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Der Bildungshungrige
ОглавлениеBrienne-le-Château liegt in der Champagne, nahe Bar-sur-Aube. Die Schule ist erst vor drei Jahren gegründet worden. 50 von 110 Schülern sind Stipendiaten. Die Leitung haben Franziskaner, der Lehrkörper besteht aus Mönchen und angestellten Lehrern. Der neunjährige Junge aus Korsika hat viel zu verdauen. Frankreich ist eine andere Welt. Auf dem Weg nach Autun hat er Städte von enormer Größe kennengelernt. Marseille zählt 100 000 Einwohner, Lyon, die zweite Stadt Frankreichs, gar 150 000. Wer aus Ajaccio stammt, das mit seinen 4000 Einwohnern die Nummer eins in Korsika ist, reibt sich die Augen. Brienne wiederum ist ein Nest, aber auf andere Weise gewöhnungsbedürftig. Das finstere Schulhaus wirkt abweisend. Tagsüber werden die Schüler in Uniformen gesteckt, nachts schlafen sie in Einzelzellen, die abends von einer Aufsichtsperson verriegelt werden. Als Schlafunterlage dient ein Strohsack, Decken gibt es nur in der Einzahl. Die Mahlzeiten, die im Refektorium eingenommen werden, sind nicht üppig. Als die Eltern ihren „Nabulione“ 1792 besuchen, findet Letizia ihn erschreckend mager.
Der Tagesablauf der Eleven ist streng reglementiert. Acht Stunden dauert der Unterricht. Zwei Wochen Ferien im Sommer müssen genügen. Den Lehrplan hat Kriegsminister Saint-Germain persönlich ausgearbeitet. Der Fächerkanon umfasst Mathematik, Latein, Französisch, Deutsch, Physik und Geografie. Da es sich um eine Schule für Kinder des Adels handelt, stehen zusätzlich Musik und Tanz auf dem Programm. Das Militärische im Unterrichtsplan beschränkt sich auf Lektionen über Festungsbau und Waffenkunde.
Er sei in Brienne zumeist grämlich (morose) gewesen, gesteht Napoleon Las Cases auf Sankt Helena. Lustig ist die Schulzeit für ihn wohl wirklich nicht, was weniger an der Schule liegt. Brienne ist eine vergleichsweise moderne Bildungseinrichtung, und die Annahme, Napoleon sei ein junger Törless gewesen, wird der Sache nicht gerecht. Die Professoren haben ihren Rousseau gelesen, auch die Mönche hat der Wind der Aufklärung angeweht. Selbstverständlich müssen die Schüler zur Messe gehen, doch die Patres sind keine religiösen Eiferer. Père Parault, der Schulleiter, überlässt es den Schülern, fromm zu sein oder nicht. Mit den Lehrern kommt der Junge zurecht, obwohl er leistungsmäßig keineswegs brilliert. Latein interessiert ihn nicht, Deutsch, das von einem Monsieur Bauer unterrichtet wird, noch weniger. „Seine“ Fächer sind eindeutig Geschichte und Mathematik. „Die Erste entwickelt das Genie, die Zweite ordnet das Handeln“, erklärt er später ohne Selbstironie.29 Zustatten kommt ihm ein phänomenales Gedächtnis. „Als Junge kannte ich die Logarithmen von dreißig oder vierzig Zahlen auswendig.“ Weniger gut geht es mit den Kameraden. Bereits dem Schulleiter in Autun war bei dem Jungen eine gewisse Ungeselligkeit aufgefallen. „Er hatte keine Spielkameraden und ging immer allein herum.“30 In Brienne hält diese Auffälligkeit an. Napoleon schließt sich ab, seine Absonderung wird als Hochmut wahrgenommen, er ist unbeliebt. Das berichtet wenigstens der Mitschüler Bourienne in seinen Erinnerungen.31 Zweifellos leidet Napoleon unter Anpassungsschwierigkeiten. Joseph fehlt ihm. Es fehlen ihm auch Sonne und Meer. Brienne liegt in jenem Teil der Champagne, dessen Vorzüge nicht im Meteorologischen liegen und von dem de Gaulle gesagt hat, vom douce France der Dichter spüre man dort wenig. Es regnet häufig, und wer im mediterranen Licht aufgewachsen ist, kann sich leicht wie ein Verstoßener aus dem Paradies vorkommen. Einfach