Читать книгу Napoleon - Günter Müchler - Страница 13
Auf eigenen Beinen
ОглавлениеValence bedeutet zunächst Grundausbildung. Napoleon lernt, mit dem Gewehr umzugehen. Beim Exerzieren wird er herumkommandiert. Er muss Wache stehen wie jeder andere. Ein kluges Reglement sorgt dafür, dass die hochgemuten Schüler-Offiziere nicht übermütig werden. Napoleon fängt als Kanonier an, dann wird er Korporal, schließlich Sergeant. Die auf der École militaire erlangten Abzeichen des Unterleutnants darf er erst nach drei Monaten tragen. Hat ihn die Grundausbildung genervt? Ist ihm der Gehorsam schwer gefallen? Wir wissen es nicht. Napoleon hat kein Tagebuch geführt (oder die Hefte verbrannt), was jammerschade ist. Sonst wüssten wir mehr über seine Gefühlswelt, der großen Freifläche im Porträt. Auf Sankt Helena stellt er den Vorgesetzten des Regiments ein gutes Zeugnis aus. Es sei familiär zugegangen, „die Chefs waren väterlich, wackere und würdige Leute, pures Gold“. Wer es im Leben zu etwas gebracht hat, redet gerne gut über seine Lehrer. Napoleon macht da keine Ausnahme.
Zum ersten Mal steht der junge Mann nun auf eigenen Beinen. Verplant ist sein Tag nur bis Dienstschluss, dann muss er sich selbst organisieren. Mademoiselle Bou, die ältliche Tochter eines ehemaligen Knopffabrikanten, führt auf der Grande rue von Valence ein Café, das Café Cercle. In der dazugehörigen Pension mietet sich Napoleon für acht Livres ein. Das Mobiliar ist bescheiden; es besteht aus Bett, Tisch und einem Lehnstuhl. Zum Lesen reicht das. In Mademoiselle Bous Klause arbeitet er sich durch Voltaires Versuch über die Sitten und den Geist der Nationen, Macchiavellis Geschichte von Florenz und Mirabeaus Lettres de cachet. Dabei verkriecht er sich nicht. Wie alle Provinzstädte verfügt auch Valence über eine Gesellschaft, die auf sich hält und die den Offizieren der Garnison offensteht. In einem der Zirkel spielt der Unterleutnant Karten, vorzugsweise im Kreis von Damen. Einmal verliert er beim Reversi zwölf Livres, für ihn eine ganze Menge. Als die Gewinnerin das Geld des armen Jungen nicht annehmen will, entgegnet er steif: „Ich habe nicht die Ehre, Madame, in Ihrem Dienst zu stehen.“ Wie er später einräumt, war der Satz sein einziger Beitrag zur Konversation des Abends.53 In den Kreis einer Madame de Colombier findet er Aufnahme durch Vermittlung des Bischofs Marbeuf von Autun, einem Neffen des korsischen Wohltäters der Bonapartes. Den Salon muss man sich vielleicht nicht besonders glanzvoll vorstellen, aber sicher ist er eine der ersten Adressen in der Kleinstadt. Madame de Colombier nimmt den linkischen Offizier unter ihre Fittiche. Sie verfügt über Geist und über eine Tochter – Caroline, mit der der 16-Jährige am Ufer der Rhône spazieren geht, Kirschen isst und in die er gewiss verliebt ist. Auf den Rat der Mutter nimmt er Tanzstunden, allerdings hat der Unterricht keine nachhaltige Wirkung. Napoleon bleibt immer ein schlechter Tänzer. Nebenbei: 20 Jahre später schickt der Maître de danse von Valence, ein Mann namens Dautel, dem Kaiser einen Bettelbrief. Napoleon verschafft ihm eine Anstellung.54
Mit den 800 Livres Sold pro Jahr,* die ihm dienstgradmäßig zustehen, lassen sich keine großen Sprünge machen. Zum Vergleich: Ein Vorarbeiter verdient drei Livres am Tag, eine Mahlzeit kostet ungefähr zwei Livres. Immerhin wird das Grundeinkommen des Unterleutnants durch weitere 100 Livres, die ihm als Absolventen einer königlichen Schule gewährt werden, und durch noch einmal dieselbe Summe in Form eines Wohnungszuschusses aufgestockt. Dazu bezieht er aus einer Erbschaft, die seine Familie macht, eine Einmalzahlung von 1200 Livres.55 Er darbt also nicht, aber manchmal geht es schon sehr eng zu. Jahre später erkundigt er sich bei seinem Innenminister Chaptal, der sich in Valence auskennt, nach einem bestimmten Cafétier. Ob der noch lebe? Er fürchte, dass er bei ihm noch Schulden habe. Chaptal muss dem Cafébesitzer 1000 Francs zustellen.56
