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1 Bildungsnachteil Muttersprache?

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Die Sprachwissenschaft liebt den Begriff Muttersprache nicht, denn bei der Sprache oder den Sprachen, in der bzw. in denen ein Kind sozialisiert wird, mit der / denen es in den ersten Lebensjahren aufwächst, kann es sich auch um die Vater- oder Omasprache handeln, oder aber um mehrere Familien- oder Herkunftssprachen. Manchmal ist Deutsch zur ersten Sprache der Kinder geworden oder aber steht gleichrangig neben den in der Familie gesprochenen Sprachen. Ich nenne alle diese Sprachen Nähesprachen, Sprachen also, die im Leben der Kinder eine wichtige Rolle spielen, in denen sie sich sicher und zuhause fühlen und die nicht gegeneinander ausgespielt werden sollten. Dabei wird der Terminus „Nähesprache“ hier nicht im strengen Sinne von Koch und Österreicher (1986) benutzt: Kriterium ist die Vertrautheit, die Kinder in dieser Sprache empfinden. Da Muttersprache für viele ein Hochwertwort ist – signalisiert es doch die Bedeutung dieser ersten Sprache(n) des Menschen für die Identitätsentwicklung – benutze ich dieses Wort im Folgenden weiterhin in Singular und Plural im Sinne von „Familiensprache(n)“ bzw. „Nähesprache(n)“.

Mit der Muttersprache / Nähesprache – oder, wenn es mehrere sind, mit den Nähesprachen – entwickeln Kinder ihre eigene Persönlichkeit, ihr Selbst-Bewusstsein und ihr Zugehörigkeitsgefühl zur Familie. Das gilt keineswegs nur für die personale und familiale Sozialisation, sondern ebenso für die sozio-kulturelle, ist es doch die Muttersprache bzw. sind es doch die Nähesprachen, mit der Kinder auch in die Gesellschaft, in erste Welt- und Wertvorstellungen – z.B. der Religion – hineinwachsen. Und schließlich prägt sie die kognitive Entwicklung, indem sie die ersten Wahrnehmungen der Welt bewusst macht, hilft, die Welt in Worte zu fassen.

Wenn wir akzeptieren, dass die Welt für Menschen erst durch Sprache(n) überhaupt als Welt fassbar wird – vom eigenen Namen über die Familie bis zur ersten Begrifflichkeit –, dann ist auch klar, dass die Muttersprache(n) oder die Mutter- und Vater-, die Oma- und Geschwistersprachen dabei die zentrale Arbeit leisten. Und gerade, weil diese Nähesprachen so untrennbar mit der Entwicklung der Persönlichkeit verbunden sind, bleiben ihre Prägungen auch dann erhalten, wenn sie nicht mehr das aktuelle Leben bestimmen. Sie sind Sicherheitsinsel, Anker in Situationen der Unsicherheit und Ungewissheit. In aller Regel wirkt die Bestätigung und Anerkennung der Muttersprache(n) positiv auf die Selbsteinschätzung, die Bildungsaspiration und die Familiensolidarität.

Eine zu frühe Unterbrechung der Sprachentwicklung in der Muttersprache, eine Bedrohung oder ein Verlust der Muttersprache, ehe eine relative Stabilität erreicht, d.h. zumindest eine erste Alphabetisierung erfolgt ist, kann Störungen in der Entwicklung der emotional-affektiven, der sozialen und der kognitiven Entwicklung der Persönlichkeit haben. Für eine große Zahl von Kindern aus Migrantenfamilien in unseren Schulen tritt eine solche Unterbrechung der Sprachentwicklung mit dem Eintritt in Kindergarten bzw. Schule ein. Ihre Muttersprachen werden nicht nur nicht weiterentwickelt, sondern oftmals abschätzig bewertet oder gar verboten.

Am Anfang des Bildungsweges von Kindern mit Migrationshintergrund steht oftmals nicht der Blick auf das, was sie aus ihrer Familie mitbringen, auf das, was sie können, sondern eine Defizitzuschreibung: „Du kannst ja kein Deutsch“. Dass diese Kinder stattdessen eine oder in der Regel zwei und mehr Sprachen beherrschen, nutzt ihnen in diesem Zusammenhang nichts. Und dafür gibt es vor allem zwei Gründe:

1 Die Ablehnung der Muttersprachen,weil unsere Gesellschaft sie als Indiz für „Integrationsverweigerung“ fehlinterpretiert,weil wir selbst diese Sprachen nicht beherrschen und verstehen und uns dieser Kontrollverlust beunruhigt; das gilt auch und gerade für Lehrkräfte,weil wir glauben, hier geborene Kinder der zweiten oder dritten Migrantengeneration hätten ohnehin keinen Kontakt mehr zu und keine Kenntnisse von ihren jeweiligen Herkunftssprachen, diese seien für die Kinder unwichtig und für schulische und berufliche Perspektiven hinderlich, und nicht zuletzt auch,weil wir die Illusion haben, eine frühe Deutschförderung im Kindergarten mache ein Nachdenken über Mehrsprachigkeit in der Schule überflüssig;

2 Kinder mit einer anderen Muttersprache als Deutsch stellen unsere Vorstellungen von einem monolingualen Bildungswesen, in dem die einzig legitime die deutsche Sprache ist, in Frage (vgl. Gogolin 1994). Unser Bildungswesen präferiert die einsprachigen Kinder – ich bin versucht zu sagen –, weil sie, von der Schuleinschreibung, vom Kontakt mit den Eltern her und bis zur Kontrollierbarkeit dessen, was sie sagen, auch die „einfacheren“ Kinder sind.

