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4 Mehrsprachigkeit als Grundlage für die Entwicklung der Bildungssprache Deutsch

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Spätestens mit Klasse 3 und 4 tritt beim schulischen Lernen neben die Alltagssprache die Bildungssprache: Eine mehr an der Schriftsprache orientierte Ausdrucksweise, das Verstehen immer komplexerer Texte – bildungssprachliche Kompetenz setzt ein hohes Maß an Sprachenbewusstheit, an De-Kontextualisierung, an Übersetzungsfähigkeit aus der Alltagssprache voraus. Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit sind für den Erwerb der Bildungssprache eine sehr gute Grundlage, denn mehrsprachige Kinder bringen dafür wertvolle Erfahrungen mit: Das Laien-Dolmetschen zwischen den Sprachen in der Familie, die Erkenntnis, dass ein Tisch nicht ein Tisch ist, sondern dass Tisch lediglich die Benennung ist, dass der gleiche Gegenstand auch asztal (Ungarisch), cto (Serbisch) oder tavola (Italienisch) heißen kann, all das sind wichtige Schritte bei der bewussten Fokussierung auf die Trennung und den Zusammenhang von Inhalt und sprachlicher Form, wie er für die Bildungssprache und das Erschließen von Bedeutungen unumgänglich ist.

Abstrahieren, Vergleichen und Unterscheiden sind Fähigkeiten, ohne die Bildungssprache nicht funktioniert. Aus einem richtig angelegten Mehrsprachigkeitsunterricht bringen Kinder diese Fähigkeiten bereits ein Stück weit mit. Der personale Kommunikationsmodus wird abgelöst durch die „kognitiv-akademische Sprachfähigkeit“ (Cummins) – der Inhaltsaspekt, die Sache, das Fach tritt in den Vordergrund. Mehrsprachigen Kindern fällt dieser Sprachwechsel von der Alltags- in die Bildungssprache vielfach leichter, haben sie doch bereits Erfahrungen mit Sprachwechseln.

Derzeit herrscht ein zu kurzsichtiger Blick auf Sprachförderung: Der Glaube, wenn man Migrantenkinder vor Schulbeginn sprachlich fördere, dann sei alles erledigt, ist falsch. Die Bildungssprache entwickelt sich erst mit dem zunehmend fachlichen Lernen – Förderung vor Beginn der Schulzeit macht eine Förderung in der Schule nicht entbehrlich – Spracherwerb ist eine langfristige Angelegenheit – und die bildungssprachlichen Anforderungen treten ja vor allem ab Klasse 3 und 4 auf.

Mehrsprachige Kinder entwickeln bereits eigene Strategien im Umgang mit ihren vielen Sprachen, sie versuchen selbst, Ordnung in die Sprachen zu bringen. Das beginnt mit einfachen Einsichten, welche Sprache oder welche Sprachvarietät sie mit wem sprechen: Mit Mutter und Vater eventuell andere als mit Oma und Opa, andere wiederum mit den Peers und mit ihren Lehrerinnen und Lehrern. Da sich auch bei mehrsprachigen Kindern das Vergleichen von Sprachen gar nicht verhindern lässt, entwickeln sich bald auch weitergehende Einsichten in das unterschiedliche Funktionieren verschiedener Sprachen. Der Junge zum Beispiel, von dem die Frage stammt „Wieso die Tür, das Fenster – beides ist Loch in Wand?“, hatte versucht, sich die Genus-Regeln von der Bedeutung her zu ordnen, stößt damit aber an Grenzen. Genau hier brauchen Kinder Hilfe: Wie passt die neue Sprache in die schon vorhandene Sprachenwelt hinein, was unterscheidet sich und was ist gemeinsam? Wie kann ich sprachliche Fähigkeiten, die ich im Deutsch- oder im Muttersprachenunterricht oder auch im Fremdsprachenunterricht erwerbe, für die Lösung sprachlicher Aufgaben in allen anderen Unterrichtsfächern nutzen? Nur wenn Sprachen koordiniert erworben werden können, haben Kinder, die in zwei oder mehr Sprachen leben, Vorteile davon. Es geht um Gleichwertigkeit – deshalb sollte der sogenannte Muttersprachliche Unterricht eigentlich so wie der Deutschunterricht einfach sprachlich benannt werden: Türkischunterricht, Ungarischunterricht usw. Und es geht um die stärkere Integration dieser getrennten Fächer – etwa im Sinne eines Flächenfachs oder eines Gesamtsprachencurriculums.

Optimal wäre eine durchgängige mehrsprachige Erziehung. Dass eine solche möglich ist, zeigt das österreichische Bundesland Niederösterreich:

Seit gut 15 Jahren gibt es die niederösterreichische Sprachoffensive mit den niederösterreichischen Nachbarsprachen Tschechisch, Slowakisch und Ungarisch, so als hätte Albert Raasch Pate gestanden: Mehr als 15.000 Kinder in über 100 niederösterreichischen Kindergärten nahmen und nehmen daran teil; bisher ca. 35.000 Schülerinnen und Schüler sind es an den beteiligten 133 Schulen. Es ist schwer zu verstehen, weshalb dieses gut funktionierende Modell nicht längst in allen österreichischen und auch in deutschen Bundesländern Schule gemacht hat – und zwar in der Fläche, nicht bloß im Schulversuch. Bildungsgerechtigkeit, der Zugang zur Mehrsprachigkeit darf ja eigentlich nicht vom Wohnort abhängen.

Der Vorteil mehrsprachiger Angebote im Gegensatz zum jetzigen Konzept des Muttersprachlichen Unterrichts ist, dass davon alle Kinder profitieren, nicht nur die Migrantenkinder: Es ist nach meiner festen Überzeugung die Aufgabe der Schule, alle Kinder zu einem Leben in einer mehrsprachigen Welt unter den Bedingungen der sprachlichen und kulturellen Vielfalt zu befähigen. Das bedeutet,

1 dass mehrsprachige Kinder nicht einsprachig gemacht werden dürfen,

jedoch auch,

1 den einsprachigen Kindern diese Mehrsprachigkeit von Anfang an nicht vorzuenthalten und sie nicht auf Deutsch und Englisch zu beschränken.

Ein Schritt in die richtige Richtung wäre es, den Muttersprachlichen Unterricht zu einem Angebot für alle Kinder unabhängig von der Herkunft zu öffnen, wie das viele Schulen schon tun – die Lehrpläne sind vorhanden, die Lehrkräfte auch.

Beispielhaft verweise ich auf die Sprachen-Volksschule in Wiener Neustadt: Sie beginnt in Klasse 1 mit drei Sprachen: Deutsch, Englisch und – je nach Familiensprache eines Teils der Schüler – Ungarisch oder Türkisch; d.h. hier hat jedes der Kinder seine Nähesprache als Sicherheitssprache; mit Englisch gibt es sodann eine Sprache, in der alle Kinder unabhängig von der Familiensprache gemeinsam als Nullanfänger beginnen, und es gibt jeweils eine Peer-Sprache, auf die man neugierig werden kann, weil ein Teil der Kinder sie schon mitbringt, Deutsch im einen, Türkisch oder Ungarisch im anderen Fall. Das wird in der Schule dann zu einer neuen Nähe-Sprache.

Ein solches Konzept hat natürlich Voraussetzungen: Zusammenarbeit mit Eltern, Team Teaching, Zusammensetzung des Lehrerkräfteteams und viel Fortbildung. Aber das sind realistische Voraussetzungen.

Die Menschen verstehen: Grenzüberschreitende Kommunikation in Theorie und Praxis

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