti paschein proshēkei autōi, touto peisetai). Es handelt sich also wieder um einen – trotz seiner fast gleichzeitigen Bestimmung als logos mit freilich willkürlichem Ende in 241d3 – „anfälligen“ und damit ambivalenten mythos. Seine als Palinodie vorgetragene zweite Rede über Eros bedenkt Sokrates dann rückblickend mit positiveren Attributen.19 Er spricht von einem „logos nicht ganz ohne Überzeugungskraft“ und „einer Art mythischem Lobpreis (mythikon hymnon), mit dem wir angemessen (metriōs) und fromm (euphēmōs) eine spielerische Huldigung (prosepaisamen) an meinen und deinen Herrn Eros formuliert haben“ (265b8–c2). Phaidros quittiert dies mit einer wohlwollenden Kritik der Rede als „zumindest für mich ganz und gar nicht unvergnügliches Hörerlebnis“ (265c4). Daraufhin bezeichnet Sokrates die gesamte sachliche Einkleidung der Reden – das Thema der Doppelnatur des Eros also – als „wahrlich scherzhaftes Spiel“ (265c8–9 tōi onti paidiāi pepaisthai), um davon lediglich den für seine Lieblingsmethoden „Begriffszergliederungen“ (dihaireseis) und „definitorische Zusammenfassungen“ (synagōgai) auswertbaren Ertrag gelten zu lassen.

In Anbetracht von Platons dehnbarem Begriff des mythos wird es kaum wundernehmen, dass er nicht nur Götter- und Ursprungsgeschichten im engeren Sinn, sondern auch bildliche oder gleichnishafte Illustrationen im terminologischen Umfeld des mythos ansiedelt:

Im Gorgias macht sich Sokrates die Gleichnisreihe des „vermutlich italischen oder sizilischen, phantasiebegabten ‚Sinnbildners‘/‚Geschichtenerzählers‘“ (493a5–6 mythologōn kompsos anēr, isōs Sikelikos tis ē Italikos) zu Eigen, demzufolge die Unersättlichkeit des begehrlichen Seelenteils an ein undichtes Fass gemahne. Wenn Sokrates die Methode seines Gewährsmanns explizit übernimmt (493d3 mythologo), so baut er dabei auf die Überzeugungskraft (493d1 peithō ti se…?) solch bildhafter Erzählungen, die selbst einem so widerspenstigen Gegenüber wie Kallikles die These vom größeren Glück der Anständigen im Vergleich zu den Schuften nahe bringen müssten. Freilich scheitert Sokrates nicht nur mit diesem ersten Versuch (493d4), sondern auch mit seinem „zweiten Bild“ (allen soi eikona lego) (493d5) aus der nämlichen „Schule“ an dem halsstarrigen Kallikles, der bei seinem: „Du überzeugst mich nicht, Sokrates“ (ou peitheis, ō Sokrates) (494a6) bleibt. Auch der bildhafte mythos setzt also für ihn aufgeschlossene Rezipienten voraus, um seine Wirkung entfalten zu können.

Als Sokrates an einer Stelle des Phaidros auf seine vorher eingeführte Dreiteilung der Seele intratextuell zurückgreift, um das Gleichnis vom Seelenwagenlenker und den beiden Seelenpferden20 weiter auszugestalten, betont er, diese Dreiteilung entspreche derjenigen, die er „am Anfang dieses mythos“ vorgenommen habe; sie solle „auch jetzt noch für uns Gültigkeit behalten“ (Phdr 253c7–d1). Wollte Sokrates hiermit auf den Beginn seiner zweiten Rede über Eros verweisen, so würde er ein doch recht großzügiges Verständnis von „Anfang“ an den Tag legen.21 Es spricht also viel dafür, dass er mit toude tou mythou (253c7) speziell seine in 246a3 begonnenen Ausführungen über das Wesen (idea) der Seele im Auge hat, die zwanglos in die Schilderung der Seele des Verliebten übergehen. Und für dieses Thema hatte er sich von vornherein programmatisch auf die anthrōpinē kai elatton dihegesis (menschenmögliche und kürzere Darstellungsvariante) (246a5–6) des Gleichnisses (246a5–6 hōi … eoiken … eoiketo) beschränkt.

Im neunten Buch der Politeia entwickelt Sokrates unter expliziter Berufung auf „mehrgestaltige Wesen in alten Sagen“ (Resp 9,588c2–3 hoiai mythologountai palaiai genesthai physeis) wie Chimaira, Skylla oder Kerberos sein Bild (588b10 eikona plasantes tēs psyches) von den widerstrebenden Trieben in der menschlichen Seele mit ihren „(wirklich) menschlich-zahmen“ und „tierisch-wilden“ Neigungen. Dieses Bild stellt Sokrates in den Dienst einer „sanften Überzeugungsarbeit“ (589c6).

Im ersten Buch der Nomoi unternimmt der Gast aus Athen das Gedankenexperiment (Lg 1,644d7 dianoēthōmen houtōsi), sich die Lebewesen (konkret: Seelen) als Marionetten (thaumata) an göttlichen Drähten und Fäden mit unterschiedlichen Zugrichtungen (helxeis) vorzustellen,22 wobei es darauf ankommt, unter Mühen der „goldenen“, sanften und schönsten Bewegung hin zu arete (gutes Leben) und nomos (Gesetz) zu folgen (für die man [göttlichen] ‚Anschub‘ brauche, da die Vernunft in ihrer Gewaltlosigkeit nicht genügend Kraft aufbringe), den an einem zerrenden „rauen“ Drähten/Verführungen der kakia (Schlechtigkeit, Bosheit) aber zu widerstehen (644d7–645b1). Diese Allegorie funktionalisiert der Erzähler als „geretteten mythos“ (645b1–2) zur Erklärung (645b3 phaneron an gignoito) der oft mühseligen Entscheidung für das Gute in Individuen und Staaten, die ein Aufgreifen des „wahren Gehalts“ (645b4 logon alēthē labonta) dieser Geschichte voraussetze. Er weitet diese Nutzanwendung noch auf die definitorische Klärung von „gut“ und „übel“ sowie auf Fragen der Erziehung und des Weintrinkens aus (645b8–c6).

Noch ungewöhnlicher erscheint die selbstreflexive Anwendung von mythos-Vokabular auf Dialogpartien, die sich selbst bei engherziger Betrachtung weder als märchenhafte noch bilderlastige „Digressionen“ aus dem Gesprächsganzen herauslösen lassen:

Im Theaitet kennzeichnet Sokrates die von ihm beifällig referierte Bewegungstheorie der Wahrnehmung nicht nur – wohl scherzhaft – als „Mysteriengeheimnisse“ (Tht 156a3 mystēria), sondern – auf die Auswertung im Elenchos überleitend – auch als houtos ho mythos (156c4).

