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Schönes Jahr 1990

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Am Anfang dieses schönen Jahres schaffte ich meinen deutschen Führerschein. Ich konnte es kaum erwarten, mit dem Auto zu fahren. Noch vor dem Kurs schaffte ich mir ein Auto an. 1990 war ich dreimal im Urlaub in Polen. Das war für mich ein großer Aufwand, vielleicht deshalb, weil ich viel Geld für die Saufereien ausgab. Ich lernte verschiedenste Mädels kennen und fuhr sie mit meinem Wagen, auch in kleinen Gruppen. Das machte mir viel Spaß. Ich besuchte mehrere Frauen am Tag, flirtete mit allen zugleich und machte daraus keinen Hehl. Jede Frau wusste, dass sie nicht „die Richtige“ war und viele Rivalinnen hatte, und keine machte mir deswegen Ausflüchte. Sie genossen die Zeit mit mir und waren dankbar dafür.

Eine von ihnen war Anna. Dieses kultivierte und intelligente Mädchen hätte meine Ehefrau werden können. Jedenfalls sagten mir das die Leute. Ich beherzigte ihre Ratschläge aber nicht und ließ sie unbeachtet. Anscheinend hatte sie das gewisse Etwas nicht. Ihr fehlte diese körperliche Anmut, sodass ich sie nicht anziehend fand. Was nützte es mir, dass die anderen in ihr eine passende Kandidatin für meine Lebensgefährtin sahen, wenn ich es mir selbst kaum vorstellen konnte? Meiner Meinung nach sollte sich die Anziehungskraft einer Frau nicht aus ihrer Intelligenz, sondern aus ihrem Sexappeal ergeben. Anna war sehr hübsch, niedlich und intelligent, aber ich spürte keine sexuelle Anziehungskraft. Sie bedeutete mir daher nicht sehr viel, und deshalb bemühte ich mich nicht um ihre Gunst.

Ab und zu begegnete ich aber einer Frau, für die ich durchs Feuer gegangen wäre. Niemand müsste mich dann davon überzeugen, dass diese oder jene Frau für mich geschaffen war. In jener Zeit wusste ich noch nicht genau, welche physischen Merkmale einer Frau mir am besten gefielen und welche mich am stärksten anzogen. Mein Traumbild einer Frau entstand Stück für Stück. Ich machte Mädels mit unterschiedlichen Figuren an. War ich aber zu diesem Zeitpunkt ausreichend verantwortlich, um eine ernsthafte Beziehung einzugehen? Die alkoholreichen Partys waren für mich um ein ganzes Stück wichtiger. Der Alkohol war ein Muss. Eine Feier ohne Sprit war keine Feier für mich. Ich geriet Schritt für Schritt in den Bann des feuchtfröhlichen Feierns. Dieser Lebensstill verschleierte mir die nüchterne und realistische Wahrnehmung der Realität. Wenn ich mich für Anna entschieden hätte, hätte ich dann ein stabiles Leben führen können? Wer weiß. Aber bestimmt hätte ich dieses Buch letztendlich nicht geschrieben. Darum bedaure ich meine schwierigen Erfahrungen und leichtsinnigen Jugendstreiche gar nicht. Meine Erinnerungen können andere dazu bringen, über ihr eigenes Verhalten nachzudenken. Darüber hinaus ist all das schon vorbei, und man kann nichts daran ändern. Es macht keinen Sinn, sich nun damit zu quälen. Man muss jedoch im Kopf behalten, dass wir selbst den höchsten Preis für unsere Fehler bezahlen müssen.

Jeder, der mein Leben auf den Seiten dieses Buches betrachtet und ein wenig Vernunft und Demut hervorbringen kann, nimmt auch sein eigenes Leben unter die Lupe. Vielleicht fängt der Leser an, sein eigenes Universum zu erkunden und seine Identität zu entdecken. Vielleicht begreift er, welche Kräfte im Spiel sind, die versuchen, die Oberhand über ihn zu gewinnen, und warum sie uns manchmal nicht unsere eigenen Wege gehen lassen.

Der Herr lenkt die Schritte eines jeden. Wie könnte der Mensch seinen Weg verstehen?

(Sprüche 20:24; Einheitsübersetzung).

Was bedeutet diese Bibelstelle? Wer ist der Herr? Wer ist der Herr, dem du dienst? Erkanntest du Ihn schon? Und vielleicht ist Er nicht derjenige, der du glaubst, dass Er ist? Und was dann? In der Tat herrscht über uns das Gesetz, dem wir unterliegen, und zwar ohne Rücksicht darauf, welchen Glauben und welche Anschauungen wir vertreten. Der Glaube kann wie ein zweischneidiges Schwert sein. Wenn wir unseren Glauben in eine falsche Richtung lenken, kann das für uns tragische Folgen haben. Welche Kraft kann uns also zu unserem Wohl durchs Leben führen?

Ich bin mir mittlerweile bewusst, was in meinem Leben wahrhaftig und nachhaltig funktioniert, und was nur scheinbar und vorläufig ist. In jener Zeit aber lag noch ein langer, beschwerlicher und trostloser Weg zu dieser Wahrheit vor mir. Ein Weg zur Weisheit, die tatsächlich auf unser Wohl ausgerichtet ist. Ihr könnt euch selbst davon überzeugen, wie schwierig es ist, den richtigen Weg zu finden. Um jede Ecke findet ihr Berater, die Allheilsmittel für euch parat haben. Und der ersehnte Weg wird näher sein, als wir denken. Dieser wahre Weg versucht leidenschaftlich uns selbst zu finden und uns neues Leben einzuhauchen. Wieso ist es also so schwierig die Weisheit zu erlangen?

