Читать книгу Napoleon - Günter Müchler - Страница 19
In der Sackgasse
ОглавлениеAngreifbar bleibt er trotzdem. Altgediente Militärs sehen in ihm einen „politischen“ Offizier, der sein Avancement fachfremder Protektion verdankt. Was seinen italienischen Offensivplan anbelangt, liegt er nach dem Sturz Robespierres auf Eis. Karrieremäßig befindet sich Napoleon in einer Sackgasse. Erst Anfang 1795 scheint sich ein geeignetes Tätigkeitsfeld zu öffnen. Korsika, das von Paoli unter den Schutz der britischen Krone manövriert worden ist, soll dem englischen Feind entwunden werden. Napoleon erhält das Kommando über die Artillerie. Aber das Unternehmen ist ein Fehlschlag. Bei Capo Corso vor Livorno wird die französische Invasionsflotte von der Royal Navy auseinandergejagt. Die Expedition ist zu Ende, bevor sie begonnen hat. Erst La Maddalena, jetzt Capo Corso: Es ist, als ob ein Fluch auf dem Verhältnis Napoleons zum Meer lastete.
Ein paar Tage nach dem Abbruch der glücklosen Korsika-Expedition wird der beschäftigungslose General der Artillerie zur Westarmee abkommandiert. Das ist das Letzte, was er sich gewünscht hätte. Unter dem jungen General Hoche* arbeitet sich die Westarmee daran ab, den Brandherd Vendée zu löschen. Für Napoleon würde die Versetzung die Trennung von Désirée bedeuten. Außerdem schreckt ihn die Aussicht, in den Bürgerkrieg hineingezogen zu werden. Es ist ein abstoßender Krieg, der im Westen geführt wird. Bauern zu jagen, verspricht keinen Lorbeer. Um die Versetzung abzuwenden, eilt Napoleon nach Paris, doch im Sicherheits-Komitee zeigt man ihm die kalte Schulter. Man mutet ihm sogar zu, statt des zugesagten Artilleriekommandos eine Infanterie-Brigade zu übernehmen. Den Generalsrang soll er behalten. Napoleon ist empört. Für einen Artilleristen, der auf sich hält, kommt die Versetzung zur Infanterie einer Degradierung nahe. Warum tut man ihm das an? Soll er büßen für die Sünde, den Robespierre-Brüdern nahe gewesen zu sein? Die Wahrheit ist simpler. Es gibt zu viele Generäle in den Armeen der Republik. In den letzten Jahren ist die militärische Hierarchie aufgebläht worden. Allein zwischen 1791 und 1793 hat es 962 Generalsbeförderungen gegeben. Napoleon, der auf der Liste der dienstältesten Generäle Platz 139 einnimmt, hat von dieser Hausse profitiert. Jetzt werden Stellen gestrichen. Die Artillerie behält 20 Generalsdienstgrade, der Name Bonaparte fehlt auf der Liste.117 Als er mit seinen Beschwerden nicht durchdringt, meldet er sich krank.
Krankfeiern in Paris ist nicht das Schlechteste. Der Sturz des Tugendregimes hat die Stadt wie mit einem Fanfarenstoß zu neuem Leben erweckt. Viele, die aus dem Blickfeld verschwunden waren, tauchen aus der Versenkung auf. Aus den Gefängnissen tasten sich blasse, von Todesfurcht gezeichnete Gestalten hervor. Nicht wenige unter ihnen sind nur haarscharf der „nationalen Rasierklinge“, wie man die Guillotine nennt, entronnen. Diese Menschen erfasst nun eine ungeheure Lebensgier. Befreit von Tugend und Terror stürzen sie sich in Vergnügungen, die oft nicht frivol genug sein können. Auf dem alten Friedhof von Saint-Sulpice und im Carmel-Kloster wird getanzt. Beliebt sind die bal des victimes („Opferbälle“), Zutritt haben nur die, die wenigstens einen Verwandten unter dem Fallbeil verloren haben. Frisöre, die das Tugendregime beinahe in den Ruin getrieben hat, scheuen sich nicht, das den Guillotinierten vor der Hinrichtung abgeschnittene Haar für die wieder in Mode kommenden Perücken zu verwenden. Die Damen behängen sich mit Diamanten und tragen hauchzarte Kleider, die raffiniert ihren Zweck in der Schwebe halten. Den modischen Trend bestimmen neben Madame Récamier, der Witwe eines reichen Bankiers, Thérésa Tallien und Joséphine Beauharnais. Madame Tallien ist die Gattin eines führenden Putschisten gegen Robespierre, Joséphine die Witwe eines hingerichteten Generals. Beide haben im Gefängnis gesessen, beide gehören zu den Wiedergeborenen des Thermidor.
