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IV. Tempusmischung in mythischem Kontext

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Zunächst sei der Anfang des homerischen Apollon-Hymnus herausgegriffen. Der Hymnus beginnt mit einer Begrüßungsszene, welche die machtvoll erschreckende Wirkung des Gottes beim Eintritt in die Götterversammlung schildert. Die anderen Götter zittern, als sie ihn nahen sehen, springen von den Sesseln auf, weniger aus Respekt als aus Furcht vor dem wilden Auftritt des Gottes, der zudem seinen Bogen spannt. Kontrastierender Ruhepol hingegen sind Zeus, der ihm einen Becher mit Nektar reicht, und seine Mutter. Leto bleibt sitzen, nimmt den Bogen, entspannt ihn, hängt ihn auf und – wie es heißt – freut sich an ihrem Sohn.38 Diese Szene hat in inhaltlicher und in formaler Hinsicht Diskussionen ausgelöst.39 Die unmotivierte Wildheit von Apollons Auftritt hat die Interpreten irritiert und zu Streit darüber geführt, ob es sich bei diesem ‚Auftritt‘ um die Schilderung des ersten Auftretens des Gottes im Olymp oder um ein für Apoll typisches „erstes Auftreten“ handelt, das zu seinem Wesen gehört und sich immer wiederholt. Obgleich Ersteres nahe liegend scheint, irritiert doch der merkwürdige Tempusgebrauch an dieser Stelle, eine seltsame Mischung aus Imperfekt, Aoristen und Präsensformen: Die Götter zittern und springen auf im Präsens, sie sitzen im Imperfekt, Apoll wird im Aorist entwaffnet. Schließlich setzen sich die Götter wieder im Präsens, und auch Leto freut sich über ihren Sohn im Präsens. Die Interpreten, die hier ein einmaliges Ereignis erkennen, deuten die Präsensformen oft als historische Praesentia. Jedoch, wie sie bisweilen einräumen: Die Sprache Homers erlaubt die Anwendung der Kategorie Praesens historicum eigentlich nicht.40

Wendet man sich also der anderen Alternative „typische Szene“ zu, dann hat man Probleme mit dem Imperfekt (μίμνε, Vers 5) und vor allem den augmentierten Aoristen, die Vergangenheit und Einmaligkeit zu signalisieren scheinen. Weil man dies als ungereimt empfand, musste sich der Beginn des Apollon-Hymnus vielfach Tadel gefallen lassen.41 Freilich ist der Beginn des Apollon-Hymnus mit seiner Tempusmischung nicht allein. Auch in anderen homerischen Hymnen kann man Entsprechendes beobachten, insbesondere wenn es um Verhaltensweisen von Göttern geht, die ihren wesenhaften Merkmalen entsprechen. Es kann hier nur auf den Pan-Hymnus oder auf den Dioskuren-Hymnus hingewiesen werden.42