Was unterscheidet Napoleon in Valence von anderen jungen Franzosen? Gesteht er in Kameradengesprächen, dass seine Loyalität eigentlich Korsika gehört? Schwärmt er, wenn er mit der kleinen Colombier kirschenessend an der Rhône promeniert, von der Schönheit seiner heimatlichen Insel? Von außen betrachtet erscheint Napoleon als Muster gelungener Assimilation. Er hat auf Kosten der Monarchie die Schule besucht, er lebt vom Sold Ludwigs XVI. und trägt seine blau-rote Uniform mit Stolz. Er kennt sich mit den Großtaten der allerchristlichsten Könige aus und hat mehr französische Klassiker gelesen als die meisten Altersgenossen. Aber das sind, wie man noch sehen wird, nur Aufschüttungen. Sie überlagern seine Selbstverortung als Korse, ohne ihr etwas anzuhaben. Freilich hat sich sein „Korsizismus“ verändert. Aus dem Trotz-Patrioten von Brienne ist ein Kopf-Patriot geworden. In der Pension des Café Cercle verfasst er die Rechtfertigung eines Aufstands gegen Frankreich, die ganz vom Geist der Naturrechtslehre durchzogen ist: „Wenn es nun durch diese Natur des Gesellschaftsvertrages erwiesen ist, dass, selbst ohne zureichenden Grund, ein Volk seinen eigenen Fürsten absetzen kann, um wie viel mehr einen fremden, der, alle Naturrechte verletzend, sich gegen die Regierungseinrichtungen vergeht. Spricht dies nicht für die Korsen, da die Herrschaft der Genuesen doch nur eine vertragsmäßige war? Deshalb durften sie das genuesische Joch abschütteln, und deshalb können sie auch mit dem der Franzosen dasselbe tun. Amen!“57 Die Abhandlung schreibt er zu Paolis 65. Geburtstag. Sie ist vorerst nur zum privaten Gebrauch bestimmt, das heißt, zum Ordnen der eigenen Gedanken. Eines Tages aber will er sich mit dieser Schrift dem babbù empfehlen, dann, wenn sein Idol aus dem Exil heimgekehrt ist und zum Kampf gegen die Franzosen bläst. Aber wann wird das sein? Manchmal beschleichen ihn Zweifel, ob die Korsen zu wahren Freiheitskämpfern taugen. In seinem Versuch Über den Selbstmord findet sich folgende Passage: „Meine Landsleute, in Ketten gelegt, küssen zitternd die Hand, die sie unterjocht. Das sind nicht mehr die tapferen Korsen, die ein Held mit seinen Tugenden beseelte, nicht mehr, wie ehedem, die Feinde der Tyrannen, der Genusssucht, der niedrigen Höflinge (…). Franzosen.“58
Dass er mit diesen Zeilen den eigenen Vater verurteilt, ist ihm bewusst. Auch der Vater hat zu denen gehört, die den Franzosen die Hand küssten. Niemals hat der Sohn ihm den Verrat an Paoli verziehen. Inzwischen ist Charles Bonaparte tot. Der Verlust konfrontiert den Sohn mit der Erkenntnis, dass die Zeit des schaffenden Menschen begrenzt ist. „Der frühe Tod des Vaters mag in Teilen Napoleons Unrast und unendliche Energie erklären. Er fürchtete, dass auch ihm nur eine kurze Zeitspanne gewährt sei“, mutmaßt Andrew Roberts.59 Tatsächlich mutet Napoleons Leben im Rückblick an wie ein permanenter Wettlauf mit der Zeit. Zunächst hat der Tod des Vaters zur Folge, dass die Familie ohne Oberhaupt dasteht. Angeblich soll Charles auf dem Sterbebett Napoleon zur Führung der Familienangelegenheiten bestimmt haben, aber das ist unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist, dass der Zweitälteste wie selbstverständlich die Sorge für die Seinen übernimmt und daraus ebenso selbstverständlich eine Autorität ableitet, die auch Joseph nicht infrage stellt, obwohl dieser als Erstgeborener chef de famille ist. Die Bürde, die er sich damit auflädt, ist groß. „Die Verantwortung für die Familie hat meine frühen Jahre verdorben“, gesteht Napoleon später.60
Um sich kümmern zu können, muss er nach Korsika. Glücklicherweise behandelt Ludwig XVI. die Offiziere seiner Armee äußerst großzügig. Nach dem ersten Dienstjahr steht ihnen ein bezahlter Urlaub von sechs Monaten zu, natürlich nur in Friedenszeiten. Napoleon muss das Pflichtjahr noch nicht einmal vollenden. Am 3. November 1786 langt er in Ajaccio an. Aus dem Jungen, der mit acht Jahren die Heimat verließ, ist ein 17-jähriger junger Mann geworden. Die drei jüngsten Geschwister – Pauline, Caroline und Jérôme – hat Napoleon noch nie gesehen. Sie schauen zu dem großen Bruder auf, der eine so prächtige Uniform trägt. Napoleon arbeitet sich in die Familienfinanzen ein; sie sind alles andere als rosig. Letizia kann sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal eine Haushaltshilfe leisten. Er bemüht sich, die Baumschulaffäre aus der Welt zu schaffen, die der Vater eingebrockt hat. Er schreibt Gesuche, erinnert an Versprechungen. Als er damit nicht durchdringt, reist er im November 1787 nach Paris, um die zuständigen Stellen zum Einlenken zu bewegen. Vergebens. Sein einziger Erfolg in Paris ist der bei der kleinen Prostituierten vom Palais-Royal. Anfang Januar befindet sich Napoleon wieder auf Korsika. Er hat den Urlaub bereits einmal überzogen und gesundheitliche Gründe angegeben. Schon damals gibt es Ärzte, die wohlwollende Atteste schreiben. Diesmal soll das Kriegsministerium einen Urlaubsnachschlag gewähren, weil er, wie er behauptet, unbedingt den „Beratungen der Landstände Korsikas“ beiwohnen wolle. Man staunt über die Langmut des Dienstherrn, der abermals ein Auge zudrückt. Erst im Juni 1788, nach rund 20-monatiger Abwesenheit, taucht Napoleon wieder bei seiner Einheit auf.
