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PRAESENS DIVINUM. MYTHISCHE UND HISTORISCHE ZEIT IN DER GRIECHISCHEN LITERATUR*

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Michael Erler

Hölderlins Gedicht Das Ahnenbild1 setzt mit folgender Strophe ein.

Alter Vater! Du blickst immer, wie ehmals, noch,

Da du gerne gelebt unter den Sterblichen,

Aber ruhiger nur, und

Wie die Seligen, heiterer

In die Wohnung, wo dich, Vater! das Söhnlein nennt, …

Angesprochen wird das Familienoberhaupt, der Ahn. Obgleich verstorben, fühlt die Familie seinen Blick auf sich ruhen, ist er seinem Sohn und den Verwandten gegenwärtig. In den folgenden Strophen werden Wohnung und Garten, Weinberg, wachende Mutter, spielendes Kind und tätiger Vater geschildert, und schließlich gelangt der Dichter zum gemeinsamen Mahl, bei dem Vergangenes und Zukünftiges zur Sprache kommen:

Und es tönen zum Dank hell die Kristalle dir;

Und die Mutter, sie reicht, heute zum erstenmal,

Daß es wisse vom Feste,

Auch dem Kinde von deinem Trank.

Damit schließt Hölderlins Gedicht. Anfang und Ende lassen den Ahn also in mehrfacher Hinsicht präsent sein: als im Bild anwesenden Vorfahr, der sein Leben gelebt hat; als Mitglied der Familie, körperlich im Blute der Verwandten, aber auch geistig als verehrtes Vorbild, wenn die Familienmitglieder beim Mahl von ihm sprechen, seiner gedenken und damit seine Taten gleichsam wiederholen. Mehr noch: Ihm wird der Status eines Unsterblichen zugebilligt, der allgegenwärtig ist und die lebensweltliche Gegenwart der Sterblichen beeinflussen kann:

Stiller Vater! auch du lebtest und liebtest so;

Darum wohnest du nun, als ein Unsterblicher,

Bei den Kindern, und Leben,

Wie vom schweigenden Äther, kommt

Öfters über das Haus, ruhiger Mann! von dir, …

Auffällig ist in dieser Strophe besonders das Miteinander von Gegenwarts- und Vergangenheitsformen: „du lebtest und liebtest“, du „wohnest nun“, „von dir kommt Leben über das Haus“. Man hat darauf hingewiesen, dass Hölderlin hier einer mythischen Sichtweise und insbesondere einer mythischen Zeitvorstellung sprachlichen Ausdruck verleiht, einer Zeitvorstellung, die an eine entsprechende Konzeption der Griechen erinnert und erinnern soll. Denn die Griechen unterschieden eine heilige Zeit (ζάθεος χρόνος) der Götter von der irreversiblen, aus der Vergangenheit beständig in die Zukunft fließenden Zeit der sterblichen Menschen.2 Trotz dieser Scheidung billigt auch der griechische Mythos den Göttern Einfluss auf die Geschehnisse in der profanen Zeit der Menschen zu: Wie für Hölderlins Ahn gilt für die Götter der Griechen: sie „liebten und lebten“ – die Mythen sind voll von solchen Geschichten –, von ihnen kann aber auch – um mit Hölderlin zu sprechen – „Leben wie vom schweigenden Äther, öfters übers Haus kommen“.3 Dieses Mit- und Ineinander von Gegenwart und Vergangenheit, das unserem Zeitsinn zu widerstreben scheint, soll uns im Folgenden ein wenig beschäftigen.

Wir wollen uns dabei von einer scheinbar belanglosen, für den gewählten Zusammenhang aber bemerkenswerten Stelle bei Plutarch anregen lassen.4 Auch dort ist der Rahmen ein Familienfest, eines jener Feste nämlich, die seit der Gründung der platonischen Akademie zum Gemeinschaftsleben auch anderer Philosophenfamilien gehörten: Das jährliche Treffen der Mitglieder anlässlich des Geburtstages des Gründungsheros der Schule, das zur Erinnerung an prägende Gestalten der Institutionen, aber auch der eigenen Identifikation diente. Man aß und trank und hörte Vorträge über verdiente Personen oder zentrale Probleme – Ansporn zur Nachahmung und zur Vergewisserung der Richtigkeit eigenen Tuns, Erinnerung an jenes Band, das auch hier die gleichsam überzeitliche Substanz der Gemeinschaft ausmachte: „Sitz im Leben“ für das, was später als Philosophenbiographie, Schulgeschichte oder Heiligenvita zu eigenen Gattungen geworden ist. Anlässlich derartiger „Schul“-Treffen erfreute man sich an gelehrter Unterhaltung, die den Scherz geistvoller Spekulation mit dem Ernst philosophischer oder philologischer Argumentation zu verbinden wusste:

An solchen akademischen Unterhaltungen lässt uns der kaiserzeitliche Platoniker Plutarch in den Quaestiones convivales teilhaben. Für uns von Interesse ist dabei das Treffen einer kleinen Gruppe gebildeter Platoniker am 7. Thargelion. Schon tags zuvor, am 6. Thargelion, hatte sich Plutarch mit seinen Freunden Diogenianus, Florus und Tyndares getroffen, um Sokrates’ Geburtstag zu feiern. Nun, am 7. Thargelion, gilt es, den Geburtstag von Sokrates’ größtem Schüler zu begehen. Man feiert Platons Geburtstag, indem man sich, wie vom Brauch gefordert und unter Platonikern üblich, beim Umtrunk mit schönen Reden unterhält. Als Thema hatte sich diesmal eben jene Koinzidenz von Geburtstagen angeboten, die Anlass des zweimaligen Treffens an zwei aufeinander folgenden Tagen war, eine Koinzidenz, die bei bedeutenden Persönlichkeiten nicht selten zu beobachten ist: ein dankbares Thema also, um Gelehrsamkeit zu entfalten. Darüber hinaus regt bei Platon das Thema „Geburtstag“ und die verbreitete Legende über seine Abstammung von Apollon zu prinzipiellen Erwägungen über die Rolle von Geburt und Zeugung im Bereich jener Götter an5, die als unsterblich zu gelten haben. Man fragt sich, wie es zum Kontakt der Wesen aus dem überzeitlichen Bereich mit den zeitlichen Menschen kommen, oder – um an Hölderlin zu erinnern – wie Leben, wie vom schweigenden Äther, „öfters über das Haus kommen kann“.

Tyndares sieht sich veranlasst, die Annahme, von den Göttern gebe es Geburt und Zeugung, zu verteidigen. Er diskutiert Bedenken, ob die Unsterblichkeit des Gottes im Widerspruch zum Zeugen und zum Erzeugt-Werden zu sehen ist. Da kommt ihm allerhöchste Autorität gerade recht: Meint er doch, sich auf Platon berufen zu können. Denn der nenne im Timaios seinen Gott, den Demiurgen, ebenfalls Vater und Schöpfer.6 Leider ist das weitere kurze Wortgeplänkel zwar geistvoll, aber nicht recht ergiebig. Jedoch was Tyndares hier zur Freude seiner Freunde geistvoll in Beziehung setzt, das Paradox von Geburt und Zeugung im Bereich der unsterblichen Götter des Mythos und Platons philosophisch mythische Erzählung von der Schaffung und Erzeugung der Welt, dieser eher spielerisch gemeinte Vergleich scheint mir von großem Interesse zu sein und soll uns zu weiteren Überlegungen anregen. Denn die Timaios-Stelle ist eine der zentralen Passagen der antiken Literatur und Anlass nicht enden wollender Diskussion darüber, ob Platon seine „Welt-Schöpfung“ als zeitlich einmaligen Vorgang oder als dauernden Prozess – als creatio continua – verstanden wissen will.7 Tyndares’ Hinweis auf den Mythos und sein Vergleich von Göttergeburt und Weltschöpfung hat dabei, soweit ich sehe, bisher keine große Rolle gespielt. Verständlicherweise, sollte man denken, scheint der Vergleich doch als Teil jener theōria gleichsam nur hingeworfen, welche nach den Gesetzen des Symposions die Weinlaune im Zaume halten soll.8 Dennoch ist es lohnend, sich von Tyndares anregen zu lassen. Denn dies eröffnet die Möglichkeit, einen kleinen Beitrag zu jenem Jahrhunderte alten Streit zu leisten.

Wir wollen deshalb zunächst die von Tyndares angeschnittene Frage vom Paradox der Göttergeburt aufgreifen und verdeutlichen, was unter mythischer Zeit zu verstehen ist, wollen es sodann mit der sprachlichen Analyse einiger einschlägiger Texte in Verbindung bringen und schließlich in einem dritten Teil zu Platons Timaios zurückkehren.

Platon als Mythologe

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