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Auswanderung

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Im Herbst 1986 entschied ich mich dafür, meinen Traum Wirklichkeit werden zu lassen und buchte einen Ausflug nach Deutschland und Dänemark. Mit 25 öffnete sich mir die Perspektive eines besseren Lebens in der demokratischen Welt. Cezary, mein Kollege, wanderte im März dieses Jahres nach Deutschland aus. Das war für mich noch ein zusätzlicher Ansporn dafür das kommunistische Lager zu verlassen. Außerdem hatte ich in meinem potenziellen Einwanderungsland eine bestimmte Kontaktperson.

Aus diesem Anlass war ich auch in Przasnysz bei Jerzy, einem Freund von uns beiden. Da er auch vorhatte ins Ausland zu gehen, weihten wir ihn in unser gemeinsames Unterfangen ein. Später gab er diese Idee aber auf, unter anderem deshalb, weil er sich verliebte und verheiratete. Das war ein echtes Saufgelage, das wir anlässlich meiner Abreise veranstalteten. Ich wollte auf diese Art und Weise Abschied nehmen. Unsere Clique wurde fortan durch den Eisernen Vorhang geteilt. Cezary war schon drüber. Ich war als Nächster dran dieses kommunistische Boot zu verlassen. Kommunistisches Polen war dann wie ein treibendes Schiff. Ich bereitete mich im Geheimen darauf vor, von Bord dieses Schiffs zu gehen. Zu jener Zeit konnte ich mir mein weiteres Leben in diesem System kaum vorstellen.

Am Tag der Abreise fuhr mich mein älterer Bruder Edward mit dem Auto zu dem vereinbarten Ort in Radom, wo wir in den Reisebus einsteigen und nach Swinemünde fahren sollten. Dort sollten wir die berühmte Fähre „Silesia“ besteigen, die uns nach Dänemark und Deutschland brachte. Ich war sternhagelvoll, weil ich mich die ganze Nacht lang in der Gesellschaft meiner Brüder von meiner sozialistischen Heimat verabschiedete und dabei viel Alkohol in mich hineinschüttete. Ich hatte einen Grund dafür: Ich wusste doch nicht, wann ich sie wiedersehen würde.

Als der Bus schon abfahrtbereit war, wies mich Edward ganz lautstark darauf hin, dass ich ihn nicht vergessen sollte, sobald ich mich mit den Verhältnissen in meiner neuen Heimat gut einrichtet hatte. Sicherlich fehlte ihm zu diesem Zeitpunkt das Gefühl für die Situation. Mit dieser Selbstsorge konnte er mich sehr schädigen. Der Ausflug wurde von dem Mitarbeiter des polnischen Sicherheitsdienstes (UB) begleitet. Er hatte alle Reisenden genau im Visier und war dazu berechtigt, jeden Fahrgast festzuhalten, der seiner Meinung nach vorhatte, von dem Land auf Dauer zu fliehen. Mein Bruder verhielt sich so, als ob er mir einen „Migrationsselbstmord“ gewünscht hätte. Anscheinend wurde ich bereits dann in die schwarze Liste von potentiellen Flüchtlingen eingetragen, nur weil mein Bruder diesen großen Fauxpas begangen hatte. Man kann sich vorstellen, wie viel Mühe es kostete, all diesen Agenten zu überlisten und meinen Auswanderungsplan in Erfüllung zu bringen.

Wir lebten gerade in den Zeiten, als die Polen ihre Heimat massenhaft verließen und zwar indem sie sich Ausflüge über den Eisernen Vorhang kauften. Die Kommunisten hingegen mit dem einheimischen Gangster, Wojciech Jaruzelski, am Steuer, drückten dabei die Augen zu – zum Teil, weil sie dagegen kaum etwas unternehmen konnten, und zum Teil, weil sie froh waren, teilweise gefährliche Elemente loszuwerden.

In der Nähe von Posen, wo wir am ersten Tag übernachteten, gab es kleine Ferienhäuser, wo wir in Kleingruppen untergebracht wurden. Der von mir mühelos enttarnte Sicherheitsagent von unserem Ausflug aus Radom wohnte gerade in unserem Haus. Um uns zu täuschen, kramte er als Erster eine Flasche raus. Er bereitete sich dadurch den Grund, unseren Absichten auf der Spur zu kommen. Ich glaube, dass es kein Zufall war, dass er gerade in unserem Häuschen untergebracht war. Und höchstwahrscheinlich war ich selbst ein Grund dafür, weil ich der Erste war, der von diesem Kameraden angesprochen wurde.