Diese Variante begegnet in den Nomoi auffallend oft: Im vierten Buch will der Gast aus Athen eine im Gespräch gewonnene Maxime für die beste staatliche Rechtsordnung, nämlich dass herausragende Fähigkeiten (dynameis) einzelner Bürger mit Verstand (phronein) und Beherrschtheit (sōphronein) gepaart sein müssen, „wie einen mythos als Orakelspruch (ein Wort mit göttlicher Weihe also) verkündet“ wissen (Lg 4,712a4). Im siebten Buch fordert der Athener im Kontext der gesetzlichen Regelungen (nomothesia) über frühkindliche Erziehung, die seelischen Aspekte der Angelegenheit „in der Weise durchzugehen, mit der wir bei der Besprechung der mythoi über die körperlichen Belange angefangen haben“ (Lg 7,790c3). In diesem Fall verweisen die mythoi also auf ein vorbildliches Gesetzgebungsverfahren, das im Gespräch der Nomoi entfaltet wurde. In ganz ähnlicher Weise besiegelt der Athener seine Vorschriften über den Lese- und Literaturunterricht, den man der Jugend angedeihen lassen soll, mit den Worten: „Damit soll jetzt und hier mein mythos beschlossen sein, soweit er von Sprachlehrern und Literatur handelt“ (Lg 7,812a1–3). In solchen Stellen erlangt mythos eine autoritative Kraft, die unmittelbar aus den Erörterungen im (dia)logos hervorgeht und diese gleichsam überhöht. Ebenso redet der Athener auch in der pseudoplatonischen Epinomis bei der Festlegung von Thema und Funktion des Dialogs als Anhängsel an die Nomoi, das die dort ausgesparte Frage nach dem Wesen der sophia (Weisheit) respektive ihrer Typen ins Visier nimmt: Beim Ausklang des programmatischen Satzes kündigt er die Klärung von Art und Anzahl der Einzel-sophiai an, über die jemand verfügen müsse, um „sophos zu sein gemäß unserem mythos“. Dass sich mythos hier viel eher auf die Gedankengänge des gegenwärtigen Dialoges bezieht als auf das Gespräch der Nomoi, scheint mir evident zu sein.23 Am Rande gehört in diese Gruppe auch eine Stelle im Siebten Brief, in dem der Autor auf seine Darlegungen über die Stufen der Erkenntnis als mythōi te kai planōi „lange und irrlichternde Geschichte“ verweist ([Ep] 7,344d3).24

Doch damit nicht genug: Gelegentlich lässt Platon seine Figuren auch die Leitthemen, die für die Konstruktion seiner längsten Dialoge prägend sind, mit mythoi vergleichen oder gar als solche bezeichnen: Dem polis-Entwurf in der Politeia widerfährt solches zweimal: In einer methodischen Zwischenüberlegung im zweiten Buch, in der Sokrates mit Adeimantos die Frage der Erziehung der Wächter auf ihre Relevanz für das Problem von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit im Staat hin untersucht und zu einem positiven Urteil kommt, beschließen beide, an dieser Betrachtung/Prüfung (skepsis) festzuhalten, auch wenn sie „weitschweifiger geraten sollte“ (makrotera tynchanei ousa) (Resp 2,376d6–7). Das Moment der Ausführlichkeit veranlasst Sokrates dann zu folgendem Vergleich: „Bilden wir die Männer also im Rahmen unseres Gespräches (logōi) aus, indem wir uns wie beim Erzählen von Märchen und Geschichten (hōsper en mythōi mythologountes) genügend Muße dafür gönnen!“ (376d9–10)

Im sechsten Buch verweist Sokrates durch wörtliche Reminiszenzen auf diese Stelle zurück. Er kontrastiert dort nämlich die erzählerische Ausgestaltung der politeia im Gespräch mit ihrer praktischen Umsetzung, die nur dann gelingen könne, wenn die Philosophen die Regierung übernähmen, eine Ansicht, die nach wie vor Empörung hervorrufen würde (Resp 6,501e2–5, bes. e4–5 he politeia hen mythologoumen logōi ergōi telos lēpsetai). An diesem Beispiel ist besonders lehrreich, wie hier eine Antithese zwischen dem kaum binnendifferenzierten Gespann mythos und logos (fiktionaler, theoretischer Diskurs) einerseits und ergon (Lebenspraxis) andererseits aufgebaut wird.

Im Timaios findet sich eine Bezugnahme des Kritias auf Sokrates’ „gestrigen“ Staatsentwurf, die man mit guten Gründen als intertextuelle Referenz auf die Politeia zu verstehen geneigt ist (Ti 25e2ff.).25 Immerhin vergleicht auch Kritias das von Sokrates konzipierte Gemeinwesen mit einem mythos außerhalb der historischen Zeit und des historischen Raumes, wenn er folgenden Plan verkündet: „Die Stadt und die Bürger, die du uns gestern gleichsam im mythos in allen Einzelheiten vorgeführt hast (diēieistha), wollen wir jetzt in die Wirklichkeit transportieren (metenenkotes epi talēthes)“ (26c7–d1). Damit beabsichtigt er konkret eine Historisierung von Sokrates’ polis, indem er deren Bürger fiktiv mit den Bewohnern des von Kritias offenbar als geschichtlich akzeptierten Ur-Athen gleichsetzt (26d1–e1), was sogar Sokrates’ Billigung findet (26e2–6). Tatsächlich kleidet Platon damit natürlich nur seinen „dialektischen“ mythos der Politeia in einen pseudo-historischen mythos im Dunstkreis der Atlantisgeschichte um (siehe dazu unten).

Auch zu Beginn des sechsten Buches der Nomoi wird die bisher im Dialog geleistete Konzipierung einer wohl geordneten polis als mythos resümiert. Der Athener versichert Kleinias, er werde ihm „im Stil der gegenwärtig von uns betriebenen mythologia (erzählerischer Entwurf)26 weiter unter die Arme greifen (syllēpsesthai)(Lg 6,751e2–752a1). Er wolle damit verhindern, dass der mythos „kopflos/unvollendet“ (akephalos) bleibe und „unansehnlich“ (amorphos) erscheine, wenn er sich in diesem Zustand „überall herumtreibe“ (planōmenos … hapantēi) (752a2–4). Wieder einmal erweist sich der mythos als gefährdet und hilfsbedürftig: Er ist – aus der Sicht seines Autors – ein Gesprächskonstrukt oder fiktives Gebilde, das aus sachlogischen wie ästhetischen Gründen einer Abrundung bedarf.