hat Napoleon es wirklich nicht. Sein unzulängliches, korsisch eingefärbtes Französisch macht ihn zur Zielscheibe des Spotts. Außerdem ist er klein. Auf Gleichaltrige wirkt das wie eine Einladung, ihr Spiel zu treiben. Man wirft ihm heimlich Eisstücke ins Wasserglas und hängt ihm den Spitznamen paille-au-nez an, was sich mit „Nasenpopel“ übersetzen lässt.32 Interessant ist, wie er auf das Mobbing reagiert. Man behandelt ihn als Außenseiter? Gut, dann will er Außenseiter sein. Tollen die anderen herum, verkriecht er sich mit seinen Büchern in eine Ecke des Gartens. 20 Jahre später gesteht er Madame de Rémusat, einer Hofdame seiner Frau: „Ich besaß innerhalb der Umfriedung der Schule eine kleine Ecke, wo ich mich hinsetzen und ungestört träumen konnte. Ich habe immer gern geträumt. Wenn meine Kameraden diesen Ort, meinen Besitz, zu erobern suchten, verteidigte ich ihn mit ganzer Kraft.“33 Napoleon spinnt sich ein in ein Gewebe stolzer Unnahbarkeit, er ist der einsame Wolf, der niemanden braucht und der seine Schwermut genießt. Freilich weiß er sich Respekt zu verschaffen. Bei einer als militärische Übung angelegten Schneeballschlacht überwältigt er als Kommandant einer der beiden „Armeen“ den Feind durch geschickte Manöver so eindrucksvoll, dass sogar die Dorfbewohner applaudieren. Vielleicht hat die berühmte Schneeballschlacht, die der ebenso berühmte Napoleon-Film von Abel Gance in einer ellenlangen Sequenz zeigt, so gar nicht stattgefunden. Aber selbst als Anekdote rückt sie das Bild des Schülers zurecht. Napoleon tritt in Brienne als Einzelgänger auf, ein stiller Dulder ist er nicht.
Was ihm wehtut, ist, dass seine korsische Herkunft heruntergemacht wird. Korsika ist für zivilisationsstolze französischer Adelsbuben, die im Zweifel alle von Charlemagne abstammen wollen, die Barbarei, jedenfalls das Allerletzte. Wie soll der Migrant aus Ajaccio damit umgehen? Um sich als Außenseiter zu behaupten, braucht man einen Standpunkt. Napoleon fängt an, seine Heimat zu idealisieren. Dabei weiß er nur wenig über Korsika. Paoli ist für ihn ein Name, mehr nicht. Nun aber, in der Gegenwehr, wächst Paoli zur Riesengestalt, und Korsika wird zur angebeteten Heimat. Mögen ihn die französischen Kameraden hänseln – er erklärt Frankreich den Krieg. Bourienne verkündet er: „Ich werde deinen Franzosen so viel Übles antun, wie ich kann!“34 Den Vater bittet er brieflich, ihm Literatur über Korsika zu schicken, vor allem „Boswell und weitere Geschichten und Erinnerungen über dieses Reich“.35 In Brienne wird der korsische Nationalist Napoleon geboren.
Und noch eine Prägung erhält er in Brienne. Auf der Militärschule lernt der Junge, dass es Unterschiede zwischen Arm und Reich gibt. Er sei der ärmste Schüler von Brienne gewesen, erinnert sich der Kaiser Napoleon. Die anderen hätten immer Taschengeld gehabt, er niemals.36 Das ist vermutlich eine Übertreibung. In Brienne sind vier von zehn Schülern Stipendiaten, das heißt, auch andere sind nicht auf Rosen gebettet. Aber wenn man sich generell zurückgesetzt fühlt, wiegt jeder Unterschied doppelt. Die meisten Mitschüler kommen eben doch aus Elternhäusern, wo an Geld kein Mangel besteht. Sie führen in der Schule einen aristokratischen Lebensstil en miniature vor und leisten sich Vergnügungen, bei denen Napoleon nicht mithalten kann. Der Stachel sitzt tief. Ist Napoleon in Brienne zum Jakobiner avant la lettre geworden? Das ginge wohl zu weit. Aber die Empfänglichkeit für bestimmte revolutionäre Ideen, die er zehn Jahre später an den Tag legen wird, könnte mit der Erfahrung sozialer Distinktion zu tun haben, die er als Schüler macht.