Ein Verrat lag in der Luft. Man konnte es von allen Seiten erwarten. Ich verfolgte eine Taktik der Desinformation und traute niemandem. Ich schloss mich einer Clique der Einwohner von Radom an, und am Bord verspottete ich die Geheimagenten, was das Zeug hielt. Ich wusste, dass sie mich nicht aus den Augen lassen würden und musste sie daher entsprechend überlisten, um überhaupt abhauen zu können. In der Disco, in welcher ich in der Freizeit feierte, erzählte ich viel Unsinn, was sonst kein anderer Flüchtling gewagt hätte. Ich versuchte mich in das Denken der Geheimagenten hineinzuversetzen: Jemand, der tatsächlich abhauen will, wird fast kein Mucks von sich geben, um auf keinem Fall die Aufmerksamkeit der Spitzel auf sich zu lenken. Um den Gegner zu täuschen, machte ich das Gegenteil. Ich wusste allzu gut, dass ein musterhaftes Verhalten keine gute Taktik war, weil für die kommunistischen Spitzel mit guter psychologischer Ausbildung gerade das ein Anzeichen dafür sein kann, dass etwas nicht ganz stimmte. Es war für sie ein leichtes Spiel festzustellen, dass jemand etwas zu höflich war. Man stellt solch einen Typ unter Verdacht und lässt ihn nicht aus den Augen entsprechend dem Sprichwort „Stille Wasser sind tief“.

Ich war aber in einer viel schwierigeren Lage als diejenigen, die sich diskret verhielten, um Ihre Migrationspläne nicht ans Tageslicht kommen zu lassen. Ich war schon enttarnt und wurde auf Schritt und Tritt beobachtet. Um die Aufmerksamkeit der Agenten von mir abzulenken, war ich laut und machte den Eindruck, als ob es mich nichts anginge. Dieses komische Verhalten von mir war eine peinlich harte Nuss, die ihr Intellekt zu knacken hatte, weil sie letztendlich nicht wussten, wer ich eigentlich war. Sie hatten auch gar keine Ahnung, dass ich ihren Gedankengängen Punkt für Punkt folgte und dass ich – ganz entgegen ihrer erlernten Strategie – genauso wie in dem Spiegelbild handelte.

In Kopenhagen verkaufte ich Zigaretten und Wodka. Das Geschäft lief verhältnismäßig gut, wenn man bedenkt, dass das mein erstes Mal war. Ich konnte Deutsch sprechen, was vielen Mitreisenden auf mich aufmerksam machte. Dadurch gewann ich immer schnell Freunde.

Am Abend zog ich leichtsinnig etwas zu weit in die Stadt und verlief mich. Ich wusste den Weg zurück in den Hafen nicht. Nach kurzem Überlegen lief ich gegen den Wind, weil ich dachte, dass ich so die See finde. Und ich hatte Recht. Ich fand den Hafen, und da der Port groß war, machte ich meine Fähre mit der Unterstützung der Dänen ausfindig, die an der See spazieren gingen. Ich schaffte es kurz vor der Schließung des Eingangs einzutreffen. Ich wollte nicht in Dänemark bleiben. Mein Ziel war Deutschland.

In der Nacht ging die Fähre nach Travemünde, und aus dieser Ortschaft fuhren wir mit den Reisebussen an einigen Tagen nach Hamburg. Genau diese Stadt war mein Ziel, wo ich mich von der Gruppe entfernen und an Bord nicht mehr zurückkommen wollte. Das war kein großes Problem, weil niemand so streng auf uns aufpasste, dass es nicht möglich gewesen wäre sich von der Gruppe zu trennen. Jedes besichtigte Hamburg und ging einkaufen – entweder alleine oder in Kleingruppen. Das Problem lag darin, wie man seinen Reisekoffer vor den Augen den Agenten von der Fähre in den Bus schleppen sollte. Was hätte man antworten sollen, wenn der Spitzel gefragt hätte, warum man alle Klamotten mitnimmt, obwohl man die nächste Nacht am Bord verbringen soll? Hätte man gesagt, dass man Angst hätte, beklaut zu werden, das Hab und Gut zu verlieren, wäre nicht glaubwürdig gewesen. In diesem Fall musste man damit rechnen, dass solch ein Reisegast in eine isolierte Kajüte gesperrt und erst dann frei gelassen wurde, wenn die Reisegruppe wieder in Polen eintraf. So konnte der Geheimdienst die Flucht aus dem sozialistischen Polen vereiteln. Solch eine Überführung konnte ich mir nicht leisten.