Besonders bemerkenswert ist, dass wir Entsprechendes auch bei Hesiod beobachten können. An zentraler Stelle seiner Theogonie, im Proömium, begegnen wir nämlich eben jener Tempusmischung wieder, die uns im Apollon-Hymnus so irritierte: Im Präsens schildert Hesiod das Jagen und Tanzen der Musen auf dem Helikon (1–4). Ihr Tanz auf dem Gipfel findet im Aorist statt, ihr nächtlicher Marsch erfolgt im Imperfekt, die Dichterweihe Hesiods selbst im Aorist (22–34), die Beschreibung ihres ewigen Gesanges und die Darstellung der erfreulichen Effekte ihres Tuns wieder im Präsens (35–52). Ihre Geburt wird in Vergangenheitstempora geschildert (53–62), ihre Tätigkeiten im Präsens, dann wieder in Vergangenheitstempora (67–76).43 Rechnet man logisch nach, so werden verschiedene Zeitstufen geschildert – Geburt – Eintritt in den Olymp – Treffen mit Hesiod – ewige und charakteristische Tätigkeit sowohl auf dem Helikon als auch auf dem Olymp. Versuche, historisch nachrechnend die Tempora auf verschiedene Phasen aufzuteilen, sind misslungen. Vielmehr gilt hier offenbar, was schon im Apollon-Hymnus zu beobachten und auch bei den Stellen der Tragödien angenommen worden war: Offenbar ist es unangebracht, einzelne Tempora herauszugreifen. Es ist die Mischung selbst, die es für die Auslegung fruchtbar zu machen gilt. Blicken wir auf den Kontext, so liegt die Vermutung nahe: Die Tempusmischung als solche steht für das, was wir oben als mythische Zeit bezeichneten. Sie signalisiert, dass im Bereich mythischer Zeit ein Nebeneinander ist, was zeitlich-historische Betrachtungsweise als Nacheinander wertet: Geburt der Musen, ihre erste Epiphanie, ihre Aufnahme in den Olymp, ihr Gesang, die Weihe Hesiods. Denn alles wird vorgeführt als Manifestation ihres Wesens.44 So gesehen weist die Tempusmischung also auf jene unzeitlich-mythische Betrachtungsweise, bei der auch der Ausdruck ἀειγενέται seinen paradoxen Charakter verliert. Insofern ist es berechtigt, wenn Marg das Proömium der Theogonie zur Gänze im Deutschen mit Gegenwart übersetzt und davor warnt, rationalistisch zu interpretieren und Inkonsequenzen im Tempusgebrauch zu konstatieren.45 Doch ist dabei im Gedächtnis zu behalten, dass es sich recht eigentlich eben nicht um eine Gegenwart im zeitlichen Sinne, sondern um den Versuch des Dichters handelt, die den Göttern angemessene Überzeitlichkeit auszudrücken. Um den Ausdruck des Salustios zu wiederholen: „Solche Geschichten sind nicht geschehen, sie sind immer“. Martin West hat in seinem Theogonie-Kommentar für die Aoriste und für die Imperfekte ‚Zeitlosigkeit‘ postuliert, zugleich aber zugegeben, dass dies von keiner bisher bekannten grammatischen Kategorie gedeckt wird.46 In der Tat ist zu konstatieren, dass das Griechische offenbar über keine eigene Form verfügt, das, was mythische Zeit genannt wird, aber im Grunde eine Unzeitlichkeit meint, auszudrücken.

