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Im Angesicht des Todes

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Der 27. Juni 1994 war ein sonniger und ruhiger Tag. Deshalb hatte ich gar keinen Grund zu ahnen, dass gerade an diesem Tag etwas richtig Grausames auf mich zukommen würde, etwas, was ich am wenigsten erwartete. Ich war gerade dabei, den Schrott mit dem Schneidbrenner in kleinere Teile durchzubrennen. Meine Arbeitsstelle befand sich direkt an der Eisenbahn in dem Industriegebiet im Norden von Stuttgart. Dort waren viele Unternehmen ansässig, unter anderem die Firma, bei der ich seit Kurzem arbeitete. An dieser Stelle hatten die Schienenfahrzeuge kein Vorrecht. Daher sollten sie langsam fahren, und die Lokführer mussten auf die Arbeiter aufpassen. Diese Vorschriften sollten die Sicherheit der Arbeiter vor Ort gewährleisten. Neben mir lief ein Ladegerät, das sehr laute Geräusche machte, und welches ich ab und zu bediente. Ich arbeitete in dieser Firma erst seit Kurzem und war froh, dass die Firma immer mehr von meiner Beschäftigung profitierte. Auch meine Mühe wurde hochgeschätzt.

Als ich die Brennerschläuche etwas abseits legte, um sie beim Durchbrennen des Schrotts nicht zu beschädigen, muss ich etwas näher auf die Gleise zugekommen sein. Plötzlich hörte ich die schrille Stimme meines Vorarbeiters: „Gregor!“ Was wäre nicht in Ordnung daran, dass ich etwas näher auf die Gleise zukam? Es war doch nicht verboten. Wir befanden uns immer in der Nähe von den Gleisen und manchmal sogar direkt auf den Gleisen und machten uns keine Sorgen über die vorbeifahrenden Schienenfahrzeuge. So sah unsere Arbeit aus. Die Bahnleute mussten auf uns aufpassen, nicht umgekehrt. Wir sollten unsere Arbeit ausführen und nicht die Beobachter spielen. Daher durchdrang mich diese schrillende Stimme ominös und gab mir zu verstehen, dass etwas Unerwünschtes und sogar Schreckliches vor sich ging. Mir wurde plötzlich klar, dass ich in diesem Moment zu einem Opfer wurde und zwar ganz ohne mein Verschulden, weil jemand anderer hätte aufpassen sollen. Diese Stimme erschrak mich. Ich merkte, dass ich gar keine Chance hatte, der Gefahr zu entkommen oder zu erkennen, zu begreifen, warum ich ihr zum Opfer fiel.

Ich trug eine Sonnenbrille, und mein Sehfeld war eingeschränkt. Wenn man die Arbeit dieser Art verrichtete, war das ganz normal. Meine Aufgabe war es nicht, auf mich selbst aufzupassen. Das musste jeder tun, der sich in meiner Nähe befand. Insbesondere sollten die Bahnleute auf uns Acht geben. Die Mitarbeiter des vorbeifahrenden Schienenfahrzeugs waren verpflichtet, jeden Arbeiter von den Gleisen zu entfernen und für seine Sicherheit zu sorgen. In jener Zeit wichen die Verhältnisse etwas davon ab, was heutzutage in den Arbeitsschutzvorschriften festgesetzt ist. Montag ist ein Tag, den die allgemeine Bevölkerung nicht sonderlich genießt, besonders wenn jemand am Wochenende viel gefeiert hat. Die Facharbeiter für Sicherheit saßen mit dem Lokführer in der Lokomotive und plauderten wahrscheinlich sinnlos miteinander, statt sich an die Arbeit zu machen. Der Vorarbeiter schrie nur ein Wort zu mir, aber die Intensität und Ausdrucksform dieses Rufs sagten mir sehr viel. Das war eine Warnung, dass ich in eine tödliche Gefahr geriet.

Für die Reaktion war es schon zu spät. Etwas Mächtiges fegte mich vom Platz, umfasste mich mit seinen riesigen Armen und wog mich in einen Todesschlaf, aus dem ich so bald nicht mehr erwachen sollte. In dieser grausamen Situation dachte ich mir, dass das eine Lokomotive sein musste. Bald brach die Dunkelheit um mich herum an, und ich sah schon nichts mehr. Ich hatte den Eindruck, dass ich zwischen den Gleisen lag und die Lokomotive langsam aber unausweichlich über mich fuhr. Sehr schnell würde sie mein Leben nehmen. Dass ich mich von meinem Leben trennen müsste, war mir offensichtlich. In meinem Zustand war ich ganz hilflos und konnte mich nicht retten. Ich machte mir nichts vor. Ich wusste, dass mein Leben gerade sein Ende erreichte. Ich war lediglich ein tatenloser Zuschauer meiner eigenen Agonie. Ich erlebte sie ruhig, wie jede Formalität, die man nicht beeinflussen kann. Ich versuchte nur die Beine so zu positionieren, dass sie nicht abgeschnitten werden konnten. Das war vielleicht komisch, dass ich mich ein paar Sekunden vor dem Tod gerade um die Beine kümmerte. Ich dachte mir: „Wie sieht mein Begräbnis aus, wenn meine Beine „separat“ liegen werden?“ Als ob das für mich von Bedeutung gewesen wäre. Darum machte ich mir aber nun Sorgen. Das war vielleicht etwas seltsam, weil ich wusste, dass ich bald umkommen würde, aber ich wollte nicht übermäßig verletzt hinübergehen.

