Читать книгу Napoleon - Günter Müchler - Страница 17

Toulon

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Napoleon kann sich dem Bürgerkrieg so wenig entziehen wie die Armee insgesamt. Einer seiner ersten Aufträge ist, Munitionstransporte nach Avignon zu führen, das General Carteaux von den Föderierten zurückerobern soll. Der Auftrag ist nicht besonders ehrenvoll und auch nicht anstrengend. So findet der Hauptmann Napoleon Muße, ein eigentümliches Stück Literatur zu schreiben, Das Souper von Beaucaire.96 In diesem fiktiven Streitgespräch, das der Autor in der unweit von Avignon gelegenen Stadt Beaucaire stattfinden lässt, diskutieren Bürger aus Marseille einerseits, aus Montpellier und Nîmes andererseits sowie ein Offizier über die Standpunkte im Bürgerkrieg. Der Offizier, hinter dem sich der Verfasser verbirgt, erklärt den Konflikt für unsinnig. Denn erstens sei das Trennende überbrückbar, und zweitens der Aufstand hoffnungslos. Gegen die reguläre Armee habe er keine Chance. Ein Seitenhieb auf Paoli darf nicht fehlen. Paoli habe alles getan, um die Sache der Revolution zu schädigen. „Er plünderte und beschlagnahmte die Güter der wohlhabendsten Familien, weil sie der einheitlichen Republik zugetan waren.“ Der Offizier will überzeugen. Statt das Schwert des Propheten zu ziehen, appelliert er an die praktische Vernunft. Die Kernbotschaft lautet: Die Konventsregierung ist nicht nur im Recht, sie hat auch die besseren Karten. Das Souper gehört zu den qualitativ besten Schriften Napoleons. Unverkennbar ist die Wirkabsicht des Autors, der als Kommentator der Krise wahrgenommen werden möchte. Saliceti, dem Napoleon die Schrift zeigt, ist angetan. Noch wichtiger ist das Lob von Augustin Robespierre. Der jüngere Bruder des „Unbestechlichen“ fungiert als politischer Kommissar des Konvents im Midi, und weil er einen Leitfaden für die Propagandaschlacht sucht, lässt er das Souper auf Staatskosten drucken und verbreiten. Für den Hauptmann Bonaparte ist das ein Erfolg. Er hat erstmals auf sich aufmerksam gemacht – als politischer Propagandist. Die Robespierre-Partei führt seinen Namen jetzt auf der Liste förderungswürdiger Offiziere.

Diese Liste ist nicht sehr umfangreich, was an der widersprüchlichen Militärpolitik der Konventsherren liegt. Einerseits hat man der Armee durch die Levée en masse neue Kräfte in erheblichem Umfang zugeführt.97 Andererseits vernachlässigt man die Professionalisierung. Die oberen Ränge der Armee sind dezimiert, weil viele Offiziere zu den Bourbonen übergelaufen sind. Außerdem lichtet das Misstrauen, das die Jakobiner als Methode der Herrschaftssicherung praktizieren, die Reihen. Allein 1793 verlieren 1300 Offiziere ihre Funktion, Generäle werden eingekerkert oder enthauptet.98 Um ja keinen Kommandeur zu stark werden zu lassen, werden jeder Armee Politkommissare beigeordnet, die sich auch in operative Angelegenheiten einmischen. Erfolgreiche Generäle geraten leicht unter Putschverdacht, weniger erfolgreiche halten sich, weil sie über eine gute politische „Kaderakte“ verfügen. Zu dieser Kategorie gehört der General Jean-François Carteaux, ein hauptberuflicher Maler. Zwar gelingt es Carteaux, des aufständischen Marseille Herr zu werden. Das nachfolgende Strafgericht über die fédérés ist schrecklich. Aber bei der Belagerung des ungleich wichtigeren Toulon stößt Carteaux an seine Grenzen. Toulon ist Frankreichs Marinebasis am Mittelmeer. Ende August haben sich hier auf Einladung der örtlichen Föderierten 15 000 Engländer und Spanier unter Admiral Hook festgesetzt. Sie stärken den Aufständischen den Rücken. Gelingt es ihnen, Toulon als Einfallstor für eine Invasion zu nutzen, droht der ganze Süden Frankreichs an die Konterrevolution verloren zu gehen.