Es ist ebenso erstaunlich wie folgerichtig, dass Platon an drei Stellen das gesamte Programm eines Dialoges (oder doch wesentlicher Teile davon) als mythos einstufen lässt: Als die Unterredner des Phaidon sich gegen Anfang des Dialogs über ihr angesichts von Sokrates’ bevorstehender Hinrichtung nahe liegendes Thema Tod und Jenseits verständigen, meint Sokrates: „Vielleicht kann ja jemand, der die Reise dorthin anzutreten im Begriff ist, nichts Passenderes tun (malista prepei), als diese Reise gedanklich zu beleuchten und Geschichten darüber zu erzählen (diaskopein te kai mythologein)(Phd 61d10–e2). Der kundige Leser mag bemerken, dass Platon seinem Sokrates mit dieser oxymorisch wirkenden27 Dichotomie die Grobdisposition und gleichzeitig das Hauptproblem des Gesprächs in den Mund gelegt hat: Nach den Versuchen, die Unsterblichkeit der Seele in vier Anläufen argumentativ zu erweisen, werden die erzählerisch entfalteten „Zaubersprüche“ des mythos erklingen.28 Denn wie sollen Lebende unter Verzicht auf „Sagen und Geschichten“ über den Tod argumentieren? Beiden Verfahren wird programmatisch Situationsangemessenheit zugute gehalten. Doch beide Verfahren sind – gerade bei diesem Thema – kaum allzu scharf zu trennen. Dies zeigt der Sprachgebrauch an einer späteren Stelle: Dort nämlich scheint Sokrates diamythologōmen (spinnen wir unsere Geschichte doch weiter) (Phd 70b6) und diaskopeisthai (die Betrachtung fortsetzen) (70c3) synonym zu verwenden, indem er beide auf denjenigen Unsterblichkeitsbeweis bezieht, der auf dem „Kreislauf“ des Werdens und Vergehens gründet. Sokrates’ Gesprächspartner Kebes bekennt dort, er würde Sokrates’ Meinung (doxa) darüber „gerne hören“ (70b8 hēdeōs an akousaimi). Vielleicht dürfen wir das alles als Fingerzeig Platons darauf lesen, dass sich schon in diesem Beweisgang, in dem ja Hades, Seelenwanderung und Wiedergeburt zur Sprache kommen, erzählerische und argumentative Züge gegenseitig stark durchdringen.29

In einer methodischen Vergewisserung zu Beginn des Nomoi-Gespräches stellt der Athener sein Dialogkonzept von der Behandlung der einzelnen staatstragenden „Tugenden“ (aretai) nach dem Muster der Tapferkeit vor. Die an diesem Gespräch, das er als koinos … logos (gemeinsame Unterhaltung) (Lg 1,633a3–4) begreift, Beteiligten bezeichnet er als diamythologountes, Leute also, die „eine Geschichte Punkt für Punkt durchgehen“ (632e4–5).

Gut vergleichbar ist auch der Gebrauch von diamythologein gegen Ende der Apologie, wo Sokrates seinen „Nachtrag“ an die ihm wohlgesonnene Minderheit von Stimmberechtigten mit diesem Programmbegriff einleitet: „Denn nichts hält uns davon ab, einander Geschichten zu erzählen (diamythologēsai), solange es noch erlaubt ist“ (Ap 39e5–40a1). Die folgenden Schlussworte über seine Hoffnung auf die Segnungen des Todes behandeln auch das Seelengericht und die Begegnung mit Heroen im Jenseits, Überlieferungen, die Sokrates als „möglicherweise wahre legomena (Erzählungen)“ (40e5–6; vgl. auch 41a3 legontai; c7) einschätzt.

Auch das Programm des Kritias, in dem der Gesprächsführer die Auseinandersetzung zwischen Ur-Athen und Atlantis einlässlich ausbreitet, wird von Kritias selbst – zumindest indirekt – als „Erzählung von mythoi (Geschichten)“ deklariert. Zu Beginn seiner Geschichte erklärt er nämlich den Verlust resp. die Lückenhaftigkeit griechischer Anfangsgeschichten damit, dass „Sagenüberlieferung (mythologia) und gründliche Erforschung der Altertümer (anazētēsis te ton palaiōn meta scholēs)(Krit 110a3–4) erst in höher entwickelten Gemeinwesen Platz fänden, wenn die elementaren Bedürfnisse der Bewohner befriedigt seien. In dieser Junktur scheint Platons Kritias kaum Gewicht auf einen Unterschied zwischen legendärer Tradition und systematischer Erforschung der Frühgeschichte zu legen.30

1b) Die Gruppe der eindeutig negativ konnotierten, dialogreflexiven Belege ist mit neun Stellen relativ schwach bestückt. Negative Färbung ergibt sich im Wesentlichen aus drei Formen ausdrücklich betonter Defizienz des mythos, die auch kombiniert auftreten und daher im Folgenden nicht streng gesondert sind: α) Mangel an Wahrheit (erkenntnistheoretisch). β) Erzähler- oder adressatenbedingter Mangel an Seriosität (generationsspezifisch). γ) Ethisch-religiöse Makel (moralisch/pädagogisch).

Dabei fällt auf, dass sich niemals ein Gesprächsführer mit seiner Autorität von einem Dialog-mythos durch eindeutig abwertende Stellungnahmen distanziert. Indes wird mythos durchaus gelegentlich als Distanzbegriff mit bisweilen vagem Dialogbezug gebraucht, um subjektive Sichtweisen auf im Gespräch Entfaltetes antithetisch voneinander abzugrenzen:

Das bekannteste Beispiel hierfür stammt aus dem Gorgias, wo Sokrates zu Beginn und am Ende seiner abschließenden Erzählung vom Seelengericht im Jenseits die beiden Grundhaltungen gegenüber solchen Geschichten idealtypisch bestimmt: Seinem Hauptkontrahenten Kallikles unterstellt er unwidersprochen die Diffamierung dieser Geschichte, die für Sokrates ein „sehr schöner und wahrer logos“ ist (Gorg 523a1–3), aus dem er im Vertrauen auf seine Wahrheit argumentative Konsequenzen zieht (524a8–b2), als mythos (523a2). In solchem Kontext muss das Wort eine unwahre und unglaubwürdige Geschichte (Märchen, Fabelei, Hirngespinst) meinen, zumal Sokrates bei seiner ringkompositorischen Wiederholung am Ende gar von einem „mythos wie von einer alten Frau (hōsper graos)“ (527a5) spricht, was unserem „Altweibergeschwätz“ oder „Ammenmärchen“ sehr nahe kommt.

