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ОглавлениеNew Morning
New York Times
15. November 1970
Bob Dylans New Morning ist sein bestes Album seit Jahren, eine Zusammenstellung von zwölf neuen Songs, deren wahre Kraft, den Zuhörer zu bewegen, sich zunächst in dem hell schimmernden Pop verbirgt, mit dem diese unterhaltsame Platte aufwartet.
Viele der Songs scheinen an Ort und Stelle entstanden zu sein, mit dem Vertrauen in die Fähigkeit von erstklassigen Musikern, sich jederzeit in jede Richtung bewegen zu können. »I know you’re gonna think this song is just a riff«, sang Bob vor fünf Jahren, achtete jedoch darauf hinzuzufügen: »unless you’ve been inside a tunnel and fell down sixty-nine, seventy feet over a barbed wire fence«. Die Riffs, die Eingebungen und die Studioimprovisationen von New Morning haben ihre eigene Persönlichkeit – nicht die Ruhe und Gelassenheit von Nashville Skyline oder die offenbare Gleichgültigkeit so vieler Nummern auf Self Portrait, sondern die diebische Freude am Vorausahnen der richtigen Bewegung, das große Vergnügen, etwas punktgenau hinzubekommen und sich von einem Akkord direkt in eine neue Textzeile zu stürzen.
Die sorgfältiger ausgearbeiteten Songs – insbesondere »Went to See the Gypsy« und »Sign on the Window« – sind trügerisch, denn auch sie wecken beim Zuhörer den Eindruck, die Musik auf diesem Album sei einfach so aus dem Ärmel geschüttelt worden. Diese Songs wirken simpel, und obwohl sie es keineswegs sind, kann man sie dennoch so hören, als seien sie es.
Es macht Spaß, sich New Morning anzuhören. Noch nie hat Dylan mit einer solchen Verve gesungen. Die Platte besitzt ihren eigenen Sound, eine reichhaltige, offene Rock-’n’-Roll-Kombination aus Dylans Klavier, Al Koopers Orgel, Backgroundsängerinnen, zwei oder drei markanten Gitarren und einem exzellenten Schlagzeugspiel.
Als Gruppe sind die Musiker am besten beim Titelsong, wo sie mit hartem Rock aufwarten. Die überraschende Vehemenz dieser Nummer – die bei jemand anderem womöglich nur ein weiteres fades Loblied auf den Optimismus gewesen wäre (und wahrscheinlich auch sein wird) – resultiert nicht aus einer wuchtigen »heaviness«, sondern aus einem perfekten Timing, einem Schock purer Aufregung gegen Ende der Nummer und aus Bobs Gesang. Während uns der Songtext ein hübsches Bild vor Augen führt, intoniert Dylan das letzte oder die beiden letzten Wörter mit einer kompromisslosen Unerbittlichkeit und unterwirft sich nicht der auf der Hand liegenden Art, den Song zu singen, sondern intensiviert den schlichten Enthusiasmus der Nummer mit einer so festen Entschlossenheit, dass eine ganze Konversation von Gefühlen ins Spiel kommt.
Einer der Aspekte, die dieses Album zu etwas Besonderem machen, ist seine meisterliche Zusammenstellung. Die Songs kommunizieren miteinander, wobei sie mitunter auch als Stichwörter für ihnen folgende Songs oder als Kommentare zu ihnen vorausgehenden Songs fungieren. Der erste Track, »If Not for You«, wirkt wie die sofort ins Ohr gehende zentrale Textzeile einer Single und bricht mit seiner Ausgelassenheit das Eis. Dylans Mundharmonika gesellt sich hinzu, nur dieses eine Mal, wie der als Statist kurz durchs Bild spazierende Alfred Hitchcock, und bietet vorübergehend etwas Vertrautes. Der Frohsinn dieser Nummer entkräftet die sich zwangsläufig einstellende Skepsis des Zuhörers (»Hmmm, was wird das wohl werden?«) und erzeugt einen Raum von unbeschwerter Freiheit, für Dylan wie auch für seine Fans.
In dieser Stimmung kann man entweder all den netten Kommentaren lauschen, die Bob im zweiten Track, »Days of the Locusts«, zu seinem Ehrendoktortitel abgibt, oder man genießt einfach, wie er sich hier die Seele aus dem Leib singt.
Der Song endet mit einer Flucht in die Black Hills von Dakota und der nächste beginnt damit, wie der Sänger entspannt das langsame Verstreichen der Zeit oben in den Bergen preist. Solche Übereinstimmungen oder die beiden beiläufigen Bemerkungen zum Thema Fischfang oder die diversen, über das gesamte Album verstreuten geografischen Namen (Utah, Las Vegas, Minnesota, Montana, Kalifornien) verleihen dem Album seine eigene Wirklichkeit, ohne die Songs dabei in ein logisches Muster zu pressen.
Wenn das Album endet, mit zwei religiösen Fiktionen – die erste ein gesprochener Absatz von etwas, das wie der Sermon eines Fernsehpredigers klingt, die zweite ein gespenstisches calvinistisches Grollen –, dann entdeckt man erneut, dass die Songs einander kommentieren, denn die an den rührseligen Schmus von Oral Roberts erinnernde Schlusspassage von »Three Angels« (»But does anyone hear the music they play? Does anyone even try?«) wird konterkariert vom strengen Bekenntnis von »Father of Night«. Nach einer Weile beginnen die beiden Songs ineinander zu verschwimmen, wodurch beide jeweils interessanter werden, und die Kraft von »Father of Night« färbt ein wenig auf den Scherz von »Three Angels« ab. Als Album hat New Morning einen Kontext, aus dem jeder Song hervorgeht, aber dem sich kein Song unterwirft.