Als Transporteur von Munition fühlt sich Napoleon unterfordert. Er will dorthin, wo ein wirklicher Krieg geführt wird. Aber sein Versetzungsgesuch zur Rhein-Armee lehnt das Kriegsministerium ab. Stattdessen wird er im September nach Toulon geschickt. Dommartin, der Kommandeur der Artillerie am rechten Flügel des Belagerungsrings, fällt wegen einer Verletzung aus. Saliceti und sein Kollege Gasparin, auch er ein linker Konventsabgeordneter und der Italienarmee beigeordnet, überreden Carteaux, Dommartin durch den jungen Bonaparte zu ersetzen. Napoleon wird zum Bataillonschef im 2. Artillerieregiment ernannt. Sofort entfaltet er eine rege Aktivität. Er gruppiert die Geschützstellungen um und beweist sein Talent, Soldaten zu motivieren. Einer besonders exponierten Batterie gibt er den Namen „Batterie der Furchtlosen“. So etwas stachelt den Ehrgeiz an. Der Geschützpark, den er vorfindet, verfügt über magere 14 Kanonen und vier Mörser. Es fehlt an Munition. Napoleon schreibt wütende Briefe nach Paris und lässt Emissäre bis nach Grenoble und Lyon ausschwärmen, um zu requirieren, was vor Toulon fehlt. Seine Energie zahlt sich aus. Am Schluss der Belagerung unterstehen ihm elf Batterien mit 100 Kanonen und Mörsern. Er organisiert eine eigene Munitionsfabrik und lässt Spezialöfen bauen, mittels derer die Geschosse erhitzt und wirkungsvoller gemacht werden können.99 Die Artillerie ist wirklich „seine Waffe“. Und noch eine Fähigkeit des Hauptmanns tritt hervor. Mit sicherem Blick für das Terrain erkennt er, wie man Toulon erobern kann. Man muss die Flotte angreifen. Von einem geeigneten Punkt aus muss man die Schiffe bombardieren und zum Auslaufen zwingen. Dann erst kommt die Stadt an die Reihe. Auf sich gestellt werden die Aufständischen der Belagerung nicht standhalten. „Wer Herr des Hafens werden will, muss Herr von Éguillette sein“, schreibt er dem Kriegsminister.100 Éguillette ist eine Landzunge, die zwischen dem äußeren und inneren Hafen von Toulon liegt und beide beherrscht. Sie wird gesichert durch Fort Mulgrave. Ist das Fort ausgeschaltet, sind die ankernden Schiffe den Angreifern schutzlos ausgesetzt. Der Plan ist Napoleon nicht durch Intuition zugefallen. Genie setzt Arbeit voraus. Während seine Kameraden Karten gespielt haben, hat er so lange die Topografie studiert, bis er davon überzeugt ist, den Schlüssel zum Erfolg gefunden zu haben. Allerdings steht der unfähige Carteaux seinem Plan reserviert gegenüber. Wertvolle Zeit verstreicht. Offen kritisiert Napoleon Carteaux’ Entschlusslosigkeit. Von Subordination ist bei diesem ehrgeizigen Nachwuchsoffizier wirklich keine Spur. Wenn er sich beispielsweise über die Versorgungsengpässe beklagt, für die er das Kriegsministerium verantwortlich macht, ist sein Ton selbstbewusst und die Aussage bestimmt: „Man kann 24 Stunden ohne Essen auskommen, notfalls auch 36 Stunden, aber nicht drei Minuten ohne Schießpulver“, schreibt er Saliceti und Gasparin.101 Er weiß die beiden grundsätzlich auf seiner Seite. Sie haben sich seinen Angriffsplan zu eigen gemacht und erwirken beim Comité du salut public, dem allmächtigen Wohlfahrtsausschuss, die Ablösung Carteaux’, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass „Buona Parte [!] als einziger Hauptmann der Artillerie in der Lage [ist], diese Pläne umzusetzen“.102 Carteaux’ Nachfolger Dugommier gibt am 17. Dezember den Befehl zum Angriff. Grundlage ist die Planung Napoleons. Um Fort Mulgrave entbrennt ein Nahkampf, in dessen Verlauf Napoleon durch einen Bajonettstoß am Bein verwundet wird. Nach fünf Stunden ist das Fort gestürmt. Jetzt nimmt die Artillerie von Éguillette die ankernde Flotte unter Beschuss. Zwei spanische Munitionsschiffe fangen Feuer. Die Explosionen bestätigen hörbar die Richtigkeit von Napoleons Rechnung. Am 18. Dezember evakuieren die Engländer die Reede von Toulon. Es folgt der Einmarsch in die Stadt. Die Sieger richten ein Blutbad an. 700 Aufständische werden exekutiert. Toulon wird zur Strafe in Port-la-Montagne („Berghafen“) umgetauft, was immer noch besser ist als Ville-sans-nom („Stadt ohne Namen“), wie Marseille von nun an heißt. Napoleon ist an der brutalen Strafaktion unbeteiligt, anders als sein Bruder Joseph, der mit Salicetis Protektion zum Kriegskommissar ernannt worden ist. Vier Tage nach der Kapitulation von Toulon wird Napoleon zum Brigadegeneral ernannt. Die offizielle Bestätigung erfolgt ein paar Wochen später. Zuvor muss der Generalsanwärter ein Papier ausfüllen. Die delikateste Frage, die zu beantworten ist, lautet: „Adlig oder nicht adlig?“ Napoleon zieht es vor, den Hahn krähen zu lassen.

