Читать книгу Durch die Hölle in die Freiheit - Gregor Kocot - Страница 9
Die Fantasien des älteren Bruders
ОглавлениеEdward, mein älterer Bruder, hatte eine lebhafte Vorstellungskraft. Ich möchte nun zwei Geschichten erzählen, die einen großen Eindruck auf mich machten und meine kindliche Vorstellungskraft tief berührten.
Eines Tages ging ich mit Edward spazieren. Wie früher erwähnt, war unser Dorf von staatlichen und privaten Wäldern umringt. Das war nämlich meine erste Exkursion in die benachbarten Wälder, die zum Teil zu unserer Familie gehörten. Ich war wie ein Erforscher dieser majestätischen Natur. Die unheimlichen Geschichten, die mir mein Bruder in dem Wald erzählte, weckten meine Vorstellungskraft enorm. Ich war wie ein Zwerg, der zwischen den Farnen am Waldrand entlanglief. Alles rund um mich war erstaunlich, wunderbar und fabelhaft. Ich schaute mich mit großer Neugier in alle Richtungen um. Ich konnte die geheimnisvollen Geräusche des Waldes vernehmen. Ich hörte die Vögel zwitschern. Das Echo antwortete ihnen, und ich war entzückt. Mich begeisterte besonders ein Vogel, der sich an den Baum festhielt und mit seinem Schnabel wuchtig klopfte. Als ich stehen blieb, um ihn genauer anzuschauen, guckte er mich achtlos an, etwas verwundert, dass ich ihn beobachte, und nahm seine Arbeit wieder auf. Als Edward meine Begeisterung sah, sagte er, dass dieser Vogel Specht heißt – ein Arzt der Bäume. Der ganze Wald rauschte, sang und machte viele Geräusche, als ob er mich hätte begrüßen wollen, weil ich hier zum ersten Mal eintraf. Hier und da sprang ein verstörter Hase heraus, der unter dem Baum schlummerte, als wir vorbeikamen. Er floh so erschrocken, dass die Blätter hinter ihm stoben.
Als wir am Waldrand ankamen, sah ich ein Feld, das mit gut gewachsenen Pflanzen bewachsen war. Die Pflanzen hatten rote Früchte. Die Zwergsträucher waren im Halbkreis vom Wald umgeben, sozusagen umarmt. An seinem Rand befand sich eine Plantage von prächtigen Erdbeeren, die mein Bruder Welterdbeeren nannte. Als wir vorhatten, das Feld zu betreten, bat mich Edward darum, alle möglichen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, da der Acker zu dem Bauern aus dem benachbarten Dorf gehörte, der hier ein Grundstück hat. Ich konnte mich dann nicht erinnern, in meiner Kindheit etwas so Leckeres gegessen zu haben. Ich konnte mich danach weder an den Hin- noch an den Rückweg aus diesem Wald erinnern, weil ich damals noch sehr klein war. Die Zeit, die ich in dem schönen Wald verbrachte, wo ich mich mit den prächtigen Welterdbeeren zur Genüge satt aß, blieb mir sehr wach in Erinnerung. Alles in diesem Wald fand ich schön, geheimnisvoll und fabelhaft. Das war eines der ersten Erlebnisse, die mir dauerhaft in Erinnerung geblieben sind.
Eine andere Erfahrung, die ich wegen der Fantasien meines älteren Bruders gemacht habe, war durchaus negativ. Diesmal übertrieb er mit seiner Vorstellungskraft und trieb mich dadurch in volle Panik: Als wir auf dem Feld waren, fing er an, Geschichten über den Krieg zu erzählen. Er zeigte mir zugleich verschiedene Zeichen auf dem Himmel, die seine Worte glaubwürdig machen sollten. Er hatte ein leichtes Spiel, weil die polnischen Schulflugzeuge „Iskra“ auf dem Militärflugplatz in Radom gerade abhoben und verschiedene Flugfiguren in dem Himmel ausführten. In schwebenden Wolken zeigte er mir die furchtbaren Krieger auf dämonischen Pferden, die den Figuren aus der Apokalypse des Johannes ähnlich waren. Ich wusste damals nicht genau, was unter dem Wort „Krieg“ zu verstehen ist, aber ich ahnte, dass das etwas sehr Schlimmes war. Mein Bruder setzte mit seiner Geschichte leichtsinnig fort und jagte mir letztendlich einen richtigen Schrecken ein. Ich war von der Angst restlos beherrscht. Auch wenn er dann alles zurücknahm, was er früher sagte, half es kaum. Auch meine Mutter konnte mich nicht zur Ruhe bringen. Zu diesem Zeitpunkt brach die Welt für mich zusammen. Etwas Geheimnisvolles und Unheimliches besaß mich total und wollte mich nicht loslassen. Mein Tag war für mich vorbei, weil ich mich lange nicht beruhigen konnte. Ich kann mich nicht erinnern, wie ich endlich zu mir kam.
Das war meine erste Erfahrung mit der Heterosuggestion, die mein älterer Bruder mit seinem „harmlosen“ Spiel herbeiführte. Obwohl mir dieses Erlebnis zutiefst peinlich war, bekam ich keine Nebenwirkungen davon zu spüren. In den nächsten Tagen dachte ich nicht daran und konnte mich daran gar nicht erinnern, weil meine Aufmerksamkeit immer von neuen Dingen gefesselt wurde.