Aus dem fünften und letzten Jahr in Brienne hat sich ein Brief erhalten, der nicht nur deshalb bemerkenswert ist, weil die Zeugnisse aus dieser Zeit so rar sind. Der Brief Napoleons ist an seinen Onkel Fesch gerichtet und beschäftigt sich mit dem Wunsch Josephs, die Ausbildung zum Kleriker aufzugeben und stattdessen Offizier zu werden. Das müsse verhindert werden, erklärt Napoleon apodiktisch. „Wie schon mein lieber Vater bemerkt, besitzt er nicht den nötigen Mut, um in einer Schlacht zu bestehen. Seine schwache Gesundheit wird es ihm nicht erlauben, die Mühen eines Feldzugs zu ertragen. Mein Bruder betrachtet den Militärstand offenbar nur aus dem Blickwinkel des Garnisonslebens. Gewiss, in der Garnison würde er gute Figur machen, er hat ein angenehmes Äußeres und versteht es, Komplimente zu machen. Mit seinen Talenten wird er in den Salons immer gut abschneiden, aber im Kampf? (…) Er will beim Militär unterkommen, das ist in Ordnung, aber bei welcher Waffengattung? (…) Wahrscheinlich will er zur Infanterie. Natürlich, er will den ganzen Tag über nichts tun und herumscharwenzeln. Und was ist das schon, so ein kleiner Infanterieoffizier! Dreiviertel des Tages ein unnützer Kerl, und das ist es doch nicht, was mein Vater und meine Mutter oder unser Onkel, der Archidiakon, wollen, schließlich hat er schon genug Beweise von Leichtsinn und Verschwendungssucht geliefert.“ Besser wäre es, der Bruder würde wie abgemacht die Soutane anziehen; er würde dann sicher bald Bischof werden und in der Lage sein, die Familie zu unterstützen.37
Für einen noch nicht ganz 15-Jährigen ist dieser Brief ein starkes Stück. Wie Napoleon den Älteren abkanzelt! Weshalb mischt er sich überhaupt in dessen Angelegenheiten ein? Rückschauend muss man sagen, dass Napoleon Joseph ziemlich zutreffend beschreibt. Joseph ist beileibe kein Dummkopf. Er hat ein einnehmendes Wesen. Aber er ist weich, und sein berufliches Hin und Her beweist in Napoleons Augen eine Unentschlossenheit, die sich die Bonapartes nicht leisten können. Die Familienkasse ist leer, da sind die älteren Kinder in der Pflicht. Wenn Joseph in seiner Ausbildung Pirouetten dreht, kann er nur mit Verspätung in die Kasse einzahlen, und das ist, so meint Napoleon, rücksichtslos. Der Brief spiegelt einerseits das ausgeprägte Selbstbewusstsein des Verfassers, kehrt aber auch den starken Familiensinn des Jungen heraus. Napoleon denkt für den Clan, und wenn Joseph das nicht tut, verdient er eine Zurechtweisung.
Ende Oktober 1784 sagt Napoleon Brienne ade, die Zulassung zur École royale militaire von Paris hat er in der Tasche. Sein Abschlusszeugnis ist mittelmäßig, bloß in Mathematik ragt er heraus. Er selbst gibt sich im Rückblick gute Noten: „Ich dachte schneller als andere, was mir immer die Zeit zum Nachdenken ließ.“38 Fünf Jahre hat er gepaukt und sich in einer nicht immer einfachen Umwelt behauptet. Der Zufall wird ihn noch zweimal an seinen Schulort führen. Als er 1805 in Brienne Station macht, ist aus dem „Nasenpopel“ ein Kaiser geworden. Er kommt gerade aus Mailand zurück, wo er sich die Eiserne Krone der Langobarden aufs Haupt gesetzt hat. Nachdenklich betrachtet er die steinernen Reste des inzwischen zerstörten Schulhauses und plaudert mit den Bediensteten, von denen er noch einige kennt. Und wieder ein scharfer Schnitt: Am 29. Januar 1814 besiegt er, unweit der ehemaligen Schule, eine preußisch-russische Einheit unter Blücher. Der Erfolg wendet das Kriegsglück nicht mehr. Drei Monate nach der letzten Begegnung mit Brienne hat er die Krone der Langobarden und die von Frankreich verloren.
