Читать книгу Durch die Hölle in die Freiheit - Gregor Kocot - Страница 8
Die Kirche meiner Jugend
ОглавлениеDie Kindheit ist eine sehr wichtige Zeit, und meine Erinnerungen aus dieser Zeit sind sehr positiv. Das waren nämlich die schönsten Momente, die ich erlebt habe. Mein Leben war damals sorgenfrei und bunt – wie ein Märchen.
An einen Moment kann ich mich besonders gut erinnern: Ich war noch ein kleiner Junge. Ich legte mich in mein Bettchen hinein. Als ich mich dann behaglich ausruhte, merkte ich, dass ich an nichts dachte. Mein kindliches Gehirn war von keinem Gedanken getrübt, weil ich damals keine Sorgen, Probleme oder Verpflichtungen hatte. Ich lag einfach allein da, mitten im Sommer zur Mittagszeit in einem kühlen Raum und genoss diesen wunderbaren Zustand, in dem ich mir keine Gedanken über irgendetwas machen musste. Ich war nicht bloß unbekümmert, sondern musste auch an gar nichts denken. Ich merkte dann, dass ich echt glücklich sein musste. Ich stellte fest, dass das ein richtig tolles Gefühl war. Solch einen Zustand erlebte ich nie wieder, weil ich zum Beispiel überlegte, wie ich mit anderen Kindern spielen sollte. Das war natürlich alles andere als Sorge, verlangte aber von mir eine gewisse Mühe. Diese paradiesische Muße und Unbeschwertheit erfüllten mich mit absoluter Gelassenheit. Ich fühlte mich sehr wohl.
Bis ich fünfzehn war, wohnte ich in einem kleinen, schönen Dorf 100 km südlich von Warschau und einige Kilometer westlich von Zwoleń. Die Gegend war mit vielen Wäldern bedeckt, reich an Pilzen, Beeren und Walderdbeeren. In den Wald zu gehen machte mir viel Spaß. Zunächst ging ich mit den anderen, die älter als ich waren. Später begab ich mich selbst dahin. Das Klima war auch angenehm: heiße Sommer und frostige Winter. Voller Freude erkundete ich meine Gegend. Es gab keinen hohen Baum in der Nähe meines Hauses, auf den ich nicht kletterte. Zwischen den Ästen richtete ich mir ein Häuschen ein. Dort saß ich und konnte alles rundum genau beobachten.
Außer mir meine Mutter brachte auch drei Brüder und eine Schwester auf die Welt. Ich war mitten in meinen Geschwistern. Unser Vater war ein Bauer, und dazu jobbte hier und da. Daher litten wir keinen Mangel. Wir waren eine typische polnische, katholische Familie, in der man sich das Leben ohne Gott und Glauben kaum vorstellen konnte.
Jeden Sonntag und Feiertag fuhren wir in die Kirche. Das war selbstverständlich und von der Moral her sehr nützlich. Wir zogen elegante Kleidung an, und der Vater spannte ein ordentlich geputztes und zu diesem Anlass geschmücktes Pferd vor den Wagen. Die Fahrt war nicht immer schön und angenehm, weil der Vater die Pferde ganz oft wechselte, weil er an dem Verkauf immer etwas verdiente. Die neuen Pferde bekamen immer viel Angst vor den entgegenkommenden oder an uns vorbeifahrenden großen Fahrzeugen. In solchen Fällen, die wir ganz oft erlebten, machte unser Vater alles Mögliche und überhäufte die Tiere mit Beschimpfungen, damit das verzweifelte Tier die Orientierung nicht verlor; sonst konnte es sich in der Panik unter die Räder der Autos werfen, somit “Selbstmord” begehen und auch uns zum Tode bringen. Glücklicherweise kam mein Vater mit solchen Herausforderungen unversehrt klar, weil er die Verhaltensmuster der Tiere aus Erfahrung kannte.
Eines Tages aber überlistete ihn ein Pferd, das keine Absicht hatte, sich das Leben zu nehmen. Es schätzte sein Leben allzu hoch. Als wir in die Kirche fuhren, da kam uns ein Kranfahrzeug entgegen. Unser Pferd erhob sich auf zwei Beine und blieb wie angewurzelt stehen. Vielleicht sah es vor seinen Augen, dass ein vorsintflutliches Ungeheuer auf es zukam und vorhatte es zu fressen. Das Pferd gab den weiteren Lauf auf, bog plötzlich in die Felder ab und zog den Wagen hinter sich. Es übersprang mit uns den Graben, um sich auf diese komische Art und Weise vor dem wohl grausamen Ungeheuer zu retten. Wir hatten die Ostergebäcke dabei und während das Tier seine Akrobatik auf dem Weg vollzog, verloren wir alle Leckereien aus dem Wagen. Ich wurde auch ein wenig verletzt: Ich wurde mit der angespannten Schaufel so auf Kopf geschlagen, dass ich Sterne vor den Augen sah. Immer wieder, wenn wir in die Kirche fuhren, konnte man mit verschiedensten unerwarteten Erfahrungen rechnen. Solche Erlebnisse blieben angenehm in Erinnerung und gehörten zur Tradition unserer Familie.