Im Anfangsgespräch des Timaios wird die Distanzierung von bestimmten mythoi durch einen erzähltechnischen Kniff aus der Runde der Dialogpartner heraus in ein von einem Sprecher referiertes Gespräch vorverlagert: Kritias erzählt dort einen durch lange – sicherlich von Platon fingierte – Familientradition beglaubigten Gedankenaustausch zwischen Solon und einem ägyptischen Priester über die griechischen Ursprungsgeschichten (Ti 22a5 ta archaiotata) nach: Dabei repräsentiert Solon die „junge“ Mythologie, während das „historische“ Gedächtnis des in Altertümern höchst bewanderten Ägypters bis auf die angeblich viel älteren, im griechischen Bereich verschütteten Berichte von Ur-Athen und Atlantis zurückreicht. Die „ewigen Kinder“ aus Griechenland (22b4–5) haben daher einen verengten Blick selbst auf ihre eigenen mythoi. Der uralte Priester demonstriert dies, indem er anhand der Geschichte (legetai) von dem durch Phaethon ausgelösten Weltenbrand die „märchenhafte Einkleidung“ (mythou schema) von ihrem „wahren Gehalt“ (to de alēthes esti), d.h. ihrem „astronomisch“ erklärbaren Hintergrund, unterscheidet (22c7–d3).31 Etwas später verwirft er die von Solon als Geschichten des Anfangs erzählten Sagen (22b1 mythologein) um Phoroneus, Niobe, Deukalion und Pyrrha sowie die Stammbäume von deren Abkömmlingen (22b2 genealogein) geradezu als „Kindergeschichten“ (23b5 paidōn brachy ti diapherei mythōn). Diese Kritik zielt vor allem auf die Leichtgläubigkeit der naiven Rezipienten, die mit ihrem „kindlich“ eingeschränkten Horizont für solche Erfindungen empfänglich seien, ohne von ihrer „wahren“ und glorreichen Urgeschichte auch nur das Geringste zu ahnen (23b2 ouden eidotes; b8 ouk iste). Sokrates begrüßt Kritias’ Vorschlag, seinen theoretischen Staatsentwurf durch die Bevölkerung von Ur-Athen im folgenden Gespräch zu verlebendigen, als „ausgesprochen situationsangemessen“ (26e4 prepoi malista). Für ihn ist dabei „von sehr großem Gewicht“ (26e5 pammega), dass es sich bei dieser Überlieferung „nicht um einen erfundenen mythos, sondern um einen wahren logos“ (26e4–5 mē plasthenta mython, allalethinon logon) handele. Mythos ist hier wegen seines Wahrheitsdefizits negativ befrachtet, um den Kontrastbegriff, der ja auf eine im landläufigen Sinn mindestens ebenso unglaubwürdige Geschichte angewendet wird, nach außen hin noch positiver zu besetzen und damit eine ironische Spannung beim Leser zu erzeugen.32

Gegen Ende des dritten Buches der Nomoi fordert der Gast aus Athen seine Gesprächspartner auf, die Triftigkeit seiner längeren Ausführungen über die Geschichte Athens und Griechenlands während der Perserkriege für das gesetzgeberische Programm des Dialogs zu überprüfen (Lg 3,699d8 ei ti pros tēn nomothesian proshekonta legomen). Denn seine längere Erzählung erfolge nicht um ihrer selbst willen, sondern solle funktional sein (699d8–e1 ou gar mythōn heneka diexerchomai, hou lego dheneka). Hier wird mythos im Sinne einer detailverliebten Vergangenheitsschilderung als Selbstzweck zum Distanzbegriff.

Bleiben noch zwei Fälle zu berücksichtigen, bei denen Bestandteile des Dialogs mit schlecht beleumundeten mythoi verglichen werden: Anlässlich eines dilemmatischen Dissenses im ersten Teil des Philebos verleiht Sokrates seiner Befürchtung Ausdruck, die bisher gewonnenen Ergebnisse des Gesprächs (logos) drohten „wie ein mythos verloren zu gehen und sich eilends (in Nichts) aufzulösen“ (hōsper mythos apolomenos oichoito) (Phlb 14a3–4). Die Unterredner könnten dann nur noch bei etwas Rettung finden, was nicht logos ist (autoi de sōizoimetha epi tinos alogias) (14a4–5). Hier scheint mythos – genau wie alogia (Ungereimtheit) – mit dem Mangel des Widersprüchlichen, rational nicht Nachvollziehbaren und daher einer gedanklichen Prüfung nicht Standhaltenden behaftet zu sein. Sokrates’ Gesprächspartner Protarchos will dieses Scheitern denn auch um jeden Preis verhindern (14a6) und die „Rettung“ (sōthēnai) unbedingt im logos suchen. Sokrates beteuert daraufhin, sie beide müssten sich – ungeachtet ihrer bislang verfochtenen Ansichten – auf die Seite der Lösung mit dem höchsten Wahrheitsgehalt schlagen (14b6–7 tōi dalēthestatōi dei pou symmachein hēmas amphō).33

Im ersten Buch der Politeia schließlich vergleicht der argumentativ völlig in die Enge getriebene Sophist Thrasymachos die von Sokrates praktizierte Fragemethode böswillig mit „Altweibergerede“ (hōsper tais grausin tais tous mythous legousais), das nur Nicken oder Kopfschütteln als Entgegnung zulasse (Resp 1,350e2–4). Hier verwendet also die scheiternde Gegenfigur zu Sokrates, die diesem schlussendlich in der Tat gegen ihre Überzeugung nur um des lieben Friedens willen alles zugibt (352b3–4), mythos als Distanzbegriff, der das sokratische Philosophieren diskreditieren soll. Dass Platon damit einen polemischen Missbrauch des mythos-Vokabulars durch seine und Sokrates’ Gegner karikiert, liegt auf der Hand.

2a) Zur Gruppe der positiv oder neutral konnotierten Belege mit externer Referenz gehören streng genommen auch die Fälle, in denen Platon den poetischen Sprachgebrauch von mythos im Sinne von „Rede/Äußerung“ durch Zitate poetischer Texte übernimmt. Da diese acht Belege freilich für Platons eigenen Begriff von mythos irrelevant bleiben, weil sie einer historisch und gattungsspezifisch anderen Sprachstufe entlehnt sind – es handelt sich mehrheitlich um Homer-Zitate –, werde ich sie hier ausklammern.34 Bei den verbleibenden 38 Beispielen (davon 36 aus sicher authentischen Werken) sind wiederum die positiven oder neutralen Referenzen klar in der Überzahl, wenngleich nicht mit derart großem Vorsprung wie bei den dialogbezüglichen:

Eine erste, recht spezielle Untergruppe bilden die Bezugnahmen auf „Fabeln“ oder Allegorien im Stile des Aisopos: Ein direkter Verweis auf die Fabel von Fuchs und Löwe als Prätext liegt im Alkibiades 1 vor, wo Sokrates das Fabelelement der nur in eine Richtung weisenden Spuren zur Verdeutlichung des einseitigen Geldflusses nach Sparta verwendet (Alk 1, 123a1–3, bes. a1 kata ton Aisōpou mython). Etwas anders liegt die Sache im Gefängnisszenario zu Beginn des Phaidon. Dort bezieht sich Sokrates zweimal auf die Textklasse der Aisopischen Fabeln: Eben von seinen schmerzhaften Fesseln befreit, improvisiert er einen Kurz-mythos im Stile des Aisopos über die untrennbare Verbundenheit und Interdependenz von Schmerz und wohliger Erleichterung: „Wenn dem Aisopos das widerfahren wäre, hätte er wohl einen mythos (Fabel, Allegorie) darüber verfasst“ (Phd 60b3–c7, bes. c1–2).