Dies ist ein amerikanisches Album mit einem Hang gen Westen (»westwärts ziehen«, wie wir einst zu sagen pflegten) und »Sign on the Window« ist womöglich das Kernstück von New Morning. »Sign on the Window« ist von allen zwölf Songs der ergiebigste und vielleicht die beste Aufnahme, die Dylan jemals gemacht hat. Sein vielseitiges Klavierspiel untermalt fast die gesamte Musik des Albums; hier spielt er weitgehend allein. Die Band und die Backgroundsängerinnen schalten sich zwischen den Strophen kurz ein, doch es ist Dylans Performance:
Her and her boyfriend went to California
Her and her boyfriend done change their tune
My best friend said, »Now didn’t I warn ya …«
»Sign on the Window« ist auf gewisse Weise die andere Seite von »Sweet Betsy from Pike«, die Geschichte eines Mannes, der es nicht geschafft hat, die Reise anzutreten. Man kann den Sänger sehen, wie er betrunken in einer Stadt irgendwo östlich des Mississippi herumlungert und wie sich seine Isolation zum Ausschluss entwickelt. »Sure gonna be wet tonight on Main Street«, lautet eine Zeile, und die in Dylans Gesang und in seinem Klavierspiel liegende Kraft lassen es einem so vorkommen, als sei dies die beste Zeile, die er je geschrieben hat. Heute Abend wirds auf der Hauptstraße sicher nass sein, aber nun ja, wo kann man sonst schon hingehen?
Dylan stellt die Emotionen des Songs auf seinem Klavier dar. »Build me a cabin in Utah«, singt er am Ende des Songs. »Marry me a wife, catch rainbow trout … That must be what it’s all about.« Es wird todsicher heißen, diese Schlusszeilen seien Bob Dylans neue Botschaft an uns alle, doch das sind sie wohl kaum. Wenn eine Ehefrau und ein Fluss voll Forellen dermaßen leicht einen gleichwertigen Platz einnehmen, so handelt es sich wohl kaum um eine tatsächliche Lebensweise, sondern eher um ein Traumidyll. Eine Hütte in Utah ist die Art von Traum, die man braucht, wenns heute Abend auf der Hauptstraße nass sein wird, wenn man die Fantasie mit der Erfahrung konfrontiert.
Diese Dinge sind nicht das, »worum es im Leben geht«, ja noch nicht einmal das, worum es in diesem Song hier geht, denn dieser handelt vielmehr von jenem alten amerikanischen Drang, jener alten, in unseren Köpfen herumgeisternden Vorstellung: »Es muss doch noch einen Ort geben, der unberührt ist …« Wie weit nach Westen muss man ziehen, um frei zu sein? Dies ist ein großartiger Song, ein Lovesong, der auf dem Rücken des ersten amerikanischen Traums gen Westen zieht.
Dieses ausgezeichnete Album erscheint nur wenige Monate nach Dylans überwiegend erfolglosem Self Portrait. New Morning rockt nicht nur mit der Vitalität, die Self Portrait fehlt, nein, Dylans Entscheidung, eine neue Platte nicht erst nach der üblichen einjährigen Wartezeit herauszubringen, ist selbst ein Akt der Vitalität. Eine der Funktionen des Rock ’n’ Roll ist die Zersprengung von kulturellen Schablonen und somit natürlich auch von Rock-’n’-Roll-Schablonen. Dylan hat, in einem gewissen Ausmaß, das Gesetz der Zurückhaltung gebrochen, das seine Karriere beherrscht zu haben scheint, und dadurch hat er wieder ein bisschen Leben in die Rock-’n’-Roll-Szene gebracht.
Im vergangenen Jahr hat sich das Rock-’n’-Roll-Publikum aufgespalten, da die Musik jenen öffentlichen Charakter verlor, der sich aus unserer gemeinsamen Beteiligung an dem Ereignis ergab, auf dem die Musik der Sechzigerjahre basierte – die Beatles. Des einen Freud ist des anderen Leid, doch 1965 straften wir diese Redensart Lügen, als uns die Beatles, die Rolling Stones und Bob Dylan die Erschaffung einer gemeinsamen, jedem von uns zugänglichen Fantasie offenbarten. Und jetzt, wo die Captain-Beefheart-Fans die Legionen von Led Zeppelin verspotten, und umgekehrt, jetzt beschert uns Dylan ein Album voller Humor und Tiefgang und vielleicht wird es ja als ein Geschenk von fast dem gesamten Publikum angenommen, als etwas, das man gemeinsam hat, als etwas, das man teilen kann.
Während die Textzeilen und Formulierungen von New Morning in unsere Sprache eingehen, merken wir möglicherweise, dass Bob Dylans beachtliche neue Songs uns nicht nur persönlich ansprechen, sondern uns auch die Gelegenheit geben, eine Zeit lang miteinander zu sprechen.
Bob Dylan, New Morning (Columbia, 1970).