Napoleon registriert die ausgewechselte Stimmung. Die Schilderungen, die er Joseph gibt, lassen erkennen, dass sich der angeblich Kranke nicht im Hôtel de la Liberté einschließt: „Dieses große Volk überlässt sich ganz dem Vergnügen; Bälle, Schauspiele und die Weiber, die hier die schönsten der Welt sind, bilden die Hauptsache.“118 Die Emanzipiertheit der Frauen erstaunt ihn: „Die Frauen sind überall, im Theater, auf den Promenaden, in den Bibliotheken. In der Studierstube des Gelehrten sieht man die hübschesten Persönchen. Hier allein, von allen Orten der Erde, verdienen sie das Steuer zu führen. Die Männer sind auch ganz vernarrt in sie, denken nur an sie und leben nur für sie. Eine Frau braucht nur sechs Monate in Paris gewesen zu sein, um zu erkennen, was ihr gebührt und was das Gebiet ihrer Herrschaft ist.“119 Er flaniert, beobachtet und geht häufig ins Theater. Mit Vorliebe sieht er Tragödien, die nach seiner Auffassung die Seele heben und geeignet sind, Helden zu produzieren. Es den Stutzern gleichzutun, die man jetzt überall auf den Straßen trifft, fehlt dem General auf Halbsold allerdings das Geld. In dem wenig schmeichelhaften Bild, das Laure Junot, die spätere Herzogin von Abrantès, von ihm zeichnet, erscheint er nicht wie ein ehrgeiziger Aufsteiger, sondern eher wie ein Sansculotte: „Damals war Napoleon schrecklich hässlich, er pflegte sich so wenig, dass ihm seine schlecht gekämmten und schlecht gepuderten Haare ein unangenehmes Aussehen gaben. Ich sehe ihn noch, wie er in den Hof des ‚Hôtel de la Tranquilité‘ kam und diesen mit linkischen, unsicheren Schritten überquerte, einen schlechten runden Hut tief in die Augen gezogen, unter dem seine zwei Hundeohren* bis auf seinen Umhang hervorhingen, mit langen, mageren und schwarzen Händen, an denen er keine Handschuhe hatte, weil dies, wie er sagte, eine unnötige Ausgabe wäre, mit billigen, ungeputzten Schuhen. Und dann noch das kranke Aussehen, das durch seine Magerkeit und durch seine gelbe Hautfarbe hervorgerufen wurde.“120
Die angedrohte Versetzung zur Infanterie verletzt ihn in seinem Selbstwertgefühl. Niemand will erkennen, was zu leisten er imstande ist, überall wird er blockiert! Eine Zeit lang erwägt er, Frankreich zu verlassen und sein Glück in der Fremde zu suchen. Ernsthaft denkt er daran, sich beim Sultan von Konstantinopel als Militärberater zu verdingen. Der Gedanke zeigt den Grad seiner Niedergeschlagenheit. „Wenn das so weitergeht, werde ich mich nicht mehr umschauen, wenn ein Wagen vorbeikommt“, schreibt er Joseph.121 Doch Stimmungstiefs halten bei ihm nie lange vor. Schon bald gibt er dem Bruder Entwarnung: „Ich sehe für die Zukunft nur angenehme Dinge.