Hat also das Griechische eine solche Möglichkeit nicht und muss es deshalb offenbar zu einer Hilfskonstruktion greifen, so sei hier wenigstens der Hinweis erlaubt, dass auf der ältesten bezeugten Sprachstufe des Altindischen, der Hymnensammlung des Rgveda, in mythologischem Kontext ebenfalls eine mythische Zeitstufe ausgedrückt wird, dass aber dort noch eine eigene Kategorie zur Verfügung steht, der Modus des sogenannten Injunktivs, dem Karl Hoffmann eine wichtige Arbeit gewidmet hat.47 Denn Hoffmanns Analyse des Modus ‚Injunktiv‘ im Hymnenwerk des Rgveda ergibt eine Funktionsbeschreibung, die genau dem entspricht, was wir für die mythische Zeit postulierten, wofür im Griechischen aber entsprechende Forma offenbar fehlte. Demnach zeigen „Alle Gebrauchsweisen des Injunktivs ein gemeinsames Charakteristikum: sie haben mit der Bezeichnung von Zeitstufen nichts zu tun … /…/Ein Eigenwert des Injunktivs besteht … in seiner Zeitstufenlosigkeit“ und weiter: „Der generelle Injunktiv Praesens dient häufig zur Beschreibung allgemeiner Eigenschaften und Tätigkeiten von Gottheiten“48. Eben dies hatten wir für die irritierende Darstellungsweise im Apollon-Hymnus, in Hesiods Theogonie, aber auch für Praesentia in der Tragödie vermutet. In der Tat scheint der Injunktiv zum Ausdruck allgemeiner Sachverhalte wie zeitlos gültiger Mythen zu dienen. Mit Blick auf unser erstes Beispiel aus Euripides’ Bakchen ist unter den zahlreichen Beispielen, die Hoffmann auflistet, eines von besonderem Interesse. So heißt es von Gott Agni: „Dieser wird geboren in den Händen des Menschen“ (Übersetzung Hoffmann), wobei das „wird geboren“ nicht durch das Präsens, sondern mit dem Injunktiv Präsens ausgedrückt wird.49 Wir erinnern uns an unser τίκτει ποθ’ aus dem Bakchen-Proömium und erkennen die Übereinstimmung in inhaltlicher Aussage: Es geht um Göttergeburt, die in beiden Fällen in mythische Unzeitlichkeit transponiert werden soll. Im Rgveda kann dies noch mit einer eigenen Form ausgedrückt werden, die sich zudem durch eine Verbindung von Präsensstamm und sekundärer Endung auszeichnet. Im Griechischen steht eine solche nicht mehr zur Verfügung. Geblieben aber ist offenbar der Wunsch, diese Besonderheit göttlicher Existenz auszudrücken. Deshalb werden andere Ausdrucksmöglichkeiten gesucht. Martin West hat versucht, einen solchen Bezug herzustellen, und schlägt vor, in Imperfecta wie dem μίμνε, – es findet sich z.B. an unserer Stelle des Apollon-Hymnus – mit ihrer Verbindung von Präsensstamm und sekundärer Endung sowie in „zeitlosen Aoristen“ Relikte des alten Injunktivs zu sehen.50 Allerdings scheint der Hinweis auf die Aoriste wegen ihrer Augmentierung nicht unproblematisch. Jedenfalls ist auch zu erwägen, in der beobachteten Tempusmischung, der Verbindung eines als zeitlos geltenden Präsens mit Vergangenheitstempora oder anderen Vergangenheitssignalen wie Zeitadverbien den Versuch zu sehen, jene Ausdrucksform zu ersetzen, die früheren Zeiten noch zur Verfügung stand. Da der hierbei zu beobachtende Präsensgebrauch durch die geläufigen Kategorien der Grammatik nicht gedeckt scheint, darf man zur Bezeichnung dieses Phänomens vielleicht eine Anleihe bei den Neutestamentlern machen. Diese haben für den Brauch, von Gott nur in passiver Umschreibung zu sprechen: „denn sie sollen getröstet werden“ für „Gott wird sie trösten“ den Ausdruck Passivum divinum geprägt.51 Man sollte erwägen, jenes Präsens, das nicht historisch analysierendem Denken, sondern in Verbindung mit Vergangenheitssignalen mythischer Zeitlosigkeit Ausdruck zu verleihen versucht, als „Praesens divinum“ zu bezeichnen. Es signalisiert jene Zeitlosigkeit mythischen Geschehens, in welcher die Einmaligkeit der erzählten mythischen Handlung mit der immer währenden Beständigkeit jener Merkmale zusammenfällt, welche in der Handlung erst entfaltet werden, und verweist damit auf göttlichen Status. Die große Selbstoffenbarungsrede Jesu im Johannesevangelium kann dies trotz aller Unterschiede ein wenig illustrieren.52 Sie gipfelt im Anspruch, Abraham noch zu übertreffen, und mündet in den Ausruf Jesu: Wahrlich, ich sage euch: Ehe Abraham ward, bin ich: πρὶν ’Αβραὰμ γενέσθαι, ἐγὼ εἰμί. Hier ist nicht nur der Präsensgebrauch, sondern auch die Reaktion des Publikums interessant: Denn, wie wir hören, hoben die Zuhörer Steine auf, um nach Jesus zu werfen. Denn Jesus hat Gott gelästert, womit offenbar der Anspruch auf unzeitliche Existenzweise gemeint ist, ausgedrückt in einem Präsens, das Jesu Zuhörer offenbar sofort als Merkmal göttlicher Existenz registrieren und das mir mit unserem Praesens divinum vergleichbar scheint. Eine Suche nach entsprechenden Stellen auch im Griechischen ist offenbar lohnend und kann der Interpretation mythologischer Texte dienen. Hierzu könnte z.B. das Lehrgedicht des Parmenides gehören, hierzu gehören aber auch die Mythen, die Platon in seinen Dialogen bietet. Sie zeigen, dass die Ausdrucksform des „Praesens divinum“ zur Gestaltung von Mythen gehört und ebenfalls nicht mit gängigen grammatischen Kategorien wie registrierendem Präsens zu fassen sind. Wir kehren damit zu jenem Autor zurück, auf den sich Tyndares bei seiner Rechtfertigung der Göttergeburt berief.

Platon als Mythologe

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