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Ein Album voller Wunden

City

5.–18. Februar 197515

15 Mit einer Schlusszeile aus dem Rolling Stone vom 13. März 1975.

Bob Dylan meinte es ernst, als er sein neues Album Blood on the Tracks nannte – die Songs sind mit Blut bedeckt. »Warnen Sie alle feinfühligen und wählerischen Gemüter davor, auch nur einen flüchtigen Blick in das Buch zu werfen«, schrieb Herman Melville über Moby Dick, voller Zufriedenheit angesichts des vollendeten Werks und voller Sorge, was dessen Aufnahme durch das Publikum betraf; Dylan hat ein Recht, das Gleiche zu empfinden. Blood on the Tracks ist ein Album voller Wunden: eine Geschichte über den Krieg, den ein Abenteurer gegen eine Frau und gegen sich selbst führt, und zugleich ein faszinierender Versuch, die Erinnerung, die Fantasie und die Angst vor der Liebe und vor dem Tod einem künstlerischen Impuls dienstbar zu machen, der dem Desaster etwas Positives abgewinnen möchte, indem er daraus etwas Schönes erschafft.

Es ist eine großartige Platte: düster, pessimistisch und verstörend, ohne großen Aufwand produziert und von einem so tiefen Schmerz erfüllt, wie Dylan ihn bislang noch nie offenbart hat. Und obwohl es auf Blood on the Tracks dieses oder jenes Echo von früheren Werken Dylans gibt (die Thematik erinnert an Another Side of Bob Dylan, die innere Geschlossenheit an John Wesley Harding, der Gesang an Before the Flood), ist Bob Dylans Weigerung, sich jemals auf irgendetwas festnageln zu lassen, das Einzige an ihm, was sein Publikum auf diese ­Musik hätte vorbereiten können.

Dylan präsentiert uns hier eine Fiktion mit ihm in der Hauptrolle. Er beginnt seine Geschichte mit »Tangled Up in Blue«, einer verwickelten Erzählung, die uns nicht nur mit dem Helden von Blood on the Tracks bekannt macht, sondern auch mit der Frau, die er umwerben und verlassen wird, die er verfluchen und verlieren und wieder verlieren wird, die ganze Zeit hindurch, bis zum Schluss des Albums, der fast eine Stunde später erfolgt. Mit Ausnahme von »You’re Gonna Make Me Lonesome When You Go«, dem einzigen Schwachpunkt des Albums, zählen diese Songs zu den besten, die Dylan je geschrieben hat – jeder von ihnen ist anders und alle sind sie aus einem Guss.

In a little hilltop village

They gambled for my clothes

Little red wagon, little red bike

I ain’t no monkey but I know what I like

They say I shot a man named Gray

And took his wife to Italy

She inherited a million bucks

And when she died it came to me

I can’t help it

If I’m lucky

Das ist klassisches amerikanisches Songwriting, so schlicht und rätselhaft wie die Countrymusik der Zwanzigerjahre, der Blues der Dreißigerjahre oder der Rock ’n’ Roll der Fünfzigerjahre – Sachen wie »Worried Man Blues« von der Carter Family, Buell Kazees »East Virginia«, Jimmie Rodgers’ durchnummerierte Serie von »Blue Yodels«, Rabbit Browns »James Alley Blues«, Willie Browns »Future Blues«, Sonny Boy Williamsons »Eyesight to the Blind«, Johnny Aces »Pledging My Love«. Diese Songs sind so selbstverständlich und so beunruhigend wie das Wetter; es gibt keinen, der sie nicht verstehen kann, aber restlos ergründen kann sie auch keiner. Und mit Blood on the Tracks verhält es sich genauso.

Die instrumentale Begleitung auf diesem Album ist rein funktional, unspektakulär, abgesehen von Dylans Mundharmonika und von seiner Gitarre bei »Buckets of Rain« (er macht nichts, was Ry Cooder nicht machen könnte, doch Cooder könnte nicht mit so viel Seele spielen, selbst wenn er hundert Jahre lang übte). Die Musik auf den besten Dylan-Platten ist immer etwas Besonderes gewesen (man denke nur an Charlie McCoys Bass auf John Wesley Harding oder an Kenny Buttreys Schlagzeug bei »Absolutely Sweet Marie«) und das vermisse ich hier.

Weil einen die Musik nicht unmittelbar packt, muss man sich mög­licherweise hinsetzen und genau zuhören, bis man sich mit den Songs angefreundet hat. Das Album ist nicht unzugänglich, doch es stellt seine Anforderungen. Man muss der Musik eine gewisse Geduld entgegenbringen und dann, plötzlich, nachdem Dylan mit den wohl schlechtesten Zeilen, die er jemals geschrieben hat, in eine Strophe eingestiegen ist, haut er einen um:

Time is a jet plane, it moves too fast

Oh, but what a shame, that all we shared can’t last

I, I can change, I swear!

Oh, see what you can do

I can make it through

You can make it, too

Eine Maske des Abenteurers geht in die andere über: Der ewige Unschuldige von »Tangled Up in Blue« wird zum Ankläger von »Idiot Wind«, der versoffene Bluesgeist von »Meet Me in the Morning« zum Fabulanten von »Lily, Rosemary and the Jack of Hearts«, der Verlierer von »Shelter from the Storm« zum erschöpften Überlebenden von ­»Buckets of Rain«. Und falls es einen roten Faden gibt, der all diese Songs durchzieht, und ich denke, es gibt einen – die Odyssee eines mythischen Liebenden, der von einer Liaison besessen ist, die er nie auflösen kann –, so bildet »Lily, Rosemary and the Jack of Hearts« den Mittelpunkt des Albums. Der Herzbube ist der heimliche Held, der der Erzähler gern wäre: der mysteriöse Fremde, der in die Stadt gestürmt kommt, sie auf den Kopf stellt und sich dann mit der Liebe ihrer Frauen und obendrein noch deren Geld davonmacht, bevor irgendjemand einen klaren Blick auf sein Gesicht oder in sein Herz hat werfen können. Davor und danach kommen die Songs über den Mann, wie er tatsächlich ist: derjenige, der eine Zuflucht vor dem Sturm gesucht, gefunden und wieder verloren hat.

Dylan ist es ein weiteres Mal gelungen, die Belanglosigkeit der ­gesamten Popszene zu entlarven, indem er ein Album veröffentlicht, das wie ein Messer durch diese hindurchschneidet. Blood on the Tracks offenbart die Leere und Zaghaftigkeit der Platten, die heutzutage als genial durchgehen; es steckt einen Claim für seine eigene Stimme ab und für die Dauer des Albums ist diese Stimme eine ganze Welt. Blood on the Tracks beweist, dass Dylan ein Wegbereiter ist, denn mitten in der Stadt ist er in der Lage, vergessene Straßen zu entdecken und daraus etwas Neues zu machen.

Am besten gefällt mir allerdings, wie er den Ortsnamen »Dela­croix« ausspricht.

Bob Dylan, Blood on the Tracks (Columbia, 1975).

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