“122 Vielleicht lässt sich in der Karriereflaute etwas für den privaten Wohlstand tun? Désirée – noch plant man gemeinsam – schreibt er voller Stolz, er habe jetzt so viel Geld gespart, um ein Schlösschen bei Ragny im Burgund zu erwerben. Er schwärmt von einem Esszimmer, das viermal so groß sei wie die Casa Bonaparte in Ajaccio, und berechnet die Einkünfte, die man aus dem Getreideanbau beziehen werde. Nur müsse man drei oder vier Türme abreißen, weil das Anwesen sonst zu aristokratisch wirke.123 In diesen Sommermonaten ist Napoleon ganz besessen von der Idee, sich ein Stück vom enteigneten Kirchen- oder Adelsbesitz zu verschaffen. Die „Nationalgüter“ sind billig zu haben. Auf diesem Geschäftsfeld ist der Bonaparte-Clan schon in Korsika erfolgreich tätig gewesen.124 Was seine Ersparnisse angeht, hat er Désirée jedoch etwas vorgemacht. Für das Schlösschen von Ragny reichen sie keineswegs. Er schlägt Joseph deshalb vor, sich mit 60 000 Livres aus Julies Mitgift an dem Kauf zu beteiligen.125
Aus dem Schlossherrn auf dem Lande wird nichts; der Alltag meldet sich zurück. Am 16. August schickt das Kriegsministerium Napoleon die ultimative Aufforderung, sich bei seiner neuen Truppe einzufinden. Napoleon fühlt sich stark genug, die Mahnung zu ignorieren. Er hat inzwischen eine Beschäftigung im „Topographischen Büro“ gefunden, einer 1793 ins Leben gerufenen nachgeordneten Behörde des Ministeriums. Der neue Kriegsminister Le Doulcet Pontécoulant – die Thermidorianer praktizieren die Rotation, was für einen pausenlosen Wechsel an der Spitze der Ministerien sorgt – findet Napoleon interessant, die „Kühnheit seiner Ansichten und die Festigkeit seiner Sprache“ nehmen ihn für den blassgesichtigen „Italiener“, wie er ihn nennt, ein.126 Das „Topographische Büro“ ist, anders als der Name vermuten lässt, kein Ruheraum für abgehalfterte Beamte, vielmehr handelt es sich um eine Art Generalstab, der für die Regierung strategische Alternativen entwickelt. Unter den 20 Offizieren, die das Büro beschäftigt, befindet sich auch Henry-Jacques-Guillaume Clarke, der spätere Kriegsminister. An seinem neuen Arbeitsplatz macht sich Napoleon daran, den Angriffsplan, den er ein Jahr zuvor für Robespierre entworfen hatte, zu aktualisieren. Die Voraussetzungen für einen Angriff an der Alpenfront haben sich wesentlich verbessert, weil Österreich in rascher Folge zwei Verbündete verloren hat. Im April 1795 hat Preußen mit Frankreich den Frieden von Basel geschlossen und ist aus der Koalition ausgetreten. Drei Monate später schließt sich Spanien an. Folglich kann die Italienarmee durch Verbände, die in Spanien nicht mehr gebraucht werden, verstärkt und offensivfähig gemacht werden. Die in Deutschland stehenden Armeen sind nach dem Ausstieg Preußens frei, Österreichs Besitzungen am Oberrhein anzugreifen.127 Anfang August ist Napoleon davon überzeugt, dass er die Rückendeckung der Regierung besitzt. „Man übernimmt meinen Offensivplan“, frohlockt er. „Es dauert nicht mehr lange, und es wird ernst in der Lombardei.“128 Ernst wird es zunächst in Frankreich.