Bald darauf bewertet Sokrates metatextuell das Corpus von Aisopos’ Fabeln als „diejenigen mythoi, die ich zur Hand hatte (procheirous) und kannte (ēpistamēn) und von denen ich die erstbesten (hois prōtois enetychon) in Verse umformte (epoiēsa)“ (61b6–7). Damit zieht sich Sokrates einigermaßen spitzfindig aus der Affäre, in die ihn ein hartnäckiges Traumgesicht mit seiner Ermahnung zum „Musendienst“ gestürzt habe, was er schließlich nolens volens als auf die „volkstümliche Musenkunst“ (61a7) der Poesie gemünzt erkannt habe. Nicht ohne Rabulistik bestimmt Sokrates schlicht „Fiktion, nicht aber Realität“ als Gegenstand der Dichtkunst (poiein mythous, all’ ou logous) (61b4–5) und behilft sich, da er selbst kein „Geschichtenerfinder“ (mythologikos) sei (61b5), einfach mit beliebigen mythoi des Aisopos, was umso forcierter wirkt, als Kebes kurz vorher der Fabeln dieses Autors als logoi gedachte (60d1). Die Polysemie von mythos leistet Sokrates also beste Dienste bei seiner Ausflucht, die der aufmerksame Leser aber unschwer als solche enttarnen kann.

Die weiteren extern-referentiellen Belege sind mit der in der Forschung etablierten Einteilung in α) „Traditionelle Sagen(kreise)“ und β) „Erziehungsmythen“ einigermaßen gut vereinbar. Hinzu kommen lediglich noch γ) „Philosophische Mythen“ sowie ein Restbestand nicht spezifizierter Fälle, die ich faute de mieux als δ) „Mythen generell“ klassifizieren werde:

α) Traditionsgut ist die athenische Geschichte vom Raub der Nymphe Oreithyia durch den Wind Boreas, auf die Phaidros und Sokrates im Phaidros kurz anspielen, da sie sich in der Nähe des lauschigen Gesprächsplatzes am Ilissos zugetragen haben soll (Phdr 229b4–c3). Sie dient Sokrates hier aber nur als Aufhänger für ein grundsätzliches Bekenntnis: Von Phaidros mit der Frage konfrontiert, ob er an die Wahrheit dieser Geschichte glaube (229c5 sy touto to mythologēma peithēi alēthes einai?), stellt Sokrates sie in eine Reihe mit Sagen über wunderliche Misch- und Fabelwesen (wie Hippokentauren und Gorgonen) und meint zu diesem gesamten Komplex: Gelassenes Vertrauen in das, was sich als Legende eingebürgert hat (230a2 peithomenos … tōi nomizomenōi peri autōn), sei allemal die bessere Lösung verglichen mit der ebenso zeitraubenden wie fruchtlosen systematischen Mythenallegorese. Geschichten, welche der Seele, der sein ganzes Mühen um „Selbsterkenntnis“ gelte, keinen Schaden zufügen, begegnet Sokrates also mit aufgeklärter Indifferenz.

Zu Beginn der Politeia kommt der hoch betagte Kephalos, von Sokrates nach dem Hauptnutzen seines großen Reichtums befragt (Resp 1,330d1–3), recht unerwartet auf das jenseitige Strafgericht über die Rechtsbrecher zu sprechen, das jemanden, der seinen Wohlstand dafür nütze, niemanden zu übervorteilen und niemandem etwas schuldig zu bleiben, ruhig schlafen lasse, da für solche Leute eher zu Hoffnung als zu Furcht Anlass bestehe (330d4–331b7). Kephalos konstatiert, die Einstellung der Menschen gegenüber den „Sagen, die man vom Totengericht erzählt“ (330d7–8 hoi … legomenoi mythoi peri ton en Haidou), hänge vom Lebensalter ab: Je näher man dem Tod komme, desto nachdenklicher und besorgter stimmten einen Geschichten, die man in jüngeren Jahren als Humbug verlacht habe (330e1 katagelomenoi teos), jetzt aber für möglicherweise doch „wahr“ (330e2 alētheis) erachte. Die Ambivalenz des mythos liegt hier in unterschiedlichen Graden der existenziellen „Betroffenheit“ von seinen Aussagen begründet.

Von anderen altersbedingten Schwankungen im Verhältnis zu mythoi handelt ein theologischer Abschnitt im zehnten Buch der Nomoi. Dort ereifert sich der Gast aus Athen gegen Gottesleugner, die nicht (mehr) an diejenigen Göttererzählungen glaubten (Lg 10,887d2 ou peithomenoi tois mythois), die sie „seit frühester Kindheit mit der Muttermilch einsogen, als sie sie von Ammen und Müttern hörten, als man sie ihnen gleichsam in Zaubersprüchen (hoion en epōidais) mit Scherz und Ernst gewürzt erzählte“ (887d2–5). Für den Athener sind Götter-mythoi jedweder Art, also auch Kindergeschichten, bei all ihrer „magischen“ Psychagogie und ihrem spielerisch-ernsthaften Doppelgesicht wichtige Übermittler des traditionellen Götterglaubens an die jüngere Generation, die ihre Überzeugungskraft freilich mit der Zeit einbüßen können.

Ein speziell homerischer Bezug liegt im zwölften Buch der Nomoi vor, wenn der Athener für seine Normen über den Waffenverlust im Krieg die „(iliadische) Sagenerzählung zu Hilfe nimmt“ (Lg 12,944a2 mythōi dē proschromenoi). In einer hypothetischen Überlegung wandelt er die Handlung der Ilias in einem Punkt ab und stellt sich vor, wie man Patroklos, wenn er lebend, aber ohne Achills Waffen von seinem Treffen mit Hektor zurückgekehrt wäre, mit Vorwürfen begegnet wäre (944a2–8).