Im Angesicht des Todes wurde mir mein erster Albtraum aus der Kindheit in Erinnerung gebracht, der sich auf Dauer in mein Gedächtnis eingeprägt hatte. Das war ein Traum vom Tod. Und genauso wie in diesem Traum konnte mir jetzt keiner helfen. Mein Bewusstsein wurde in eine andere Zeit- und Wahrnehmungsdimension verlegt. Ich war überzeugt, dass mein Leben auf dieser Welt zwar kurz vor dem Aus stehen würde, aber das war nicht dasselbe wie der Tod. Ich existierte weiter. Ich sah mich im Licht des Tages, der sich dem Ende zuneigt, obwohl der Unfall am Morgen geschah. Ich sah mich als eine Person, die nun vor Gott die Rechenschaft über ihr bisheriges Leben ablegen sollte. Zu diesem extremen Zeitpunkt wusste ich allzu gut, dass Gott existierte, und dass ich mich vor Ihm verantworten müsste – und das obwohl ich ungläubig war. In Kürze sollte ich vor Ihm stehen. Mir war sonnenklar, dass sich mein Schicksal nicht wechseln ließ, und ich erwartete es auch nicht, weil ich wusste, dass ich mein Leben in der neuen Realität nicht verlor. Ich befand mich in irgendeinem Übergangszustand der Realität. Darüber hinaus fühlte ich mich nicht unwohl. Ich hatte keine Angst vor dem Tod. Er bot keine Gefahr für mich. In der Tat sollte ich nur in ein neues Haus umziehen, weil meine Mission auf der Erde schon vorbei war. Dass ich von dieser Welt genommen wurde, kam mir als Erleichterung vor, weil ich meinen ganzen Kummer schon hinter mir hatte. Ein perfektes Wesen musste all das steuern. Es waren vielleicht irgendwelche kaum nachvollziehbaren Figuren, die ich zwar nicht sah, aber stark verspürte. Ich hatte keine Angst vor ihnen, weil sie mein Vertrauen weckten. Das war eine Art Rettungs- oder Transportdienst, Beförderer.

In meinem Bewusstsein liefen dann automatisch und der Reihe nach verschiedene Zustände. Ich nahm sie passiv und mit viel Ruhe wahr, weil alles, was um mich geschah, durch und durch außerhalb meiner Kontrolle war. Was sich nun abspielte, hatte gar nichts mit Feindseligkeit zu tun. Das war bloß ein Abschluss der Formalitäten. Ich wurde von dem Gebiet evakuiert, wo ich mich nicht mehr aufhalten sollte, weil etwas schief ging. Die Wesen, die mich evakuierten, erfüllten dadurch einen Befehl von oben aus. Trotzdem bedauerte ich ein ganzes Stück, dass ich auf der Erde nichts Gutes hinterließ. Mir war klar, dass ich die Rechenschaft von meinen Taten an dem Ort ablegen musste, wo ich gerade geführt wurde. Ich würde traurig, weil ich merkte, dass ich bei meiner Lebensprüfung durchgefallen war. Voller Trauer dachte ich mir: „Was sage ich Gott?“

Ich begriff dann, dass man nicht auf der Erde lebt, um bloß zu überleben, sondern um eine gute Spur hinter sich zu lassen. Ich führte die Mission nicht durch, die mir anvertraut wurde. Ich versagte einfach. Ich wollte alles so gern wiedergutmachen und das in Erfüllung bringen, was ich nicht tat, um noch eine Chance für das Leben auf der Erde zu bekommen. Ich wusste aber, dass ich gegen die Ereignisse, die sich gerade unvermeidlich abspielten, keine Berufung einlegen konnte. Das kam mir gar nicht in den Sinn. Voller Traurigkeit verabschiedete ich mich von der verschwendeten Zeit. Sonst hatte ich keine Sorgen. Nichts mir jetzt von Bedeutung – auch dass ich meine Familie, Freundin und Kollegen hinterlassen würde. Außer der durchgefallenen Lebensprüfung auf der Erde ging mich nichts anderes an. Später befand ich mich in einem schwarzen Tunnel. Ich bewegte mich mit den Beinen nach vorne. Ich lag gemütlich auf dem Rücken, als ob ich auf dem Bett auf Rollen gelegt worden wäre. Über mich herrschte allmählich ein großer Frieden. Ich ahnte, dass etwas unglaublich Schönes bald auf mich zukommen würde. Plötzlich fühlte ich meine Knochen krachen und wachte vor Schmerzen oder vielleicht vor Aufregung auf. Ich wusste, dass das mein Ende war, und dass ich sterben würde. Ich sagte dann: „O Gott“ und verlor das Bewusstsein.