Der Ehemalige vergisst seine Lehrer nicht. Als Erster Konsul macht er einen seiner Brienner Professoren, den Abbé Dupuis, zum Bibliothekar im Sommerschlösschen Malmaison. Napoleons Dankbarkeit bezeugt auch folgende Geschichte. Eines Tages lässt sich ein Mann bei ihm melden, der nach Angaben des Kammerdieners Constant ziemlich heruntergekommen aussieht. Es ist der Lehrer, der in Brienne vergeblich versucht hat, Napoleon Schönschrift beizubringen. Wahrscheinlich war der kleine Korse sein schwierigster Fall. Ungeachtet der Bedenken des Kammerdieners wird der Mann empfangen und erhält vom Kaiser eine stattliche Pension.39 Unerfreulich ist die Wiederbegegnung mit dem Mathematik-Repetitor Pichegru. Pichegru ist vom Lehrfach ins Militärfach gewechselt, General geworden und gehört 1804 zu einer Verschwörergruppe, die Napoleon nach dem Leben trachtet. Die Verschwörung fliegt auf, Pichegru erhängt sich in einer Zelle.
Im Oktober 1784 macht Napoléonne de Buonaparte, wie er in den Akten heißt, seine erste Bekanntschaft mit Paris, jener Stadt, von der aus er einmal den halben Weltkreis regieren wird. Gern würde man wissen, was er beim Eintritt in die Metropole empfindet, doch hat er sich dazu nie geäußert. Paris zählt damals rund 600 000 Einwohner, dagegen waren Brienne und Ajaccio Einsiedeleien. Das Stadtbild ist noch immer von der reichen Bautätigkeit Ludwigs XIV. geprägt. Neueren Datums ist die École militaire. Der weitläufige Gebäudekomplex auf dem linken Seine-Ufer, neben Invalidendom und Marsfeld gelegen, ist erst 1772 fertiggestellt worden. Für die Errichtung hatte sich vor allem Madame Pompadour, die Mätresse Ludwigs XV., stark gemacht. Ursprünglich gedacht als Bildungsanstalt für Kinder des verarmten Adels, findet man unter den Kadetten auch Montmorencys und Rohans, das heißt, Sprösslinge der vornehmsten Adelsgeschlechter. An der École militaire haben die Schüler ordentliche Betten, das Essen wird von Dienern serviert. Im Ganzen werden die jungen Leute wie Offiziere behandelt. Napoleon bleibt ein Jahr in Paris. Er hat jetzt Freunde, keine Rede mehr vom paille-au-nez, auch nicht von sozialer Demütigung. Das militärische Ambiente schleift Unterschiede ab, vielleicht wirkt die Präsenz der Rohans und Montmorencys sogar integrativ. Wer zu diesen Kreisen gehört, hat es nicht nötig, sich zu messen, umgekehrt ist der Konkurrenzkampf mit ihnen von vornherein aussichtslos. An der École militaire lernt Napoleon die désinvolture bewundern, die entspannte Selbstsicherheit, die den Stil dieser Klasse prägt. Als Kaiser wird er eine auffällige Neigung für die Träger großer Namen an den Tag legen, die sich wohl am besten durch die Anziehungskraft des Gegensätzlichen erklären lässt. Désinvolture ist etwas, wonach ein Aufsteiger vergeblich strebt.