Als ich überlegte, wie ich meinen Rucksack von dem Schiff in den Bus bekommen konnte, ohne dass ich den Geheimagenten auf mich aufmerksam machte, kam mir plötzlich der Fahrer selbst zur Hilfe. Er schlug vor, diese Aufgabe zu übernehmen und dass ich mich darum nicht mehr kümmern sollte. Für einen Augenblick schaute ich ihn an und überlegte, ob nicht gerade der Geheimdienst versuchte mich auszutricksen. Er durchschaute aber meine Gedanken und sagte, dass er Typen wie mich, die auf Dauer ins Ausland fliehen wollten, sofort erkannte, weil seine Arbeit gerade darin bestand, die Reisebusse über den Eisernen Vorhang zu fahren. Er hatte Mitleid mit einem Flüchtling, der die Flucht wagte und dessen Pläne in die Hose gehen würden, nur weil er von dem Geheimdienst ertappt wird, weil er irgendeinen Fehler machte, der die Aufmerksamkeit der Spitzel auf ihn lenkte.

Ich entschloss mich, mich auf den Busfahrer zu verlassen und gab ihm meinen Rucksack. Ich war aber darauf vorbereitet, dass ich notfalls auch ohne Rucksack die Flucht ergreifen musste, wenn die Geheimagenten versuchten mich festzuhalten. Glücklicherweise war dies nicht notwendig. Der Fahrer half mir aus gutem Herzen und hatte mit dem Geheimdienst nichts zu tun. Er war ein toller Mensch. Keiner der Passagiere, die an diesem Tag in dem Bus nach Hamburg saßen, ahnte, dass ich am Abend nicht mehr zurückkomme. Sicherlich glaubten einige, dass ich schon am ersten oder zweiten Tag ausgerissen wäre, hätte ich überhaupt solche Absicht. Daher entschied ich mich dafür, erst am letzten Tag davonzukommen.

Darüber hinaus wollte ich gar nicht auf die Berge leckeren Essens verzichten, die uns in der Schiffkantine angeboten wurden. Die Läden im kommunistischen Polen waren ganz leer, und ich konnte mich kaum erinnern, wann ich zum letzten Mal derartige Köstlichkeiten zu mir genommen hatte. Ich nahm mir vor, mich an diesen Leckerbissen satt zu essen, ehe ich das Schiff verlassen würde. Eine solche Feinkost konnte man in jenen Tagen nur in den Kantinen der Zentral- und Lokalkomitees der regierenden kommunistischen Arbeiterpartei und vielleicht in manchen sehr teuren Restaurants genießen. Und warum sollte ich mir all diesen Spezialitäten nicht gönnen, sondern bei der erstbesten Gelegenheit wie ein armer Hund abhauen? Ich bezahlte für all das gute Geld. Deshalb nahm ich diesen Luxus in Anspruch, soweit es mir möglich war und verabschiedete ich mich festlich von dem Kommunismus. Wie sich später herausstellte, waren die Jahre seiner Blütezeit schon gezählt.

Die Überraschung aller Fahrgäste war kaum zu beschreiben, als ich im Zentrum von Hamburg meinen Rucksack von dem Fahrer übernahm. Ich zeigte meinen Mitreisenden mit den Fingern das Victory-Zeichen. Ich warf einen Blick auf unseren Agenten. Er schaute mich komisch an. Er war nicht mehr der höfliche Kerl, der mit mir in dem Ferienhaus in der Nähe von Posen übernachtete und nette Gespräche führte. Seine Augen waren traurig und vorwurfsvoll, als ob ihm das Leben entzogen worden wäre. Er fühlte sich von mir betrogen und überlistet. Ich glaube, dass er einen großen Groll gegen mich hegte und mir diesen Unfug noch lange nicht vergaß. Vielleicht wurde meine Korrespondenz gerade aus diesem Grund sechs Monate lang gesperrt, und ich erhielt in dieser Zeit gar keine Briefe aus Polen.

Durch die Hölle in die Freiheit

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