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Teil I: Suche Das Wunder der Revolution
ОглавлениеAm Anfang ist die Revolution. Mit seinen Gaben würde Napoleon Bonaparte wohl auch in ruhigen Zeiten etwas aus sich machen. Er hätte das Zeug zu einem tüchtigen Offizier in der Armee des Königs; denkbar wäre auch eine Karriere als Schriftsteller oder als Entdecker. Talente besitzt er genug. Aber dass ein Außenseiter wie er, ein Kleinadliger, der dazu noch aus dem „wilden“ Korsika stammt, mit 35 Jahren Kaiser der Franzosen und Beherrscher von halb Europa ist, dazu bedarf es des Wunders der Revolution.
Wie ein Tsunami zertrümmert die Revolution, was in Frankreich gewachsen und überliefert ist. Wie ein Lavastrom begräbt sie unter sich eine ganze Welt, um darauf triumphierend eine neue zu bauen. Die alte Ordnung, verkörpert im gutmeinenden, hilflosen Ludwig XVI., ergibt sich praktisch kampflos. Es rächt sich, dass man den zersetzenden Zeitgeist, die subversiven Schriften und die frechen Theaterstücke nicht für voll genommen hat. Hofleute haben mitgejohlt, wenn Beaumarchais’ Figaro die Noblesse allabendlich mit dem Satz zur Strecke brachte: „Weil Sie ein Grandseigneur sind, halten Sie sich für ein großes Genie!“ Als am 14. Juli 1789 das Pariser Stadtgefängnis gestürmt wird und das Signal zum Angriff erfolgt, ist es zu spät. Dem Ancien Régime ergeht es wie dem ehrwürdigen Sessel, der plötzlich zusammenbricht, weil die Geduldsarbeit der Holzwürmer vollendet ist. Die Philosophie, nicht mehr die Erfahrung, ist jetzt als erste Staatskunst diplomiert. Hegel überschlägt sich vor Begeisterung: „So lange die Sonne am Firmament steht und die Planeten um sie herumkreisen, war das nicht gesehen worden, dass der Mensch sich auf den Kopf, das ist auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut.“1 Vielleicht hätte der Mensch ja besser daran getan, mit den Füßen auf dem Boden zu bleiben. Aber das ist eine rückschauende Betrachtung. Die Zeitgenossen sind hingerissen von den neuen Ideen, besonders von der Idee der Gleichheit. Sogar die, die bis dahin die Früchte ihrer Vorrechte wie selbstverständlich genossen haben, sind für einen Moment von der égalité berauscht, und zwar dermaßen, dass sie in einer Orgie der Opferlust ihre Privilegien vor dem Altar der Nation niederlegen. In der denkwürdigen Nachtsitzung der Nationalversammlung vom 4. August 1789 ist es der Vicomte de Noailles, ein Angehöriger des Hochadels, der die Abschaffung der feudalen Rechte beantragt. Damit ist der Damm gebrochen.
Die égalité öffnet die Tür für den Austausch der Elite, der das Ziel jeder Revolution ist. In die Räume, die den Aristokraten vorbehalten gewesen sind, stoßen Intellektuelle vor, nicht zuletzt Juristen und Journalisten. Die Gesichter sind jung. Mirabeau rangiert, als die Bastille fällt, mit seinen 40 Jahren am oberen Ende der revolutionären Alterskohorte. Die meisten Akteure sind bedeutend jünger, Robespierre um neun, Danton und Desmoulins um elf Jahre. Saint-Just, der lockige „Todesengel“, zählt gar erst 21 Jahre. Das Paradebeispiel für die Machtübernahme der Jugend liefert die Armee. Viele hohe Offiziere sind aus Frankreich geflohen und fechten für die Gegenrevolution. Zudem leisten sich die neuen Herren in Paris den Luxus, die wenigen erfahrenen Generäle, die geblieben sind, bei Misserfolg oder politischer Unzuverlässigkeit unter die Guillotine zu schicken. Die Notwendigkeit, die unbesetzten Stellen zu füllen, macht die Armee zum bevorzugten Landeplatz für „Stegreifschöpfungen der Revolution“ (Victor Hugo). Man nehme nur Napoleons Geburtsjahrgang 1769: Aus ihm gehen die Marschälle Lannes, Ney, Soult und Joubert hervor. Nur ein Jahr älter als Napoleon sind Hoche, Desaix, Bessières und Mortier.2 Die meisten kommen aus bescheidenen Verhältnissen. Ney ist der Sohn eines Böttchers aus Saarlouis, Murats Vater war Kneipenwirt, Augereaus Vater Obsthändler. Lannes erlernte das Färberhandwerk, Junot studierte Jura. Sie alle verdanken ihren Aufstieg dem Gleichheits-Hub der Revolution. Auch Frauen machen märchenhafte Karrieren, wenngleich nur am Arm ihrer aszendierenden Ehemänner. Ganz oben in der Glückspyramide stehen die Schwestern Julie und Bernardine Eugénie („Désirée“) Clary. Die Kaufmannstöchter heiraten Emporkömmlinge, nämlich Napoleons Bruder Joseph und den späteren Marschall Bernadotte. Die eine wird einst Königin von Spanien sein, die andere Königin von Schweden.