Von der Stadt bekommt Napoleon nicht viel zu sehen. Der Internatsbetrieb ist fordernd. Schon um sechs Uhr früh muss man zur Messe antreten. Die Freizeit ist eng bemessen. Der Fächerkanon, der an der Schule unterrichtet wird, unterscheidet sich nur unwesentlich von dem in Brienne, das heißt, mit der militärischen Praxis kommt hier niemand in Berührung. Die Lehrzeit wird erst in der Garnison beginnen, und zwar bei null. Bei der Wahl der Waffengattung entscheidet sich Napoleon für die Artillerie. Eine Empfehlung für die Marine, die mit seinen mathematischen Fähigkeiten begründet wird, schlägt er aus, angeblich wegen des Einspruchs seiner besorgten Mutter. Wahrscheinlicher ist, dass Napoleon die Vor- und Nachteile sorgfältig abwägt. Die von dem Ingenieur Gribeauval reformierte Artillerie steht aktuell hoch im Kurs. Führende Militärtheoretiker sind der Ansicht, dass ihr in künftigen Kriegen eine Hauptrolle zufallen werde. Außerdem soll es für Offiziere ohne Standesvorteil bei der Artillerie leichter sein voranzukommen als in anderen Waffengattungen. Mit seiner Wahl liegt Napoleon richtig. Bei der allgemeinen Abschlussprüfung landet er unter 58 Kandidaten auf Platz 42, was wirklich nicht überwältigend ist. Dagegen schneidet er bei einem Spezialexamen für die Artillerie so gut ab, dass ihm ein weiteres Schuljahr geschenkt wird und er sofort in den aktiven Dienst eintreten darf. Die Ernennung zum Unterleutnant im Alter von 16 Jahren und 15 Tagen – so genau hat er es berechnet – markiert für den Jungen aus Korsika ein Ereignis, auf das er ewig stolz sein wird.
Das geschenkte Jahr ist ein Segen für die Familie. Napoleon erhält jetzt Sold, und Geld brauchen die Bonapartes im Moment dringender als je. Im Vorjahr ist Charles Bonaparte im Alter von 38 Jahren gestorben (25. Februar 1785), wahrscheinlich an Magenkrebs. Charles hinterlässt den Seinen eine Menge Verpflichtungen. Er war nicht gut beraten, als er in die Trockenlegung eines der der Familie gehörenden Sumpfgebiete investierte, um dort Maulbeerbäume für die Seidenraupenzucht zu pflanzen. Die königliche Regierung hatte ein entsprechendes Förderprogramm für Korsika aufgelegt, und Charles erhielt aus den Fördermitteln ein hohes Darlehen. Aber die Zucht kam nicht voran, die Regierung kürzte das Programm und forderte das Darlehen zurück. Jetzt sitzt die Familie auf einem Schuldenberg.
Mit dem Abgang von der École militaire ist Napoleons schulische Laufbahn abgeschlossen. Was hat er gelernt? „Mathematik und Plutarch“, lautet die summarische Antwort des Napoleon-Forschers Patrice Gueniffey, nicht viel also.40 Das Schulwesen Frankreichs steht Ende des 18. Jahrhunderts unter Beschuss. Es ist eine Domäne der Kirche, auch deshalb lassen die Philosophen der Aufklärung an ihm kein gutes Haar. Sie monieren, es werde zu viel lateinische Grammatik und klassische Geschichte gelehrt und zu wenig französische Grammatik, französische Literatur und französische Geschichte. Die Kritik bleibt nicht ohne Widerhall, aber die Reformansätze sind unsystematisch und widersprüchlich. Ein Beispiel: Wenn in Brienne Deutschunterricht erteilt wird, geschieht das deshalb, weil der Kriegsminister das preußische Militärwesen für überlegen hält und meint, möglichst alle Offiziere sollten Deutsch verstehen; nur so könne Frankreich den Rückstand aufholen. Auf der anderen Seite profitiert Napoleon an der École militaire von einem hochkarätigen Lehrkörper, zu dem unter anderen der Chemiker Louis Monge und der Physiker und Astronom Pierre-Simon Laplace gehören. Laplace, der ihm das Examen abnimmt, erhält später ein Ministeramt. Monges Bruder Gaspard, ein renommierter Mathematiker, darf Napoleon auf der Ägypten-Expedition begleiten.