Die Weisheit ruft laut auf der Straße, auf den Plätzen erhebt sie ihre Stimme. Am Anfang der Mauern predigt sie, an den Stadttoren hält sie ihre Reden: Wie lang noch, ihr Törichten, liebt ihr Betörung, gefällt den Zuchtlosen ihr dreistes Gerede, hassen die Toren Erkenntnis? Wendet euch meiner Mahnung zu! Dann will ich auf euch meinen Geist ausgießen und meine Worte euch kundtun. Als ich rief, habt ihr euch geweigert, meine drohende Hand hat keiner beachtet; jeden Rat, den ich gab, habt ihr ausgeschlagen, meine Mahnung gefiel euch nicht. Darum werde auch ich lachen, wenn euch Unglück trifft, werde spotten, wenn Schrecken über euch kommen, wenn der Schrecken euch wie ein Unwetter naht und wie ein Sturm euer Unglück hereinbricht, wenn Not und Drangsal euch überfallen. Dann werden sie nach mir rufen, doch ich höre nicht; sie werden mich suchen, aber nicht finden. Weil sie die Einsicht hassten und nicht die Gottesfurcht wählten, meinen Rat nicht wollten, meine ganze Mahnung missachteten, sollen sie nun essen von der Frucht ihres Tuns und von ihren Plänen sich sättigen. Denn die Abtrünnigkeit der Haltlosen ist ihr Tod, die Sorglosigkeit der Toren ist ihr Verderben. Wer aber auf mich hört, wohnt in Sicherheit, ihn stört kein böser Schrecken.

(Sprüche 1:20-33; Einheitsübersetzung).

Während meines ersten Aufenthalts in Polen lernte ich einen jungen Priester kennen, der meine Verwandten gerne besuchte. Man kann sagen, dass ich mich mit ihm anfreundete. Wir saßen uns gegenüber und tranken Schnaps, auch wenn wir gegensätzliche und sogar sich ausschließende Weltanschauungen vertraten. Ich war fast ein Atheist, und er glaubte an die Wahrheiten, die für mich reine Abstraktion waren. Ich fragte ihn dann: „Glaubst du tatsächlich daran, was du machst oder geht es dir nur ums Geld? Du bist ein aufgeklärter Mensch und weißt Bescheid, dass es Gott nicht gibt.“ Er schaute mich kurz an und erwiderte, ohne große Anstrengung: „Gott existiert, und die katholische Kirche ist die mächtigste Institution der Welt.“ Ich hatte vielleicht nicht Respekt, sondern Achtung vor ihm, weil er mich mit seiner Ruhe, Besonnenheit und Klugheit beeindruckte. Außerdem war ein einfach ein netter und geselliger Kerl. Er war ein toller Gesprächspartner und war den Atheisten deutlich überlegen. Sein Selbstvertrauen war so stark, dass die atheistischen Diskussionspartner kaum noch Chancen bei ihm hatten.

Im Sommer 1990 feierte ich wieder mit dem befreundeten Priester. Ich hielt das für ganz normal, dass er feierte. Jeder hat Recht auf etwas Unterhaltung. Auch diesmal griff ich das Thema Gott auf, und jetzt unter vier Augen. Ich wollte, dass er mir vertraulich seine wahre Meinung darüber äußerte, ob Gott tatsächlich existiert. Er bestätigte mir das, was er letztes Jahr gesagt hatte, wieder ohne Anstrengung, diesmal aber noch etwas nachdrücklicher: „Gott existiert bestimmt!“ Er versuchte nicht, mich dazu zu bringen, in den Schoß der katholischen Kirche zurück zu kehren. Wahrscheinlich wusste er, dass seine Versuche vergeblich wären, und dass nur schwierige und peinliche Erfahrungen mich dazu führen könnten. Er schaute mich manchmal geheimnisvoll an, ohne etwas zu sagen, als ob er meine Zukunft mit ihren stürmischen Erlebnissen gekannt hätte. Er sagte mir aber nicht, was er von mir hielt. Er war ein sehr interessanter und freundlicher Mann. Ich führte gerne Gespräche mit ihm. Die Priester sind doch ganz gut ausgebildete und intelligente Typen, die sich mit jedem über verschiedene Themen unterhalten können. Sie haben Fähigkeiten, die einen guten Diplomaten ausmachen. Sie können einen Kompromiss eingehen, und zwar ohne in ihrem Standpunkt nachzugeben, aber auch ohne ihre Gesprächspartner zu verurteilen. Ich hielt mich im Zaum. Auch wenn meine Meinung von den Überzeugungen des Gegenübers abwich, kritisierte ich ihn nicht und verletzte seine Gefühle auch nicht. Die Ideologien der anderen waren mir gleichgültig, aber ich versuchte auch nicht, meine Meinung durchzusetzen. Letztendlich war ich von meinen eigenen Ansichten nicht hundertprozentig überzeugt. Ich unterhielt mich gerne mit jedem, der seine Meinung zu einem bestimmten Thema hatte und etwas Wissen mit mir teilte, da auch ich dann etwas mitbekommen konnte.

Das Jahr 1990 war das letzte Jahr, in welchem der Alkohol meine Freizeit angenehmer machte ohne besonders auffällige Spuren und Nebenwirkungen zu hinterlassen. Bald sollte sich meine Beziehung zu ihm radikal ändern, und zwar unwiederbringlich. Diese schönen Momente in der Zukunft noch einmal zu erleben mit der Flasche dabei und gleichzeitig ganz locker – das ging nicht mehr.

Durch die Hölle in die Freiheit

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