Niemand steigt so hoch wie Napoleon. Da er aus unscheinbaren Verhältnissen kommt, wissen wir wenig über den ersten Lebensabschnitt. Sogar das Geburtsjahr steht nicht zweifelsfrei fest. Der Schriftsteller Chateaubriand führt ins Feld, Napoleon habe sich ein Jahr jünger gemacht, um als gebürtiger Franzose zu gelten. Korsika gehört nämlich bis 1768 der Republik Genua. Bis heute hat Chateaubriands Theorie Anhänger. In einem 1977 erschienenen Standardwerk über Napoleon heißt es: „Er ist jedenfalls am 5. Februar 1768 geboren.“3 Die Mehrheitsfraktion der Forschung beharrt dagegen auf dem Datum, an dem Napoleon seinen Geburtstag feiert. Sie stützt sich auf eine schriftliche Äußerung seines Vaters Carlo: „Mein Sohn Napoleon, der in Frankreich in der Militärschule sich befindet, wurde in Ajaccio am 15. August 1769 geboren“, sowie auf die Taufurkunde, die dasselbe Datum nennt.4 Man darf der kanonischen Version durchaus trauen. Andererseits ist einzuräumen, dass das Verbiegen von Lebensdaten damals verbreitet ist. Napoleons Bruder Joseph fälscht seine Taufurkunde, um sich das notwendige Alter für ein Wahlamt bei den Kommunalwahlen in Korsika 1790 zu erschwindeln.5 Napoleon selbst beurkundet einmal 1768 als sein Geburtsjahr, bei der Ziviltrauung mit Joséphine. Aber das ist wohl eine ritterliche Geste gegenüber der um sechs Jahre Älteren, die sich bei derselben Gelegenheit gleich um vier Jahre jünger macht.6
Nebulös ist die Herkunft des Vornamens. Napoleon (seine Mutter ruft ihn „Nabulione“) ist ein Vorname, der in keinem Heiligenregister auftaucht. Nach Stendhal wollten die Eltern mit der Namenswahl eines verstorbenen Onkels väterlicherseits gedenken. Einer anderen, reichlich exzentrischen Theorie zufolge geht Napoleon auf deutsche Ursprünge („Nibelungen“) zurück, nach einer weiteren soll ein Amtsschreiber „Neapel“ irrtümlich für einen Heiligennamen gehalten habe.7 Fest steht, dass „Napoleons“ hier und da in der Toskana und in Genua vorkommen.8 Der spätere Kaiser betreibt mit seinem Namen Politik. Bis zur Heirat 1796 unterschreibt er seine Briefe mit „Buonaparte“. Danach streicht er das ausländisch anmutende „u“. Er ist jetzt General der französischen Republik und nicht daran interessiert, seine korsische Abkunft hervorzuheben. Auch das Adelsprädikat „de“ unterschlägt er aus Gründen der Opportunität. Dass der citoyen Bonaparte auch einen Vornamen hat, erfahren die Franzosen erst 1802, als ihnen die Frage zur Abstimmung vorgelegt wird: „Soll Napoleon Bonaparte Konsul auf Lebenszeit werden?“ Drei Jahre später lässt Napoleon den Familiennamen ganz unter den Tisch fallen. Am Tag seiner Ausrufung zum Kaiser (18. Mai 1804) unterzeichnet er erstmals mit „Napoléon“, und dabei bleibt es. Nur Joséphine nimmt auf die Namenspolitik ihres Mannes keine Rücksicht. Bis zu ihrem Tod 1814 tituliert sie ihn „Bonaparte“, wie in jenem, in einer dramatischen Situation geschriebenen Brief vom September 1810: „Bonaparte, Du hast mir versprochen, mich nicht zu verlassen. Ich habe nur Dich auf der Welt, Du bist mein einziger Freund.“9 Wir halten es der Einfachheit halber wie die beharrliche Joséphine, bloß umgekehrt. Napoleon ist für uns Napoleon auch dann, als er sich noch Bonaparte nennt.