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Korsika, Traumland der Aufklärer
ОглавлениеNie hat sich Korsika selbst regiert. Es ist immer nur Beutestück Stärkerer, die die Insel aufgrund ihrer strategischen Lage begehren. Nacheinander machen sich Karthager, Römer, Vandalen, Byzantiner und Sarazenen auf der Insel breit. In späterer Zeit gehört Korsika Pisa und Genua, wobei sich der Besitz faktisch auf die Küstenstreifen und die Häfen beschränkt. Das hundertfach zerfaltete Innere bleibt sich selbst überlassen. Im 18. Jahrhundert kommt es zu nennenswerten Versuchen, die Fremdherrschaft loszuwerden. Das schwache Genua behauptet sich nur noch in wenigen befestigten Städten. Unter dem capo generale Pasquale Paoli erlangt die „Insel der Schönheit“ erstmalig eine Quasi-Autonomie und zugleich die Aufmerksamkeit des gebildeten Europa. Der Geist der Aufklärung erwärmt sich am Freiheitskampf der Korsen. „Ein Land in Europa gibt es noch, das fähig ist, sich seine Gesetze zu geben: die Insel Korsika. Die Tapferkeit und Beständigkeit, mit der dieses Volk es verstand, seine Unabhängigkeit wiederzuerlangen und zu verteidigen, würden es verdienen, dass ihm irgendein Weiser beistünde, sie zu erhalten. Ich glaube, diese Insel wird Europa eines Tages eine Überraschung bereiten.“14 Rousseau, der das schreibt, hat Korsika nie betreten. Für ihn wie für andere Aufklärer ist die Insel zwischen Italien und Frankreich eine Projektion, ein Traumland, bevölkert von Menschen, die die Zivilisation noch nicht verdorben hat und die heroisch ihr Sklavenjoch abschütteln.
Der Vater Carlo Maria Buonaparte, Gemälde (um 1804) von Anne-Louis Girodet-Trioson.
In Wirklichkeit kann von einer allgemeinen Erhebung gegen Genua nicht die Rede sein. Die Väter von Carlo und Letizia halten sich abseits und sie sind sicher nicht die Einzigen. Trotzdem setzen die Korsen der Besatzungsmacht zu. Die Adelsrepublik Genua befindet sich Anfang des 18. Jahrhunderts auf dem absteigenden Ast, die großen Tage eines Andrea Doria sind fern. Als 1729 der Aufstand ausbricht, benötigt man österreichische Unterstützung, um ihn niederzuschlagen. Auch danach bleibt Genua außerstande, die Insel wirksam zu kontrollieren. Wiederholt müssen französische Hilfstruppen ins Land geholt werden. Pasquale Paoli, Sohn eines gefeierten Aufständischen von 1729, der mit seinem Vater emigrieren musste, kommt 1755 zurück. Es gelingt ihm, einen neuen Aufstand zu entfachen. Diesmal ist der Erfolg der Korsen nachhaltig. Paoli kontrolliert bald weite Teile der Insel. Er erklärt das im Landesinnern liegende Corte zu seiner Hauptstadt, leitet Reformen ein und lässt eine Verfassung verabschieden, die von fortschrittlichen Geistern des Kontinents übertreibend als demokratisch gepriesen wird. Die Praxis sieht so aus, dass Paoli auf Grundlage einer imaginierten volonté générale diktatorisch regiert.15 Bis heute wird il babbù („der Vater“) als Held der korsischen Freiheit gefeiert. Der Chef der korsischen Regionalregierung leistet seinen Amtseid auf Paolis Schrift Über die Rechtfertigung einer Revolution in Korsika.16
1765 ist Paolis Stellung so stark, dass ehrgeizige junge Leute wie Carlo Bonaparte um die Gunst werben, sein Leutnant zu sein. Paoli verhandelt zu diesem Zeitpunkt mit den Franzosen, die auf Rechnung Genuas Truppen in den befestigten Hafenstädten liegen haben, über eine Autonomieregelung. 1768 wird es ernst. Genua tritt seine Herrschaft über Korsika an Frankreich ab, das seinerseits keine Lust hat, die Macht mit Paoli zu teilen. Der capo generale, der insgeheim gehofft hat, England werde ihm zu Hilfe eilen, überschätzt seine Kräfte. Er zieht in den Krieg, mit ihm auch Carlo Bonaparte, der von seiner hochschwangeren Frau und dem kleinen Guiseppe begleitet wird. Gegen die 25 000 Franzosen unter dem Kommando des Grafen von Vaux haben die Autonomisten keine Chance. In den Bergen schlagen sie sich eine Weile tapfer, den Schlusspunkt bildet die verlorene Schlacht von Ponte Novo am 8. Mai 1769. Einen Monat später geht Paoli ins Exil nach England. 300 Gefährten leisten ihm Folge. Carlo gehört nicht zu ihnen. Der junge Ehrgeizling, der bei den Kämpfen nicht sonderlich aufgefallen ist und der noch immer die Familie im Schlepptau hat, macht sich auf den Heimweg nach Ajaccio, wo er im Handumdrehen die Seite wechselt und dem König von Frankreich die Treue schwört. Letizia wird von einem Jungen entbunden. Stendhal kolportiert, sie habe sich am Festtag Mariä Himmelfahrt gerade in der Messe befunden, „als sie von so drängenden Wehen erfasst ward, dass sie in aller Eile nach Hause gehen musste; ihr Schlafzimmer konnte sie nicht mehr erreichen und genas ihres Kindes im Vorzimmer, auf einem jener altertümlichen Teppiche, welche Heldengestalten von großen Dimensionen schmückten“.17 Folgen muss man dieser ans Herz gehenden Erzählung nicht, obwohl Stendhal sie von Napoleon übernimmt. Letizia erklärt sie später als frei erfunden. Es habe in ihrem Haus überhaupt keine Teppiche gegeben.18
