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Die Legende von Blind Steamer Trunk

San Francisco Express Times

24. Dezember 1968

Hoch über den Köpfen des Publikums waren drei in Orange und Rot gehaltene Bilder aufgehängt, eine Art Verschmelzung der Masken von Komödie und Tragödie, die von separaten Spotlights angestrahlt wurden. Der Bassist, der mit seinem Instrument Kreise in die Luft zeichnete, tänzelte von einem Ende der Bühne zum anderen und wirkte ­dabei selbst in Bewegung wie eine Standfotografie der Freiheit des Rock ’n’ Rolls. Der Sänger schwenkte seine rote E-Gitarre in Richtung des Leadgitarristen, als er die letzten Zeilen von »Baby Let Me Follow You Down« anstimmte und sich dabei schon auf die Kollision von Tönen vorbereitete, die es sicher gleich geben würde. Und dann legten sie sich ins Zeug; die beiden Musiker wirbelten um ihr Mikrofon herum, ihre Gitarren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, ihre Finger einander fast berührend, während die von ihnen entfesselten Klänge höher und höher stiegen, bis hinauf zu den Deckenbalken, wo ihnen das Dach schließlich Einhalt gebot.

Der Sänger trat nun einen Schritt zurück und wandte sich grinsend dem Publikum zu, während die auf sich allein gestellte Band den letzten Refrain ansteuerte und er, umrahmt von seinem zerzausten Haar, die Hände über die rote Gitarre huschen ließ:

You can do anything that you want to baby

That you want to baby

Yes, if you want to baby if you

Just don’t make me hurt!

Das war Bob Dylan im Herbst 1965, vor mehr als drei Jahren. Bob Dylan und die Hawks live auf der Bühne – so etwas hatte es vorher noch nie und danach auch nie wieder gegeben. Drei Jahre voller Erinnerungen, drei Jahre des Wartens, der Angst, es könnte für immer mit ihm vorbei sein, drei Jahre der vergeblichen Hoffnungen, ihn ein weiteres Mal auf der Bühne zu erleben. Werden wir uns an den Kitzel erinnern, den er uns beim letzten Mal beschert hat? Erinnerungen verblassen und sie kehren verändert zurück: mit Legenden, mit Bildern, zu groß, um sie vollends zu erfassen.

Legenden geraten aus den Augen, jedoch nicht ganz aus dem Sinn; sie bedrängen einen nie, sondern tauchen einfach so auf, aus dem Tag, von den Straßen, aus den Mauern. Legenden sollen die Glorie des Todes repräsentieren, aber sie können auch Witze erzählen. Die Legende vom blinden Bluessänger bedeutete in Berkeley einmal eine Menge; irgendwie brachte diese Geschichte die Leute in Kontakt mit den Entbehrungen und der künstlerischen Schöpfung »on the road«, den amerikanischen Highway hinunter, vielleicht hin zu den Bergbewohnern, bevor dem Biber in den hoch gelegenen Wasserläufen mit Fallen der Garaus gemacht wurde, zurück zu Ödipus und Homer, dem Mann, der gehen, aber nicht sehen konnte, dem Mann, der von seinem eigenen Geheimwissen geleitet wurde.

Es muss so etwas wie ein Kult sein und Kulte erzählen keine ­Witze. Die Leute drehten sich um und lachten über ihre Legenden und – siehe da! – aus Blind Lemon Jefferson entstanden Blind Joe Death und der unsterbliche Blind Ebbets Field. Es tauchten jedoch neue Legenden auf, einige, die mitunter zu imposant erschienen, um mit ihnen reden zu können, Gestalten von einer unschuldigen Größe, die einen irgendwie nervös machten. Das war die Stimmung, wie sie eines Abends im alten Jabberwock in Berkeley herrschte.

Der Laden war gut besucht und es war spät, Zeit für das ständig wiederkehrende Berkeley-Gerücht. Ein Typ wandte sich an einen anderen und setzte es in Umlauf: »Ich habe gehört … also, ich habe gehört, Dylan sei in der Stadt.« Es dauerte keine zwei Minuten und jeder im Raum hatte es ebenfalls mitbekommen. Das Ganze entwickelte eine rasante Eigendynamik. »Jemand hat gesagt, dass er vielleicht hier aufkreuzen wird, aber Näheres weiß ich noch nicht …« Jedes Mal, wenn die Tür auf- oder zuging, drehten sich die Köpfe mit leuchtenden Augen dorthin, um sich gleich wieder wegzudrehen. Nach einer halben Stunde war die Spannung kaum noch auszuhalten.

Hinter der Bühne schmiedete man eifrig Pläne. Ein Mann trat auf die Bühne. Es kehrte augenblicklich Ruhe ein und er begann zu sprechen. »Etwas Unglaubliches ist geschehen. Wie manche von euch vielleicht schon wissen, ist heute jemand in Berkeley eingetroffen, der uns mit seiner Musik begeistert hat wie kaum ein anderer – ein Sänger, ein Musiker, ein Songwriter. Er hat eingewilligt, uns einen Song vorzu­tragen, als einen besonderen Gefallen, doch aufgrund gewisser ver­traglicher Komplikationen – die ich hier nicht im Einzelnen erläutern kann – dürfen wir ihn nicht namentlich ansagen. Aber«, sagte er augenzwinkernd, »ihr wisst sicher alle, wen ich meine.« Es stimmte also tatsächlich. Alle strahlten vor Freude. Der Ansager verzog sich hinter die Bühne, kehrte aber kurz darauf wieder zurück. »Wie ich soeben erfahren habe«, sagte er, »kann B–, äh, kann er wegen der genannten Komplikationen nicht persönlich auftreten. Aber« – und hier folgte eine kurze Kunstpause – »er wird uns etwas vortragen!«

Man konnte ein lautes Poltern hören. Hinter der Bühne wurde eine Gestalt mit einer Mundharmonika in der Hand in eine riesige ­Kiste hinuntergelassen. Drinnen im Lokal rückten alle näher an die Bühne heran. Der Ansager holte zum entscheidenden Schlag aus. »Da er nicht persönlich auftreten darf und da wir ihn nicht beim Namen nennen dürfen, präsentieren wir euch jetzt … Blind Steamer Trunk!« Die gewaltige, vage an einen Überseekoffer erinnernde Kiste wurde auf die Bühne geschleppt, der Deckel sprang auf und aus dem alten, mit rostigen Scharnieren versehenen Holzkasten ertönte ein aufreizend kurzes Mundharmonikasolo im besten Dylanstil. Der Deckel klappte wieder zu und das sperrige Ding wurde in die Nacht hinausbefördert. Blind Steamer Trunk war in die Ewigkeit eingegangen.

Bob Dylan, »Baby Let Me Follow You Down«, auf Long Distance Operator (Wanted Man Bootleg, aufgenommen im Berkeley Community Theatre, 4. Dezember 1965). Eine noch heißere Version findet sich auf the bootleg series volume 4: Live 1966 – The »Royal Albert Hall« Concert (Columbia, 1998, aufgenommen in der Manchester Free Trade Hall, 17. Mai 1966).

TEIL EINS

Atemtechnik, 1970–1974

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