Den „traditionellen“ Mythen rechne ich schließlich eine Gruppe von Überlieferungen zu, die im Grenzbereich zwischen Göttersagen, Volksglauben und Pseudohistorie vagieren: Im achten Buch der Politeia vergleicht Sokrates den zum Tyrannen entartenden Staatslenker mit jemandem, der sich nach dem Verzehr von menschlichem Opferfleisch (Vergießen von Bürgerblut) in einen Werwolf verwandelt. Für seine Analogie beruft er sich auf den mythos (Resp 8,565d6) über den Tempel des Zeus Lykaios in Arkadien (565d4–e1), den er auch als logos (565e1) betitelt und der seinem Gesprächspartner durchaus geläufig ist (565e2). In den Nomoi streift der Athener verschiedene, mehr oder minder prominente „alte“ mythoi en passant: Ob er nun die „alte Erzählung“ (palaios mythos) vom „Wahnsinn“ (ouk emphrōn estin) des enthusiasmierten Dichters mit Lizenz zum Selbstwiderspruch einbringt (Lg 4,719c1–d1), um dem Gesetzgeber ebendiese Lizenz zu verweigern (719d1–3), ob er seine Forderung nach gleicher (auch militärischer) Ausbildung von Frauen und Männern auf seine „Überzeugtheit von alten Legenden“ (Lg 7,804e4–5 mythous palaious pepeismai) über amazonengleiche Sauromatiden am Schwarzen Meer stützt, oder ob er den geradezu sprichwörtlichen „Volksglauben“ beschwört (Lg 11,913c1–2 peithesthai … chrē … tois … legomenois mythois), nach dem „Unrecht Gut nicht gedeihe“: Immer steht die argumentative Instrumentalisierung im Vordergrund und bleibt der Wahrheitsgehalt des mythos unhinterfragt.35 Ein Kuriosum beschließe diese Gruppe: In der Epinomis erinnert der Athener als Beispiel für „Einsichten“, mit denen „heutzutage“ kein Staat mehr zu machen sei, an diejenige, die, „wie die Sage weiß“ ([Epin] 975a6 hos ho mythos estin), die Urmenschen so weit zivilisiert habe, dass sie vom Kannibalismus oder überhaupt vom Verzehr anderer Lebewesen (975a5 allēlophagias) Abstand genommen hätten.

β) Eine weit größere Anzahl von Belegen kreist um bewusst pädagogisch verwendete mythoi, solche „Geschichten“ also, die in den Dienst der Erziehung junger Menschen oder speziell der künftigen „Funktionäre“ im Staat gestellt werden.36 Verständlicherweise begegnet dieser Sprachgebrauch vornehmlich in der Politeia und den Nomoi. In geballter Häufung findet er sich gegen Ende des zweiten Buches der Politeia, wo Sokrates mit Adeimantos die „musische“ Erziehung des Standes der „Wächter“ (phylakes) bespricht: Sokrates unterstreicht dabei zunächst die enorme Bedeutung von mythoi (Geschichtenerzählen) als Mittel der frühkindlichen Prägung (Resp 2,377a4–6 mit zwei Belegen für mythoi), deren Charakter bildender Einfluss auf die Kinderseelen (plattein tas psychas … tois mythois) viel größer sei als die physische Einwirkung auf die jungen Körper etwa durch Massage (377c3–4), zumal sich in diesen „unbeschriebenen“ und unkritischen Seelen noch alles festfresse (378d7–e1). Die Geltung solcher Texte schätzt Sokrates ambivalent ein, seien sie doch „aufs Ganze gesehen erlogen/unwahr (pseudos), es steckt aber auch Wahres (alēthē) darin“ (377a5–6).37 Angesichts dieses Zwiespalts mahnt er gerade im sensiblen Bereich der Erziehung eine strenge Zensur an: Da es gefährlich sei, die Kinder „von x-beliebigen Leuten x-beliebige fiktive Geschichten (epitychontas … mythous plasthentas) anhören und in ihre Seelen aufnehmen zu lassen“ (377b5–7), seien die „Autoren von Kindergeschichten“ (377b11 tois mythopoiois) staatlicher Aufsicht zu unterwerfen. Nur eine „Auslese“ guter Geschichten (377c1 kalon … enkriteon) sollten Mütter und Ammen weitererzählen dürfen. Nachdem er die „unschönen Fälschungen/Lügen (mē kalōs pseudētai)“ (377d9) Homers, Hesiods und anderer als erzieherisch ungeeignet verworfen hat (siehe dazu unten b), will er ausschließlich die im Hinblick auf arete (gute Entwicklung, Tüchtigkeit) „schönsten Geschichten und Erzählungen“ (378e2–3 kallista memythologēmena) zulassen. Als Adeimantos die Frage aufwirft, auf welche Geschichten (er meint näherhin: „welche Göttergeschichten“, wie 379a5–6 theologias zeigt) er damit anspiele (378e4–6), gibt sich Sokrates etwas pikiert: „Wir als ‚Staatsgründer‘ brauchen nur die Umrisse/Rahmenvorgaben (typous) zu kennen, an denen sich die Autoren bei ihren Geschichten (mythologein tous poiētas) zu orientieren haben, müssen aber keineswegs selbst Geschichten verfassen (ou mēn autois ge poiēteon mythous)“ (378e7–379a4). An diesem Gedankengang ist vor allem der implizierte Punkt lehrreich, dass Sokrates aus der Tradition offenbar keine für seine idealstaatliche Erziehung passenden Texte zu benennen geneigt ist und von der Notwendigkeit überzeugt bleibt, eine neue Poesie auf der Grundlage seiner Ethik müsse erst Platz greifen. Hier liegt ein metatextueller Verweis auf diejenigen erzählerischen Partien Platons, die man im engeren Sinn als „seine Mythen“ betrachtet und in denen man gern eine „neue Mythologie“ mit „neuer Rhetorik“ am Werke sieht, besonders nahe.

Seine „Richtlinien“ für erzieherisch wertvolle Poesie entwickelt Sokrates denn auch vornehmlich in Abgrenzung von den „traditionellen“ Mythen. Gleichwohl folgt er insoweit Hesiods „lügenden“ Musen (Theogonie 27f.), als er es für die von ihm gewünschten „Sagenerzählungen“ (Resp 2,382c10–d1 mythologiai) nützlich findet, „das Falsche/Erfundene dem Wahren“ möglichst überzeugend „anzugleichen“ (382d2–3 aphomoiountes tōi alēthei to pseudos). In einem intratextuellen Rückverweis auf diese Einlassungen zur „musischen“ Bildung wird Glaukon im siebten Buch der Politeia – mit Sokrates’ beigeisterter Zustimmung – zwar „sagenhafte/legendäre“ (Resp 7,522a7 mythōdeis) logoi von solchen „mit höherem Wahrheitsgehalt“ (522a8 alēthinōtheroi) unterscheiden, doch sieht er in beiden gleichberechtigte Methoden „musischer“ Instruktion, die auf „Harmonie“ und nicht auf „Wissensvermittlung“ abziele (522a3–b1).