Durch die Defizit-Zuschreibung werden Migrantenkinder von vornherein als ‚Versager‘ gekennzeichnet, ehe sie mit dem Lernen richtig angefangen haben: Hier liegt eine große Gefahr früher Sprachstandsdiagnosen, wenn in diesen nur die Deutschkenntnisse abgefragt werden und nicht auch die Nähesprachen, und Kinder dann als ‚sprachlos‘ und nicht schulreif markieren, obwohl diese durchaus sprachreif sind, wenn auch in anderen Sprachen. Kinder empfinden das als Abwertung ihrer Sprachen und ihrer selbst. In Österreich z.B. werden Kinder, die vor der Schuleinschreibung einen Deutschtest nicht bestehen, sogleich in separate, segregierte Deutschförderkurse abgeschoben, was die Kinder wie auch deren Eltern durchaus als Makel empfinden.

Eine der Reaktionen auf die Erfahrung, dass die Muttersprachen unterdrückt werden und durch die Zweitsprache in Gefahr geraten, ist die Abwehr von Mehrsprachigkeit und anderen Sprachen, Deutsch eingeschlossen, und der Rückzug in eine herkunftssprachliche Subkultur.

Oder aber es entsteht Konfliktzweisprachigkeit; Oksaar (2003: 163) spricht von sprachlicher Heimatlosigkeit: Die einsprachige Gesellschaft zwingt Migranten schon in der Kindheit, sich zu entscheiden und provoziert so die Frage, wo man hingehört, sei es im Rollenkonflikt zwischen der Rolle als Sohn oder Tochter einer anderssprachigen Familie und dem Wunsch, Mitglied der deutschsprachigen Peergroup zu sein, sei es auf Grund der Zuschreibungen, durch die man wegen das Namens, wegen des Aussehens oder wegen der Herkunft trotz aller Anstrengungen auf eine Existenz als Migrant fixiert bleibt.

Der Abbruch der Entwicklung der Erstsprachen, bevor diese voll entwickelt sind, die Abwertung der mitgebrachten Familiensprache(n) und die Vermittlung von Wissen in einer Sprache, die das Kind ja erst lernen soll, resultieren in verzögerter und reduzierter Entwicklung der Erstsprache (z.B. im Bereich Begriffsbildung), in einem schulischen Wissen, das außerhalb der Erstsprachenentwicklung bleibt, d.h. zwei Begriffssystemen und Sprachwelten, die unvermittelt nebeneinander stehen. Für die Betroffenen wird damit deutlich, dass die Erstsprache in Gefahr gerät, indem man z.B. neue Erfahrungen, neue Erkenntnisse nur in der Zweitsprache ausdrücken kann, weil die Erstsprache sich in der neuen Lebenswelt nicht mitentwickelt, man also zu Hause gar nicht mehr von dem erzählen kann, was man außerhalb der Familie in einer ganz anderen Sprache erlebt und in der Schule gelernt hat, oder gar, im schlimmsten Fall, weil man erfährt, dass die Verwendung der Erstsprache unerwünscht oder gar verboten ist. Das aber behindert die Verarbeitung von neuen Erkenntnissen, die ja eigentlich, so funktioniert Lernen, in das schon vorhandene Wissen eingeordnet werden müssen.

Der Muttersprachliche Unterricht / Herkunftssprachenunterricht trägt auf Grund seiner jetzigen Konstruktion ein Stück weit zu dieser Abwertung und Marginalisierung der Muttersprache bei: So wie für die deutschsprachigen Kinder Deutsch, so ist für die anderen eben der Muttersprachliche Unterricht Muttersprachenunterricht: Genau genommen gebührt ihm der gleiche Stellenwert, der gleiche Stundenumfang, damit er zur stabilen Identitätsentwicklung beitragen kann, zumindest bis zum Abschluss der Alphabetisierung.

Das Bildungswesen aber marginalisiert ihn: Man muss sich extra anmelden, in Österreich ist er als unverbindliche Übung, also nicht verpflichtend, ohne gebührende Bewertung der Leistungen, mit geringen Stundenzahlen, oft außerhalb der schulischen Kernzeiten, und mit gleichfalls marginalisierten Lehrkräften organisiert – wer ihn besucht, so könnte man die Botschaft verstehen, ist ebenso randständig wie dieses Unterrichtsangebot.

Die Menschen verstehen: Grenzüberschreitende Kommunikation in Theorie und Praxis

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