Ab und zu veranstalteten meine Eltern Partys für Familie und Freunde. Wir hatten eine große Erdbeerenplantage. Zur Erntezeit erhielten wir fast jeden Sonntag einen Besuch der Familie unter dem Vorwand, dass sie uns im Garten helfen wollten. In Wirklichkeit kamen sie um einfach zu feiern und ein wenig ‘Ernte” nach Hause zu holen. Mein Vater war sich dessen bewusst, aber ihn ging das nichts an, weil wir auch eingeladen wurden. Die Tische waren immer üppig gedeckt mit verschiedensten Köstlichkeiten: Bauernschinken aus heimischer Produktion, Kuchen, eigener Erdbeersaft, leckere Limonade, die zu den siebziger Jahren in Polen einfach hinzugehörte und natürlich Schnaps. Ohne Schnaps war solch ein Treffen oder irgendeine Party in Volkspolen kaum vorstellbar.
Ich sah meinen Vater nie betrunken, sah ihn nie, wie er am nächsten Tag einen Kater loswerden musste. Vom Alkohol selbst hielt er sich aber nicht fern, weil er wusste, dass er das Herz des Menschen erfreut. Er war an keiner Saufschau interessiert, weil er wusste, dass er für sich selbst und die Familie verantwortlich war. Sein bester Kamerad war sein Schwager, Onkel Władek. Auf den gemeinsamen Partys war er die Seele der Gesellschaft. Er lachte, scherzte großzügig und konnte auch die Griesgrame zum Lachen bringen. Er wusste jeden Einzelnen aufzumuntern.
Onkel Władek revanchierte sich gerne bei meinem Vater für seine Gastfreundschaft. Er wohnte in dem benachbarten Dorf, wo sich die Kirche befand. Wenn wir nach dem Gottesdienst zurück nach Hause fahren wollten, hielt er uns an drängte darauf, dass wir in seinen Hof einfuhren. Er tat es so, als ob er ein Fürst gewesen wäre, der seine Macht nach Belieben ausübte, und seinem Wunsch nicht nachzugehen konnte folgenschwer sein. Daraufhin hat unser Vater in solchen Situationen nie protestiert, sondern ließ sich gerne “entführen”. Die Mutter war auch sehr zufrieden, weil sie sich mit ihrer Schwester etwas unterhalten konnte. Letztendlich war der Sonntag dazu geschaffen, sich von der Arbeit zu erholen. Das war selbstverständlich, manchmal sogar sehr gewünscht, und meine Eltern wussten davon. Diese Momente habe ich sehr wohl in Erinnerung, weil ich dann viele Kostbarkeiten genießen konnte, die am normalen Arbeitstag nicht auf dem Tisch zu finden waren.
Die Freundschaft zwischen meinem Vater und Onkel Władek entwickelte sich erst in den Siebzigern, zu Zeiten, als in Polen Edward Gierek an der Macht war. Früher lief es zwischen ihnen nicht so gut. Es kam zu heftigen Wortwechseln und regelrechten Familienstreitereien. Onkel Władek hatte zwei Gesichter, was seine Familie immer wieder zu spüren bekam. Meine Familie erlebte das auch, doch in deutlich geringerem Maße. Er fand sogar einen gewissen Gefallen daran, Konflikte im engen Familienkreis anzuzetteln, sonst hatte er den Eindruck, dass das Leben zu monoton wurde. Letzten Endes führte er auch immer zur Versöhnung und verhielt sich so, als ob nichts passiert wäre. Den Betroffenen, die anderer Meinung waren, antwortete er mit höhnischem Lachen und einem winzigen Anflug von Herzlichkeit. Er explodierte vor Freude. Ein unbeteiligter Beobachter konnte in dem Onkel eine frohmutige Person erkennen, die herzlich lachte, weil sie gerade eine frohe Botschaft erhielt oder etwas Witziges hörte. Leider was das nicht der Fall. Die dunkle Seite seiner Natur, die danach gerichtet war, die anderen zu missbrauchen und zu quälen, nahm immer überhand. Sie tarnte sich aber sehr gut unter dem Mantel der Herzlichkeit und Gastfreundschaft. Onkel Władek war eine sehr kontroverse Figur, aber er kam damit gut zurecht und konnte alle Situationen mit Humor nehmen, auch wenn er gleichzeitig den anderen zusetzte. Mit Stress hatte er nicht viel am Hut.