Den von ihm im zweiten Buch erwähnten „Umrissen“ verleiht Sokrates im dritten Buch der Politeia noch mehr Kontur: Er will für „Gesang und Geschichten“ (Resp 3,392b5–6 aidein te kai mythologein) nur moralisch einwandfreie Inhalte zulassen, in denen Gerechtigkeit belohnt, Unrecht hingegen bestraft wird (392a13–b6). Im Resümee des großen Abschnitts über die „musische“ Ausbildung der „Wächter“ gibt Sokrates dann ausdrücklich dem „trockeneren/strengeren und weniger gefälligen Dichter/Autor und Geschichtenerzähler“ (Resp 3,398a8–b1 tōi austēroterōi kai aēdesterōi poiētēi chrōimetha kai mythologōi) den Vorzug vor dem vielseitigen Genie poetischer Nachahmung, da ersterer für den Zweck der Schulung soldatischer „Wächter“ nützlicher sei (398b1 ōphelias heneka).38

Erzieherisch wertvolle mythoi werden auch in den Nomoi thematisiert: Als Paradebeispiel für ein durch beste Wirkungen und größten Nutzen für die Stadt gerechtfertigtes Belügen der Jugend (Lg 2,663d8–9 ep’agathōi pseudesthai pros tous neous … pseudos lysitelesteron) nennt der Athener „die Geschichte vom Mann aus Sidon“ (663e5 tou Sidōniou mythologēma), die spielend Überzeugungsmacht gewonnen habe, so unglaubwürdig (663e6 houtōs apithanon on) sie im Grunde sei. Er hat dabei, wie er auf Nachfrage erläutert, die Sage von der Entstehung der Ur-Thebaner aus den von Kadmos gesäten Drachenzähnen im Sinn (663e8–9). Diese Form von Identitätsstiftung, die stark an die „edle Lüge“ der Politeia erinnert (siehe dazu oben), solle der Gesetzgeber als methodisches Vorbild für die manipulative Schaffung einer dem Staatswohl verpflichteten Einheitstradition nutzen, die in „Gesängen, Geschichten/Sagen und Reden“ (664a6–7 en te ōidais kai mythois kai logois) propagiert werden solle.39 Das Trikolon der Erziehungsmedien stellt klar, dass die mythoi hier im Rahmen der „musischen“ Unterweisung im Schönen und Guten (nicht aber unbedingt Wahren!) angesiedelt und, wie der Athener kurz darauf präzisiert, über sechzig Jahre alten, göttlich inspirierten „Geschichtenerzählern“ (664d3 mythologous) anvertraut werden sollen, da diese zur Mitwirkung an den altersspezifisch gestaffelten Chören schon zu schwach seien. Der Zweck des gemeinen Besten scheint hier auch den Einsatz „trügerischer“ Mittel durchaus zu heiligen.

γ) Als „Philosophische mythoi“ klassifiziere ich die wenigen Belege, in denen philosophische Texte oder Theorien mit mythos-Vokabular bedacht werden. Im Rahmen der Schriftkritik des Phaidros relativiert die Titelfigur Sokrates’ Vergleich der Hege und Pflege schriftstellerischer „Gärtchen“ und „Erinnerungshilfen“ mit feuchtfröhlichen Partys: Für ihn sei philosophisches Schreiben über ethische Themen „ein wunderschönes Spiel …, das jemand mit Reden/Aussagen (logoi) treiben kann, indem er über Gerechtigkeit und die anderen von dir erwähnten Themen Geschichten erzählt (mythologounta)(Phdr 276e1–3). Mythoi und logoi werden hier zu gleichberechtigt koordinierten Bestandteilen philosophischer Schriftstellerei. Dies ist ganz allgemein gesagt, doch wahrscheinlich nicht ohne selbstreferentiellen Nebensinn von Platon so formuliert.

δ) In der Kategorie „Mythen generell“ fasse ich die Fälle zusammen, die ein unspezifisches und kontextuell nicht vertieftes Verständnis von mythos zum Ausdruck bringen. Da diese Gruppe für unsere Leitfrage wenig ergiebig ist, seien die Stellen – eher der Vollständigkeit halber – kurz aufgelistet: „Dichterische Fiktion (allgemein)“ wird als mythologia bezeichnet in Hipp Ma 298a4 (wo sie Sokrates in einer Reihe von schönen, weil akustisch angenehmen Dingen aufzählt), Phdr 243a4 (wo Sokrates anhand des Beispiels von Stesichoros belegt, dass Dichtern bei Verfehlungen gegen Götter eine Reinigung gewährt werde) und Resp 3,394b9–c1 (wo Sokrates, der Resp 3,392d2 auch mythologoi und poiētai gleichbedeutend verwendet, sie als Synonym zu poiēsis in mimetisch und nicht-mimetisch unterteilt); auf „homerische Dichtung“ im Speziellen verweist mythologia in Lg 3,680d3 (Megillos über den „ionischen“ Charakter dieser Werke, die aber auch für Sparta wichtig seien); mythos selbst heißt „Dichtung“ in Resp 3,398b7 (wo Sokrates mythoi abschließend in Verbindung mit logoi als Elemente der mousikē benennt), „Märchen“ in Lg 8,841c6 (wo der Athener en mythoi auf seine Darstellung eines wünschenswerten, aber vielleicht phantastischen Zustands bezieht), und „Darlegung/Erläuterung“ in Lg 6,771c7, wo der Athener über eine Detailfrage, die er sich ersparen will, meint: „In aller Ruhe (besprochen) (kata scholēn), wäre es keine große Sache, das zu erklären (ouk an polys epideixeien mythos)“.

2b) Mit 20 Belegen ist die negative Tendenz bei Fremdreferenz deutlich stärker ausgeprägt als bei Dialogbezug. Die vier Schattierungen von Defiziten (siehe dazu oben 1b) sind auch hier selten in Reinform nachweisbar:

Die Mehrzahl der Beispiele dieses Blocks entstammt begreiflicherweise der Zensur bestimmter Dichtungen im zweiten Buch der Politeia: Die Kriterien für seine Indizierung von epistemologisch, moralisch und/oder theologisch bedenklichen Texten will Sokrates anhand der „größeren Geschichten“ entwickeln, an denen man dann auch die Prinzipien für die „kleineren“ ablesen könne (Resp 2,377c7–8 en tois meizosin … mythois opsometha kai tous elattous). Mit den „umfänglicheren mythoi“ meint Sokrates erklärtermaßen vornehmlich die Gedichte Homers und Hesiods, die er als „lügnerische/unwahre Geschichten“ (377d5–6 mythous pseudeis) geißelt. Als verderblich für den bedingungslosen Zusammenhalt der „Wächter“ verwirft er im Einzelnen „unwahre“ (378c1) Geschichten über Zwistigkeiten, Krieg und Schlachten unter Göttern wie etwa in Gigantomachien (378c3–4 pollou dei gigantomachias te mythologēteon autois). Für die religiöse Überwölbung seiner staatlichen Ordnung durch das Bild guter, gerechter und wahrhaftiger Götter ist Sokrates zufolge entscheidend, dass jede Art von Geschichten (380c2 mythologounta) –ob poetisch oder prosaisch – verboten wird, in denen ein Gott als Ursache von Übel dargestellt werde, das gute Menschen treffe, wie es etwa in Tragödien oft der Fall sei (380b6–c3). Dies sei nämlich nicht nur jugendgefährdend, sondern selbst für Erwachsene schädlich (380c1). Ähnliches gelte von „Lügenmärchen“ über missratene Söhne von Göttern, die Raubzüge und andere Schandtaten verübt haben sollen (3,391c8–392a1): „Mit solchen Geschichten muss es ein Ende haben“ (391e12 pausteon tous toioutous mythous). Mütter will Sokrates davor warnen, ihre Kinder durch „schlechte“ und erlogene mythoi (Geistergeschichten) von nachts herumspukenden Göttern einzuschüchtern (2,381e1–6, bes. 3 legousai tous mythous kakōs). Damit begingen sie Gotteslästerung und zögen sich Feiglinge heran. Um kampflustige, ja todesmutige Bürger zu erhalten, müsse die Stadt überdies solche Jenseitsgeschichten vom „schrecklichen Hades“ zensieren, die geeignet sind, die Furcht vor dem Sterben zu befördern (3,386b8–9 dei … epistatein kai peri toutōn tōn mythōn tois epicheirousin legein). Sokrates’ Zensur wirkt in abgemildeter Form beim Athener der Nomoi weiter: Im ersten Buch rügt er die „Legende“ (Lg 1,636c7 und d3 mython; d5 mythou) von Ganymeds Entführung durch Zeus als „kretische Erfindung“ (636d1 hōs logopoiēsantōn toutōn) zur göttlichen Autorisierung eigener päderastischer Vergnügungen (636d4). Im zwölften Buch wettert er gegen „taktlos faselnde Geschichtenerzähler“ (Lg 12,941b5 mythologōn plēmmelōn), denen niemand ihre Betrügereien über Göttersöhne, die Diebstahl und Raub begehen, glauben solle. Entscheidend scheint mir bei dieser gesamten Gruppe zu sein, dass das Distanz gebietende Moment für Platon nicht in Wesen oder Form des mythos als Darstellungsweise liegt, sondern einzig in der Vereinnahmung dieser verführerischen Form der Fiktion für ethisch anfechtbare Inhalte.

Auch „philosophische Mythen“ werden bisweilen mit negativen Vorzeichen versehen: Im Sophistes tut der Gast aus Elea vorsokratische Seinstheorien namentlich auch der eleatischen Schule in sarkastischer Ironie als „Kindergeschichten“ ab (Soph 242c8–9 mython tina hekastos phainetai moi dihēgeisthai paisin hōs ousin hemin; d7 tois mythois). Seine Kritik zielt auf die Widersprüchlichkeit und die mangelnde Dialogizität der ohne Rücksicht auf das Verständnis der Rezipienten vorgetragenen Ansichten der Eleaten (243a7–b1). Im Theaitetos legt Sokrates den berühmten homo-mensura-Satz des Protagoras im Sinne einer Identifizierung von Wahrnehmung und Erkenntnis aus. Nachdem er diese Gleichsetzung in einem ersten Gesprächszug ad absurdum geführt hat, rekapituliert er: „Und so ist der mythos von Protagoras zerstört/vernichtet (apōleto)(Tht 164d9). Die anfällige These hat also vor der sokratischen Fragemethode nicht bestehen können. Doch Sokrates reißt das Ruder wieder herum. Da Protagoras als „Vater des Spruches“ (164e2–3 pater tou … mythou) nicht mehr am Leben sei, erklärt sich Sokrates selbst bereit, anstelle der „legitimen Vormünder“ dem mythos nunmehr „um der Gerechtigkeit willen hilfreich beizustehen (164e7 boēthein)“. Der mythos wird hier also – unter Verwendung von Chiffren für das dialektische Verfahren – zum „Waisenkind“ personalisiert, das allen möglichen Anfechtungen ausgesetzt sei und daher argumentativen Schutzes bedürfe.

Weniger spezifisch verwendete Belege rekurrieren zumeist auf das Wahrheitsdefizit von mythos: Im Hippias Maior wird die Titelfigur von Sokrates als „Märchenonkel“ ironisiert, bei dem die Spartaner wie Kinder bei alten Frauen Zerstreuung durch „lustige Geschichten“ suchten (Hipp Ma 286a2 pros to hēdeōs mythologēsai). Im Schlussteil des Politikos grenzt der Gast aus Elea das – offenbar epistemologisch defiziente – „Geschichtenerzählen“ (Plt 304d1 dia mythologias) als Methode der Beeinflussung großer Massen von „(echter) Belehrung“ (304d1–2 dia didachēs) ab, ordnet aber beide der auf irrationales Überzeugen bauenden Rhetorik zu.40 Gelegentlich bezieht Platon mythos – gewissermaßen im Vorgriff auf Aristoteles’ Poetik – auf die Gestaltung kritisch beäugter tragischer Plots: Im Kratylos siedelt Sokrates die „geschmeidiger, göttlicher Wahrheit“ entgegengesetzte „unwahre/verlogene Rede“ (Krat 408c2–3 logos … pseudēs) im „borstigen und böckischen“ (408c7 trachy kai tragikon) Menschenleben an. Das ist für ihn „das Leben der Bocksgesänge“ (408c9 tragikon bion), in deren „unheimlicher Vielzahl von Geschichten“ es von Lügen wimmle (408c8 pleistoi hoi mythoi te kai ta pseude). Im – kaum authentischen – Minos entlarvt Sokrates denn auch die Sage von Minos’ Grausamkeit und Ungerechtigkeit als „attische Tragikererfindung“ ([Min] 318d11 Attikon … legeis mython kai tragikon). Die Lobeshymnen, die Homer und Hesiod auf Minos anstimmten, seien hingegen „glaubwürdiger als alle Tragödienschreiber zusammen“ (318e2–4).

In erster Linie moralisch anstößig erscheinen diejenigen mythoi, die der Eleate in seinem eigenen Mythos über das Kronoszeitalter als Gegenstände verbreiteter Überlieferung erwähnt: Wenn man unter Kronos, so meint er sinngemäß, ganz dem Genussleben erlegen wäre und sich und die Tiere „mit solchen (liederlichen) Geschichten unterhalten hätte, wie man sie jetzt noch über diese Epoche erzählt“ (Plt 272c6–8 ei … dielegonto … mythous hoioi … kai ta nyn peri autōn legontai), dann wäre es um das Glück dieser Epoche schlecht bestellt gewesen!

Platon als Mythologe

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