Ich wachte auf und machte die Augen auf, die wieder ein bisschen Licht der Welt zu sehen bekamen. Ich lag auf dem Rücken und wusste gar nicht, wo ich mich befand und was geschehen war. Allmählich erlangte ich das Bewusstsein wieder. Ich hörte unruhige menschliche Stimmen, und mir wurde langsam klar, dass sie von mir sprachen. Ich merkte, dass mir etwas Schreckliches widerfahren war, aber trotzdem lebte ich und war auf der Erde, und nicht in dem Nichts, wie es vor einer Weile der Fall war. Ich überlegte mir, welche Körperteile von mir verletzt worden waren. Sollte die Wirbelsäure betroffen sein, wäre ich am liebsten auf der Stelle gestorben. Ich spürte das linke Bein nicht. Ich schaute kurz und atmete erleichtert auf. Das Bein war da. Es wurde nicht abgeschnitten. Erst jetzt schaute ich mich um und sah die Leute um mich herum. Dann schaute ich nach rechts und rückte den Kopf etwas nach hinten. Dort sah ich einen Polizisten, der mich fröhlich anlächelte. Ich dachte mir: „Wenn dieser zwischenzeitlich angekommen ist und nun hinter mir steht, heißt das, dass mein Abenteuer mit dem Tod ganz lange gedauert haben muss.“ Ich hörte einen Mitarbeiter sagen, dass meine Wirbelsäule unverletzt sein musste, weil ich in der Lage war den Kopf zu bewegen. Es schien so, als ob er die Befürchtung in meinen Gedanken gelesen hätte. Diese Bemerkung beruhigte mich ein ganzes Stück. Mit einer schwachen Stimme bat ich ums Wasser. Plötzlich bekam ich es. Vor mir stand die Lokomotive. Aus dem Fahrzeug stieg ein junger, aber vor Entsetzen blasser Lokführer. Er reichte mir großzügig eine Flasche frisches Wasser und sagte, dass es direkt aus dem Kühlschrank genommen wurde. Ich hatte unglaublichen Durst und trank die ganze Flasche leer. Ich fragte den Lokführer: „Hast du mich nicht gesehen?“ Voller unverhohlener Traurigkeit antwortete er: „Nein.“ Ich erwiderte ironisch: „Das ist schön von dir!“

Als der Krankenwagen ankam, wurden mir nur die Schuhe ausgezogen. Ich wurde sehr vorsichtig hineingebracht, weil mir alles wehtat. Kaum fuhren wir los, mussten wir anhalten, weil mir die starken Erschütterungen bei der Fahrt sehr viele Schmerzen bereiteten. Ich brauchte eine Betäubung, die sie im Krankenwagen nicht hatten. Ich schlug vor, dass ein anderer Krankenwagen die Betäubungsmittel liefern konnte. Und so wurde es auch veranlasst. Ich wurde in die Unfallchirurgische Klinik in Ludwigsburg in der Nähe von Stuttgart transportiert und umgehend auf den Operationstisch gelegt. Nach den Routineuntersuchungen legte mir der Arzt eine Maske aufs Gesicht und sagte, dass ich in Kürze einschlafen würde. Ich spürte das irgendwie nicht. Als er mir die Maske auszog, sagte ich: „Ich bin noch nicht eingeschlafen.“ Der Arzt beruhigte mich, dass das eine typische Reaktion nach der Narkose sei und dass die Operation schon vorbei sei. Ich dachte mir, dass es ganz komisch gewesen war. Ich spürte die Narkose nicht, und plötzlich war der Arzt fertig mit der Operation.

Am nächsten Tag kam ein Chefarzt zu mir, begleitet von den erfahrensten Ärzten dieser Klinik und sagte: „Der Zusammenstoß von einem Menschen mit einer Lokomotive bedeutet mehr als den Tod. Anscheinend aber nicht Ihrem Fall. Daher sollten Sie weiterleben.“ Alle hörten zu und schauten auf mich. Ich wurde bekannt, weil ich einen solch schrecklichen Unfall überlebte, ohne Gliedmaße zu verlieren. Mein Fall wurde in verschieden Zeitungen beschrieben. Ich überlegte mir, warum Gott mich am Leben behalten hatte und was er von mir erwartete? Bin ich überhaupt seiner Aufmerksamkeit würdig?