Über die Kindheit Napoleons geben die Quellen kaum etwas her. Joseph und er sind unzertrennlich. Mit wem hat er sonst noch Umgang? Welche Spiele spielt er am liebsten? Nach eigenem Bekunden war er ein eigensinniges Kind. Durch seine Mutter bezeugt ist die Neigung zum Jähzorn, die ihm Letizia nicht nur mit Ohrfeigen, sondern gelegentlich auch mit der Peitsche auszutreiben sucht. Der ausgewachsene Napoleon kultiviert von sich das Bild des kindlichen Raufbolds. „Was, in deinem Alter habe ich schon Joseph verhauen“, hält er seinem Sohn, dem kleinen König von Rom, später vor, wenn dieser einmal ein Wehwehchen hat.19 Bei einem Abbé Recco wird der Junge in die Kunst des Lesens und Schreibens eingeführt. Er habe schwer gelernt, oft habe er seine Lehrer zur Verzweiflung gebracht, erinnert sich Letizia als alte Frau. „Als er aber doch einmal ein gutes Zeugnis nach Hause brachte, setzte er sich darauf wie auf eine Triumphsäule.“20 Das mag ausgeschmückt sein; Genies werden gern als schulische Nullen dargestellt. Tatsache ist, dass sich Napoleon nie mit glänzenden Schulnoten hervortut.
Die Bonaparte-Familie gehört zum korsischen Kleinadel. Das bedeutet nicht wenig, aber auch nicht viel in einer Gesellschaft, in der Reich und Arm nah beieinanderliegen und die Zahl der Vettern, die der Clan aufzubieten hat, mehr Geltung verschafft als Gold in der Schatulle. Zum Leben haben die Bonapartes genug. 1775 gehören ihnen drei Stadthäuser, dazu eine Mühle und Pachtland.21 Im Rat von Ajaccio verfügt die Familie traditionell über einen Sitz. Lucien Bonaparte, ein Onkel, zählt als Archidiakon* zu den Honoratioren. Trotz des relativen Wohlstands werden die Kinder nicht verwöhnt. Dafür sorgt die überaus sparsame Letizia. „In meiner Familie herrschte das Prinzip, keine unnötigen Ausgaben zu machen“, erzählt Napoleon. „Geld gab es nur für Dinge, die man nicht entbehren konnte, für Kleidung, Möbel und dergleichen, aber nicht für die Tafel, sieht man von Kaffee, Zucker oder Reis ab, die man kaufen musste, weil es das in Korsika nicht gab. Alles, was sonst auf den Tisch kam, wurde vom eigenen Anbau geliefert.“22
Letizia ist eine autoritätsstarke Frau; nie versagt ihr Napoleon den gehörigen Respekt. Sie stirbt 1836 im hohen Alter von 86 Jahren, das heißt, sie überlebt ihren Sohn um 15 und ihren Mann, der seine Tage 1785 beschließt, gar um 51 Jahre. An ihr hängt viel. Als Carlo durch riskante Geschäfte das Vermögen ruiniert und später dann die ebenso riskanten politischen Unternehmungen der Söhne dazu führen, dass die Bonapartes die Heimat Hals über Kopf verlassen müssen, ist sie es, die die Familie zusammenhält. Stendhal huldigt ihr, indem er sie mit den „Heldinnen des Plutarch“ auf eine Stufe stellt.23 Indessen fehlt ihr für eine Cornelia doch das Format. Letizia ist vollständig ungebildet. Sie kann hart und engstirnig sein, und wen sie mit ihrem Hass verfolgt wie Joséphine, Napoleons erste Frau, der hat nichts zu lachen. Den Kindern predigt sie eine spartanische Lebensweise. Oft bekommen sie von ihr zu hören, das Essen diene nur dem Zweck, nicht zu verhungern. „Alles Übrige macht dick.“24 Bei solcher Anleitung muss man es Napoleon wohl nachsehen, dass er zeitlebens ein Nahrungsvertilger bleibt und in dieser Hinsicht der Nation, die schon damals stolz auf die Raffinesse ihrer Küche ist, keine Ehre einträgt. Letizias Stärke ist ihre Zähigkeit. Ihr Geiz ist sprichwörtlich. Sie hält den Beutel selbst dann noch zu, als der Stern ihres Zweitältesten aufgegangen ist und viele Taler in ihren Schoß fallen. Wer sie auf ihren enormen Reichtum anspricht, bekommt zur Antwort: „Ich habe sechs oder sieben Fürsten als Kinder, die mir eines Tages auf der Tasche liegen werden.“25 Nie hört sie auf, dem Glück zu misstrauen, das ihren Söhnen und Töchtern an den Fersen zu kleben scheint. Napoleons Siege locken sie nicht aus der Reserve, der Kaiserkrönung bleibt sie fern. „Pourvu que ça dure!“ („Vorausgesetzt, es bleibt so!“) Kein Höfling würde wagen, wie Madame Mère zu sprechen.