Die Schulbücher verzeichnen Toulon als Startrampe für Napoleons Höhenflug. „Dort beginnt seine Unsterblichkeit“, befindet Emmanuel de Las Cases, Begründer der Napoleon-Apotheose, die mit Sankt Helena einsetzt.103 Das ist insofern übertrieben, als Napoleon sich erst mit dem Italienfeldzug landesweit einen Namen macht. Aber in Toulon liefert er erste Proben der Fähigkeiten, die ihn bald berühmt machen. Sein Plan zur Befreiung von Toulon enthält wichtige Elemente, die sich in der taktischen Anlage seiner großen Schlachten wiederfinden: den Flankenmarsch und die Konzentration der Kräfte auf einen Punkt. Er selbst wird behaupten: „Der Krieg ist eine eigene Kunst. (…) Ich habe 60 Schlachten geliefert und nichts gelernt, was ich nicht schon in der ersten wußte.“104 Vorhanden ist auch bereits die ungewöhnliche Ausstrahlung seiner Persönlichkeit. Diejenigen, die dem mageren jungen Offizier mit dem gelben Teint in den Tagen von Toulon begegnen, sind frappiert von seinem Willen und seiner Überzeugungskraft. „Ich bewunderte ihn zutiefst“, gesteht Marmont, der nicht nur gute Zeiten mit Napoleon haben wird. „Ich fand ihn in allem, was ich bis dahin erlebt hatte, turmhoch überlegen. Seine Gespräche im privaten Kreis waren tiefschürfend und hatten Charme, in seinen Gedanken lag so viel Zukunft.“105 Junot antwortet seinem Vater auf die Frage nach dem Phänomen Bonaparte: „Um es zu begreifen, müsste man er selbst sein. Ich kann jedoch sagen, dass er, soweit ich ihn zu beurteilen vermag, zu den Menschen gehört, mit denen die Natur äußerst sparsam ist und die sie nur einmal im Jahrhundert in die Welt entlässt.“106 Napoleon lernt Marmont und Junot, junge Offiziere wie er, vor Toulon kennen, ebenso Duroc, Desaix, Suchet und Victor, allesamt bald tüchtige Generäle. Gestützt auf diese „Boygroup“ wird er Sprosse für Sprosse der Karriereleiter nehmen.

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