Am dritten Tag ging ich alleine an Krücken auf die Toilette, obwohl mein Schenkel gerade zusammengenäht wurde, und zwar mit sechzehn Schrauben. Das war für mich eine riesige und sehr schmerzliche Anstrengung, aber dieser Spaziergang war mir lieber als die Toilette im Bett.

Über eine Woche nach der Operation verbesserte sich mein Zustand gar nicht. Im Gegenteil. Er wurde immer schlechter, weil meine Blutwerte immer schlechter waren. Bekam ich Blutarmut. Ich hatte oft Albträume, und mir war es manchmal richtig kalt, obwohl es mitten im heißen Sommer war. Es lag an den Problemen mit meinem Blutbild und daran, dass ich eine Blutübertragung erhielt. Das konnte eine ernsthafte Gefahr für mein Leben darstellen. Ich versuchte alles Mögliche zu tun, um meinen Zustand zu verbessern. Ich trank viele Frucht- und Gemüsesäfte, aber das half gar nicht. Bei dem ärztlichen Besuch sprach ich mit dem Mediziner darüber, wie ich damit klarkommen konnte. Er antwortete bedenkenlos: „Rotwein gibt Ihnen Blut.“ Er sagte das scherzhaft, aber sein Gesicht blieb ernst. Das gab mir zu denken. Ohne viel Federlesen veranlasste ich telefonisch, dass meine Freundin mir zwei Flaschen guten, am besten französischen Rotwein besorgte.

Es war Samstagabend, als ich entschloss, mein Blut auf eigene Faust zu „behandeln“, weil ich immer im Kopf hatte, was mir der Arzt sagte. In meinem Krankenhauszimmer gab es noch zwei Patienten. Mein Bett stand an der günstigsten Stelle, und zwar am Fenster. Zuerst erhielten meine zwei Kollegen je ein Glas. Ich wollte sie dadurch zum Schweigen bringen, damit sie dem Personal nicht anzeigten, dass ich mich mit dem Wein therapierte. Und dann fing ich mit stoischer Ruhe an den köstlichen und angeblich heilsamen Rotwein abzuschmecken. Als ich den Wein verkostete, stellte ich mir die Sonnengebiete von Südfrankreich und Italien vor, weil mein kostbares Nass gerade aus diesen Ländern stammte. Es war schon gut nach Mitternacht, als ich schon etwas angeheitert war und einschlief.

Nach den Untersuchungen am Montag teilte mir die Ärztin mit, dass sich der Befund verbesserte. Die Blutwerte sanken nicht mehr. Im Gegenteil. Sie nahmen zu. Ich lächelte, aber verriet ihr nicht, wie es zustande kam. In meinen Gedanken verehrte ich diesen phantasievollen Arzt, der mich aufrichtig über die heilenden Kräfte des Rotweins aufklärte. Der Arzt musste sehr gut wissen, was mich auf die Beine stellen konnte. Offiziell konnte er mir das nicht empfehlen, weil er immer in Begleitung des Personals kam. Er gab es mir nur subtil zu verstehen, aber er tat so, als ob das seine Anordnung gewesen wäre. Er hoffte, dass ich seine verborgene Botschaft begriff, weil er mir direkt in die Augen schaute. Ich machte dann nur einen feinen Gesichtsausdruck, um zu zeigen, dass die Botschaft angekommen war. Ich machte dies aber so, dass es für die anderen unbemerkt blieb. Wir beiden wollten nicht, dass ein Dritter unsere heimliche Kommunikation entdeckte; sonst hätte meine unkonventionelle Kur vereitelt werden können. Der Arzt wollte damit formell nichts zu tun haben. Daher verschlüsselten wir unsere Botschaften.

Nach zwei Wochen in dem Krankenhaus wurde ich zur Rehabilitationskur in der Rehabilitationsklinik Saulgau in der Nähe des Bodensees überwiesen. Dort gab es eine ausgezeichnete medizinische Pflege und leckeres Essen. Ich wohnte in einem luxuriösen Apartment mit Balkon. Als meine Freundin und die Kollegen zu Besuch kamen, badeten wir in dem Bodensee. Ich konnte schon unbegleitet an Krücken gehen und kam selbstständig mit allen Dingen klar. Erst anderthalb Monate nach dem Unfall kam ich nach Hause zurück.

Die Grenzen, die Leben und Tod scheiden, sind unbestimmt und dunkel. Wer kann sagen, wo das eine endet und das andere beginnt?

(Edgar Allan Poe).

Durch die Hölle in die Freiheit

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