Читать книгу Religiösen Machtmissbrauch verhindern - Группа авторов - Страница 20
5. Gemeinde – die unterschätzte Macht
ОглавлениеWenn es um Machtmissbrauch geht, dann haben wir schon festgestellt, dass es nicht nur um Personen, sondern auch um ungesunde Strukturen geht, die Grenzüberschreitungen begünstigen und manchmal überhaupt erst ermöglichen. Denn die Ausübung von Macht und die Frage nach religiös motiviertem Missbrauch gibt es nicht nur durch rigide Machtausübung von Inhabern formeller Macht, sondern meist durch informelle Leitungsrollen, die durch intransparente Strukturen ermöglicht wird. Ines hat erlebt, dass sie systematisch unter Druck gesetzt und manipuliert wurde und keinerlei Ansprechpartner fand, die ihr in dieser Situation zur Seite standen, ihr zuhörten und ihre Ängste und Bedenken ernst nahmen. Dies ist wohl kein Zufall, denn in manchen Gemeinden sind die Strukturen tatsächlich so aufgebaut, dass leitende Personen und ihre Meinungen (und Theologie) unantastbar sind bzw. dass es keine Möglichkeit der Mitbestimmung oder Kritik gibt. Es gibt – häufig ungeschriebene – Hierarchien statt Mitspracherecht und Beteiligung, und in diesen Hierarchien steigt man häufig nur durch ein undurchsichtiges (angeblich von Gott eingesetztes) Berufungsverfahren auf. Es mangelt an Transparenz; Entscheidungen von Autoritätspersonen können ebenso wie ihr Handeln teilweise nicht nachvollzogen werden. Kritik ist nicht erwünscht und wird als eigener Fehler (beispielsweise mangelndes Gottvertrauen) zurückgespiegelt. Inge Tempelmann bringt dies sehr gut auf den Punkt, wenn sie schriebt: „Wenn Machtmissbrauch Einzug hält in kirchlichen Organisationen, ist Macht nicht mehr dazu da, wozu sie gegeben ist, nämlich um zu schützen, zu bewahren, zu erhalten, zu ermöglichen, zu fördern und andere zu bevollmächtigen. Stattdessen wird sie benutzt, um eigene Bedürfnisse zu befriedigen – Bedürfnisse nach Kontrolle, Bedeutung, Ansehen, Nähe, Selbstwert, Sicherheit oder anderem Gewinn.“7 Sehr deutlich wird dies beispielsweise an Mitarbeiterregeln und deren Einhaltung. In manchen Gemeinden, wie z. B. bei Ines, gab es Regeln, die unbedingt eingehalten werden sollten und die im Gegensatz zu anderen Dingen eine unverhältnismäßige Priorität hatten. Oftmals ist den Beteiligten dabei völlig unklar, warum es bestimmte Regeln gibt bzw. ob diese tatsächlich biblisch-theologisch begründet werden können oder einfach nur gewisse Gemeindetraditionen widerspiegeln. So können ungesunde Strukturen entstehen, die hinterfragt werden müssen. Es geht dabei nicht darum, dass es keinerlei Regeln in Kirchen und Gemeinde geben darf oder ethische Leitlinien komplett abgelehnt werden müssen, sondern es geht darum, gemeinsam um diese zu ringen und sie zu leben – und das immer mit und für die Menschen statt gegen sie. Nochmal zurück zu Indes. Sie glaubt heute nicht mehr an Gott, aber ihr geht es gut und sie denkt noch viel über ihren ehemaligen Gauben nach und wie es zum Zerbruch kommen konnte. Als einen Grund sieht sie einen „Gemeindekodex“, der eingehalten werden muss, weil man sonst in der Gemeinde als „Christ zweiter Klasse gesehen oder behandelt werden. Wo solche Einstellungen existieren, hat man aber bereits den Boden einer gesund machenden, biblischen Lehre verlassen, in der das Evangelium für den Menschen und nicht gegen ihn ist.“ Strukturen sollten den Menschen, ihrem Glauben und der Gemeinde dienen und ihnen keine Fallgruben bauen. Viele Leiterinnen und Leiter unterschätzen die Macht, die sie ausüben, und oftmals ist es auch eine gewisse Unsicherheit, die dann mit „biblischen Argumenten“ zementiert wird. Diese Spiegelung wiederum, man handele unbiblisch oder ungeistlich, macht es den Betroffenen noch schwerer, ihr Anliegen loszuwerden. Formulierungen wie „Gott hat gesagt …“ oder „Der Heilige Geist hat mir gezeigt …“ können Menschen unter Druck setzen und manipulieren. Eine Gemeinde sollte also Strukturen haben, die solchen Machtmissbrauch vermeiden.