Als Herrscher prahlt Napoleon gern mit seiner Bildung. Goethe, den er 1808 in Erfurt trifft, hält er einen logischen Fehler im Werther vor. Carl Theodor von Dalberg, Fürstprimas des Rheinbundes, muss sich bei einem Stegreifdiskurs über die Goldene Bulle vom Franzosenkaiser korrigieren lassen. Napoleon kennt das Jahr ihrer Verleihung genauer als der hochgebildete deutsche Bischof. Den Code civil* schreibt Napoleon natürlich so wenig wie Justinian den Corpus iuris civilis selbst verfasst hat. Aber er nimmt an den Beratungen teil, präsidiert bei wichtigen Sitzungen und überrascht die Spezialisten mit der Kenntnis römischer Gesetze, die er sich als unterbeschäftigter Garnisonsoffizier im Selbststudium angeeignet hat. Mit seiner schnellen Auffassung und der Gabe, Fakten und Zusammenhänge abrufbereit im gewaltigen Speicher seines Gedächtnisses aufzubewahren, schafft er sich ein präsentes Wissen, das jeder anspruchsvollen Konversation standhält. Trotzdem ist ihm bewusst, wie lückenhaft seine Bildung ist. Deshalb liest er immerfort. Sein Bücherkonsum hat nichts Kulinarisches, er ist der Treibstoff eines zweiten Bildungsweges, auf dem er nachzuholen trachtet, was andere ihm voraushaben.
Schon in Brienne war er der beste Kunde der Schulbibliothek. Als junger Leutnant in Valence setzt er die Jagd nach Büchern fort. „Ich liebte die Welt nur mäßig und lebte sehr zurückgezogen. Ein glücklicher Zufall hatte es gefügt, dass ich in der Nähe eines kundigen und zuvorkommenden Bibliothekars wohnte. Ich habe in den drei Jahren seine Bibliothek gelesen und wieder gelesen und alles behalten, auch das, was nichts mit meinem Beruf zu tun hatte.“41 Napoleons Lektürefavoriten sind die griechischen und römischen Geschichtsschreiber, allen voran Plutarch, der Meister der Biografiekunst. Wären Alexander und Cäsar seine Helden ohne Plutarchs Doppelbiografie? Vom Leben des Hannibal erfährt er über Cornelius Nepos. Selbstverständlich kennt er die Werke Cäsars und Ciceros; auch Sallust und Vergil hat er gelesen. In der Abteilung Philosophie macht er sich mit den Schriften Voltaires und Diderots vertraut. Er bewundert den Abbé Raynal, den er einmal besucht; Rousseau himmelt er eine Zeit lang an. Unter den französischen Dramatikern steht bei ihm Corneille auf Platz eins, gefolgt von Racine. Wie Goethe und Madame de Staël liebt er den Ossian; es ist die einzige Neigung, die er mit der literarisch ambitionierten Tochter Neckers teilt. Auf Sankt Helena nimmt er sich – in einer italienischen Ausgabe – zum wiederholten Mal den Ossian vor, obwohl er zu diesem Zeitpunkt vermutlich weiß, dass das „keltische Nationalepos“ eine Fälschung ist.
So lausig, wie Stendhal behauptet, ist die Bildung Napoleons demnach ganz und gar nicht.42 Die Monarchen seines Nahbereichs übertrifft er – sieht man von Friedrich II. ab – auch in dieser Hinsicht um Längen. Richtig ist, dass er keine Universität besucht hat und seine Lektüre nicht angeleitet ist. In vielem blieb er ein Autodidakt. Mit der politischen Philosophie beschäftigt er sich nur bruchstückhaft. Montesquieu soll er gelesen haben, doch hinterlässt die Lehre von der Gewaltenteilung in seiner Herrschaftspraxis keine Spuren. Aus seiner Bewunderung für Rousseau wird im Laufe der Jahre Ablehnung. Als er in späteren Jahren das Grab des großen Jean Jacques im Park von Ermenonville aufsucht, äußert er etwas undurchsichtig: „Vielleicht wäre es für die Ruhe der Erde besser gewesen, wir beide hätten nicht gelebt.“43 Dem Realisten verursachen die Philosophen Juckreiz; sie stören mit ihrer Scholastik nur das Regieren.