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V. Platon

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Zunächst sei kurz auf den Mythos von der Erschaffung des Menschen hingewiesen, den Platon den Sophisten Protagoras im gleichnamigen Dialog gleichsam als Illustration seiner Kulturentstehungstheorie vortragen lässt.53 Erzählt wird ein Märchen, das mit eben jenem „Es war einmal“ beginnt (ἦν γάρ ποτε χρόνος). In diesem Mythos wird berichtet, wie Götter aus Erde und Feuer die sterblichen Gattungen formten. Prometheus und Epimetheus sollen dann den sterblichen Gattungen ihre Fähigkeiten zuteilen. Es ist nun bemerkenswert, dass in diesem Mythos bei der Beschreibung der Tätigkeit der unsterblichen Handwerker die gleiche Tempusmischung zu beobachten ist, die wir schon im Apollon-Hymnus und bei Hesiod fanden. Tempora der Vergangenheit und der Gegenwart werden nebeneinander gebraucht, ohne dass von vergangenem oder gegenwärtigem Geschehen erzählt würde. Das Geschehen spielt vielmehr insgesamt in der Vergangenheit. Das Präsens, in dem die Götter überraschend die Menschen aus Erde formen (τνποσιν) und in dem sie Feuer und Erde dazumischen, wird von Interpreten mit Vergangenheit wiedergegeben.54 Jedoch mit Blick auf den mythischen Gehalt haben wir es auch hier mit der offenbar jetzt traditionellen Ausdrucksweise für die Unzeitlichkeit mythischen Göttergeschehens zu tun. Das Herstellen der Menschen durch Götter ist eine ebenso einmalige, wie den Göttern wesensgemäße und deshalb immer währende Handlung. Es gilt hier das Gleiche wie das, was wir beim Auftreten von Hesiods Musen oder beim Eintritt Apollons auf dem Olymp feststellten. Signal ist hier wie dort eine scheinbar inkonsequente Tempusmischung.

Einmaligkeit und oder überzeitliche Dauer: Dies ist Thema von Hölderlins Gedicht, von dieser Frage ging Tyndares aus, diese Frage begleitete uns über Euripides bis zu Hesiod und den homerischen Hymnen und begegnet uns wieder bei Platons Protagoras-Mythos. Sie begegnet uns aber vor allem an jener Stelle des platonischen Œuvres wieder, auf die Tyndares selbst rekurriert: im großen Monolog, den Platon Timaios über die Weltentstehung halten lässt. Timaios’ Bemerkungen in dem Teil, der als Proömium seines kosmologischen Mythos bezeichnet wird (Ti 28b), waren Anlass zu der nicht nur in der Antike, sondern auch im Mittelalter, in der Renaissance und in der Neuzeit leidenschaftlich diskutierten Frage, ob die ausdrücklich als Mythos bezeichnete Kosmogonie Platons als zeitlicher oder zumindest einmaliger Vorgang zu verstehen oder aber ob die Darstellung als ein nur bildhafter Audruck für ein immer währendes Schöpfungsgeschehen, eine creatio continua oder perpetua anzusehen ist.55

Problem und Kontext wirken vertraut. Ausdrücklich werden wir in den Bereich des Mythos verwiesen, genauer auf eine Kosmogonie wie schon bei Hesiod56; wie in den homerischen Hymnen treffen wir mit dem Demiurgen und den weiteren Göttern auf Wesen, deren Aktionsweise eben jene Frage aufwirft, welche uns auch zuvor schon beschäftigt hat: Ist ihre Handlung einmalig oder Ausdruck immer währenden, weil wesensgemäßen Geschehens? Man erinnert sich an Hesiods singende Musen, man erinnert sich an Apollons ersten Auftritt im Olymp. Nun hat kürzlich Matthias Baltes in einem erhellenden Aufsatz gezeigt, dass die narrative Gestaltung der Kosmogonie unter dem Gesichtspunkt einer zeitlichen oder einmaligen Schöpfung schlechthin als chaotisch angesehen werden muss.57 Schon dies spricht gegen die Annahme, nach Platon sei die Welt in einem zeitlichen oder zumindest einmaligen Akt entstanden. Mit Blick auf die bisherigen Erörterungen kann man einen Schritt weiter gehen. Denn der unter historisch logischer Betrachtungsweise chaotisch anmutende Schöpfungsablauf erinnert uns an Hesiods Theogonie-Proömium. Auch dort hatte die historisch-zeitliche Analyse zu Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten im Verhalten der Musen geführt. Dort hatten jedoch „Praesens divinum“ und Tempusmischung signalisiert, dass die Darstellungsweise unter dem Gesichtspunkt der mythischen Zeit ihren paradoxen Charakter verliert. Es ist nun interessant, dass uns eben jenes Signal der „Tempusmischung“ mit „Praesens divinum“ auch an einer entscheidenden und viel diskutierten Stelle des Timaios begegnet.