Als er eines Tages mit dem Pferdewagen fuhr, und Walek, ein Nachbar, der ihm gut vertraut war, überholte ihn mit dem Fahrrad, haute er ihn mit der Peitsche. Der Onkel wollte dadurch sein Gemüt aufhellen. Derartige Streiche kamen ihm nicht immer zugute. Der geschlagene blutende Nachbar fing an, den Onkel mit Steinen zu bewerfen. Jetzt nutzte Władek die Peitsche zu ihrem ursprünglichen Zweck, trieb die Pferde ordentlich an und rettete sich dadurch in die Flucht. Als der Vorfall bei der Bürgermiliz angezeigt wurde, zeigte sich der Onkel während des Verhörs so schlau und vergnüglich, dass er ungeschoren davonkam und schob dem Nachbar die ganze Schuld zu. Er behauptete, dass Walek betrunken gewesen wäre und so taumelte, dass er beinahe unter den Wagen geriet. Um das Leben des Nachbarn zu retten, musste er ihn mit der Peitsche abschrecken.
Im Laufe der Zeit wurde Onkel Władek zu einem guten Freund meines Vaters und auch ich gewann ihn lieb. Seine gelassene Art schenkte ihm ein langes und einigermaßen wohlhabendes Leben. Er hat alle seinen Gleichaltrigen und auch die Jüngeren überlebt. Er verließ die Welt in Ruhe. Am Ende seines Lebens hielt er sich fest an den Glauben und die katholische Kirche.
Ich nahm immer mit Vergnügen an den dörflichen Feiern aus Anlass der Kirchweih teil. Es wurden viele Buden mit verschiedensten Spielzeugen eingerichtet, und eine unzählige Menschenmenge drängte sich um die Kirche. Ich war besonders gespannt auf die Korkenpistolen, d.h. die Kinderpistolen, die mit Zündhütchen und Korken mit Schießpulver geladen werden konnten. Wie alle Kinder in dem Dorf arbeitete ich in dem Bauernhof. In diesem schönen Ort am Busen der Natur fühlte ich mich sehr wohl. In der heißen Sommerzeit stellte ich mir vor, dass ich in Afrika war und die Tiere jagte. Als in noch ein Kind war, ging ich mit meiner Schwester Barbara und anderen Kindern gerne zur Rorate messe und zur Christmette. Manchmal kam ich auch die zwei älteren Brüder mit. Auch starke Winter, heftige Schneegestöber und dicker Schnee schreckten mich dabei nicht ab und nahmen mir nicht die Lust, in die Messe zu gehen. Im Gegenteil. Ich fühlte mich dann wie ein Eroberer des Südpols, der durch die Schneefelder streifte. Selbstverständlich ging ich nicht alleine. Es gab viele Draufgänger wie mich. Ich wurde beispielhaft in dem katholischen Glauben erzogen. Nach der Taufe und der ersten Kommunion ging ich an neun ersten Freitagen hintereinander zur Beichte und empfing die Kommunion. Dann ließ ich mich firmen. Ich malte gerne, und so entstanden viele Andachtsbildchen mit Heiligen-Motiven. Einige davon habe ich der Kirche geschenkt.
Als ich fünfzehn war, zog ich zum Internat an der Schule in Gliwice um. Dort hatte ich viel weniger Kontakt mit der katholischen Tradition, und meine Begeisterung am Glauben nahm deutlich ab. Jedes Mal, wenn ich aber das Familienhaus besuchte, nahm ich gerne am Gottesdienst teil, weil das mir eine große Freude bereitete und mir meine sorgenfreie Kinderjahre in Erinnerung brachte.
Zu meiner Kindheit kehrte ich in meinen Träumen auch viele Jahre später zurück. Es kamen dann für mich so schwierige Zeiten, dass mein Leben nicht nur ins Stocken kam, sondern anfing, sich rückwärts zu entwickeln. Die Erinnerungen aus meiner unbeschwerten Kindheit gaben mir in diesen Momenten die psychische Kraft dazu, mich mit den Widrigkeiten des Schicksals auseinanderzusetzen, die mich überstiegen.