„Maison natale de Napoléon I. à Ajaccio“ – das Geburtshaus auf einem Gemälde von Alexis Daligé de Fontenay aus dem Jahr 1849.
Carlo Bonaparte trauert der verlorenen Sache der Autonomisten nicht lange nach. Er hat sich Paoli angeschlossen, als dieser der Mann der Stunde war. Jetzt setzt er auf die Karte der Franzosen, und seine Geschmeidigkeit wird belohnt. 1771 erhält er eine Richterstelle am königlichen Gerichtshof von Ajaccio. Im selben Jahr sind die Bonapartes mit von der Partie, als die französischen Behörden 66 korsischen Familien den Adelsstatus bestätigen. Daraufhin wählt die Nobilität von Ajaccio Carlo zu ihrem Vertreter in der Ständeversammlung, die ihn 1777 als ihren Repräsentanten nach Versailles schickt. Mittlerweile nennt sich Carlo Charles, er hat die Protektion des Grafen Marbeuf. Der königliche Gouverneur, ein gebürtiger Bretone, herrscht über die Insel wie ein Vizekönig, er teilt Chancen zu oder macht sie zunichte, und Charles ist der Letzte, dem das gleichgültig wäre. Er stellt sich ganz in den Dienst des Statthalters und wird zu einem der Häupter der französischen Partei in Korsika.
Umstritten ist, ob die Gunst Marbeufs auch mit Letizia zu tun hat. Als die Bonapartes während der Bürgerkriegswirren wegen ihrer pro-französischen Haltung ins Gedränge kommen, wird dieser Vorwurf offen erhoben.26 Gegen eine Affäre spricht die soziale Kontrolle in der engen Gesellschaft der Insel. Andererseits ist Letizia eine bewunderte Schönheit und der Gouverneur kein Kostverächter. Er besitzt auf Korsika bereits eine Mätresse, Madame de Varèse, und als diese Verbindung sich erschöpft, ist die Aufmerksamkeit, die Marbeuf Letizia schenkt, auslegungsfähig. 1778 bricht Charles zu einer Reise nach Frankreich auf. Marbeuf und Letizia begleiteten ihn bis zum Hafen, beide im ersten Wagen, während Charles und die Kinder im zweiten Wagen folgen. Das fällt auf. Noch mehr fällt auf, dass Letizia die folgenden fünf Monate auf dem Sitz Marbeufs in Bastia verbringt. Ehebruch oder nicht: Das später ausgestreute Gerücht, Marbeuf sei der leibliche Vater Napoleons, wird durch die Daten dementiert. Marbeuf lernt Letizia erst 1770 kennen, ein Jahr nach „Nabuliones“ Geburt.27
Ist Marbeuf auch nicht der Erzeuger Napoleons, so steht er doch bei einer ganz wichtigen Weichenstellung Pate. Ohne den Freund der Familie hätte Napoleon keine französische Erziehung genossen. Sein Leben wäre anders verlaufen. In Frankreich gibt es über das Land verteilt zwölf königliche Militärschulen. Sie halten 600 Freiplätze vor. Um einen dieser Plätze zu bekommen, muss der Schüler von Adel sein und der Vater mittellos. Die erste Voraussetzung ist im Falle Napoleons durch die Nobilitäts-Bescheinigung von 1771 erfüllt. Für die zweite muss Charles den Offenbarungseid leisten. In einer ausführlichen schriftlichen Darlegung erklärt er, nicht in der Lage zu sein, für eine standesgemäße Ausbildung seiner Kinder zu sorgen. Dank Marbeufs Einfluss nimmt das Gesuch die bürokratischen Hürden; Napoleon wird Stipendiat des Königs.28 Im Dezember 1778 verlässt er zusammen mit Vater und Bruder Ajaccio. Zum ersten Mal in seinem Leben betritt er französischen Boden. Da weder er noch Joseph ein Wort der Landessprache sprechen, müssen sie zunächst in Autun die Schulbank drücken. Nach einem Vierteljahr werden Napoleon hinreichende Sprachkenntnisse attestiert, sodass er am 1. April 1779 unter dem Namen „Napoleonne de Buonaparte“ in die Militärschule Brienne-le Château eintreten kann. Joseph erhält durch Marbeufs Fürsprache eine Stiftsstelle in Autun. Er soll sich auf den Priesterberuf vorbereiten.