An jener Stelle nämlich, an welcher Timaios von der Weltentstehung spricht und die Anlass zu beständigem Streit gibt, stoßen wir auf eben jene Art von Tempusmischung, die wir auch in anderen mythischen Kontexten als Ausdruck für mythische Unzeitlichkeit werteten. Dass die Welt nämlich entstanden ist, wird im Perfekt gesagt (γέγονεν)58, doch finden sich im Kontext zahlreiche Praesentia, verbunden freilich mit Aoristformen.59 Es ist diese Mischung, welche den Interpreten Argumente für die „Einmaligkeits“- oder die Dauerthese liefert, je nach dem, auf welche Bestandteile der Mischung man sich beruft: jene Situation also, die wir bei der Auseinandersetzung mit dem Beginn des Apollon-Hymnus antrafen. Wir glaubten hingegen, aus den bisherigen Beobachtungen den Schluss ziehen zu sollen, dass jenes „entweder-oder“ die Aussageintention der Tempusmischung gerade verfehlt, dass die Mischung selbst vielmehr Signal für mythische Zeit ist. Hier wie dort soll jenes Praesens, das wir divinum nennen wollten, zusammen mit Hinweisen auf Vergangenheit Unzeitlichkeit ankündigen. Salustios’ „Dies geschah nie, ist aber immer“, gilt auch für die Schöpfungsgeschichte des Timaios: Wie Götter in ihrer Handlung ihre immer währenden Merkmale in erzählter Zeitlichkeit entfalten, so gilt das auch für den Demiurgen, der überzeitlich existiert und seinem guten Wesen gemäß die Welt überzeitlich, d.h. in einem immer währenden Prozess schafft: Der Kosmos ist ein γιγνόμενον im Sinne eines immer Werdenden. Genau so versteht dies im 5. Jh. n. Chr. der große Platon-Kommentator Proklos, wenn er den Kosmos des Timaios als ein „immer Werdendes und zugleich Gewordenes“ bezeichnet.60 Der Kosmos ist geworden, insofern er beständig wird, und er besteht, insofern er geworden ist.61 Und Proklos sah auch, dass die zeitliche Entfaltung eines überzeitlichen Prozesses in ein „war, ist, wird sein“ die Folge der narrativen Struktur des Mythos ist: „denn der Gott lässt die Teile und das Ganze mit einem Mal entstehen“ – „immer wieder“ sollten wir hinzufügen –, „die Darstellung hingegen“, so Proklos weiter, „zerlegt das, was zusammen entstanden ist“.62 Nicht nur inhaltlicher Kontext – mythische Kosmogonie und Götterhandlung –, sondern auch sprachliche Gestaltung und die daraus resultierende Problematik gleichen dem, was in den Hymnen und bei Hesiod festzustellen war. Deshalb liegt es nahe, die gleiche Schlussfolgerung zu ziehen. Dass nach Platon die historische Zeit im Sinne eines „vorher“ und „nachher“ vom Bereich des Göttlichen ausgeschlossen ist, bestätigt unsere Annahme.63 Folglich ist Zeit im vorkosmischen Zustand nicht gegeben und damit an eine Schöpfung im zeitlichen Sinn gar nicht zu denken: Das scheinbar historische Nacheinander in der Timaios-Kosmogonie wie in Hesiods Theogonie-Proömium ist Resultat allein des Umstandes, dass Mythos immer Erzählung ist. Wie für die anderen Stellen, die wir behandelten, gilt für den Timaios: Die Frage nach Einmaligkeit oder unzeitlicher Dauer ist falsch gestellt, weil Folge einer historischen, d.h. unmythischen Betrachtungsweise: Der paradoxe Charakter wird nur dann gemieden, wenn das ‚oder‘ nicht als ausschließliches aut, sondern als verbindendes vel verstanden wird. Auch an dieser für die europäische Geistesgeschichte zentralen Stelle begegnen wir also unserem „Praesens divinum“ und können und sollen es für die Interpretation nutzbar machen. Akzeptiert man die Notwendigkeit, eine neue grammatische Kategorie einzuführen, dann – so glaube ich – verhilft dies zu einem besseren Verständnis.

Platon als Mythologe

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