Das Regiment La Fère ist inzwischen nach Auxonne verlegt worden. Die Kleinstadt zwischen Dijon und Dôle bietet nicht viel Zerstreuung, aber die dortige Artillerieschule, die von General du Theil geführt wird, entschädigt für den Mangel. Endlich kann sich Napoleon mit „seiner“ Waffe beschäftigen. Er vertieft sich in die taktischen Möglichkeiten und studiert die Fachliteratur, darunter ein Werk, das der Bruder von du Theil verfasst hat, Gebrauch der neuen Artillerie. Dank der Reformen Gribeauvals ist die französische Artillerie die leistungsfähigste Europas. Gribeauval hat eine neuartige Lafette entwickelt und Veränderungen in der Produktion durchgesetzt, die die Handhabung der Waffe erleichtern. Die Zwölfpfünder-Kanone ist nach Einführung des „Gribeauval-Systems“ um die Hälfte leichter als vorher. Die Vorteile für die Mobilität liegen auf der Hand. Wenn der Feldherr Napoleon seine Gegner später immer wieder durch die Schnelligkeit seiner Bewegungen überrascht, liegt das auch an Gribeauvals Erfindungen. In Auxonne verliebt sich Napoleon in die Artillerie. Bald gibt es keinen, der mit Kanonen besser umzugehen wüsste als er. Voller Stolz sagt er: „Wenn niemand da ist, der Schießpulver machen kann, ich kann es; ich weiß, wie man Lafetten konstruiert; wenn Kugeln gegossen werden müssen, ich kann es.“61 Das ist nicht übertrieben. Noch im Februar 1814, in der Schlacht von Monterau, richtet Napoleon die Kanonen mit eigener Hand aus.
Die überschüssige Zeit – und davon hat er in Auxonne reichlich – widmet er dem lesenden Schreiben. Im Querfeldein seiner Lektüre stößt er auf Lacroix’ Géographie. Mit Bleistift unterstreicht er die Worte: „Sainte-Hélène, petite île“ („Sankt Helena, kleine Insel“). Er kann nicht ahnen, dass man ihn eines Tages an diesen winzigen Punkt im Südatlantik ketten wird wie Prometheus an den Felsen im Kaukasus. Während der 15 Monate von Auxonne füllt er nicht weniger als 27 Notizhefte mit Auszügen, Verweisen und eigenen schriftstellerischen Versuchen. Aus dieser Phase stammen der oben erwähnte Le Comte d’Essex („Der Graf von Essex“), Le masque du prophète („Die Maske des Propheten“) und die Dissertation sur l’Autorité Royale („Abhandlung über die Königliche Autorität“). In der „Abhandlung“ findet sich der Satz: „Es gibt nur wenige Könige, die es nicht verdient hätten, entthront zu werden!“ Der junge Unterleutnant hat tatsächlich vor, die aufrührerische Schrift dem königlichen Finanzminister Loménie de Brienne zuzueignen! Zu seinem Glück wird der Minister gerade noch rechtzeitig entlassen.
In Auxonne muss Napoleon den Gürtel enger schnallen. Die 1200 Livres aus der Erbschaft sind aufgezehrt. Einem Drucker aus Dôle, bei dem er auf eigene Kosten eine satirische Flugschrift drucken lässt (Brief des Herrn Buonaparte an Herrn Matteo Buttafoco) verdanken wir die Beschreibung seiner damaligen Behausung. Er bewohnt ein kahles Zimmer in einem Gartenhaus; ein Bett, zwei Stühle sowie Stapel von Papier und Büchern bilden die ganze Einrichtung. Der kleine Bruder Louis, um dessen Erziehung sich Napoleon zu dieser Zeit kümmert, schläft auf einer Matratze nebenan.62 Seiner Mutter schreibt er, die Arbeit sei in Auxonne seine einzige Zerstreuung. Nur alle acht Tage kleide er sich ordentlich. „Ich gehe um zehn Uhr schlafen und stehe um vier Uhr morgens auf. Ich esse nur einmal am Tage: das bekommt mir sehr gut.“63