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1. Differenziert lehren

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Das oben erwähnte anfängliche Zielvakuum im Programm JeKi kann einerseits von Lehrenden als Belastung angesehen werden, positiv gewendet stellt es aber auch einen relativ großen individuellen Handlungsspielraum dar. Allerdings fordert dies wiederum von den Lehrkräften zwingend ein, sich mit ihrer Art und Weise der Gestaltung des Unterrichts in diesem relativ offenen Feld zu positionieren, also je eigene Inszenierungsmuster zu entwickeln. In der videobasierten Unterrichtsforschung wird der Begriff des Inszenierungsmusters verwendet, „um Sozialformen, unterschiedliche inhaltsbezogene Lehrer- und Schüleraktivitäten und vor allem deren Funktion im Lernprozess in ihrer Anordnung und Sequenzierung im zeitlichen Verlauf der Unterrichtseinheit zu beschreiben“ (Hugener 2008, 92).

Wie unterschiedlich solche Inszenierungsmuster aussehen können und wie Lehrende damit den Unterricht je unterschiedlich deuten, zeigt exemplarisch ein kurzer Blick in die Praxis des Ensembles Kunterbunt, einer zusätzlichen Ensemblestunde, die ab der dritten Klasse als Ergänzung des instrumentalen Gruppenunterrichts in JeKi angeboten wird und mit Gruppen bis zur Klassenstärke durchgeführt wird.4 Hier findet man ganz unterschiedliche Formate der Umsetzung, die im Folgenden in einem polarisierenden Vergleich zweier Fälle aus unserer Stichprobe zugespitzt werden:

■ Lehrkraft A stellt eine typische Schulorchestersituation her. Die Kinder werden in homogene Stimmgruppen aufgeteilt und es wird entsprechend im Raum eine feste Orchestersitzordnung mit dem Lehrenden als Dirigenten in zentraler Position etabliert. Auf dieser Basis wird eine klassische Probensituation hergestellt. Entsprechend wird in der Ensemblestunde im Modus des kontinuierlichen Wechsels von Stimmgruppenübung und Spiel im Plenum gearbeitet.

■ Lehrkraft B dagegen lässt alle Kinder sich unabhängig von ihrer Instrumentengruppe im Raum aufstellen und sie anschließend gemeinsam eine grafische Notation verklanglichen, die die Kinder zuvor in der Lerngruppe entwickelt haben. Angezeigt wird der Verlauf der Komposition von einer Schülerin, die Lehrerin tritt zur Seite und begleitet den Prozess von der „Seitenlinie“.

Allein schon der vergleichende Blick auf die beschriebenen „Raumordnungen“ (Dinkelaker und Herrle 2009, 52) spiegelt die sehr unterschiedliche Deutung des Formats Ensemble Kunterbunt durch die zwei Lehrkräfte und damit zwei kontrastierende Inszenierungsmuster.

Auch im instrumentalen Gruppenunterricht, dem anderen Unterrichtsformat in JeKi, gibt es Bereiche, in denen Lehrende durch ihr Handeln spezifische Inszenierungsmuster entwickeln. In der Bielefelder Evaluationsstudie zum Gruppen-Instrumentalunterricht (BEGIn), in der wir insgesamt siebzehn Instrumentalgruppen über zwei bzw. drei Jahre in Nordrhein-Westfalen und Hamburg5 videografisch begleitet haben, wurden Kategorien zur Beschreibung von JeKi-spezifischen Inszenierungsmustern entwickelt. Gleichzeitig wurde versucht, die Genese von möglichen Problemstellen zu verstehen. Dazu gehört zentral die Positionierung der Lehrenden im Spannungsfeld von Einzelbetreuung und Gruppenbetreuung. Hierzu konnten vier relevante Inszenierungsmuster voneinander unterschieden werden (Kranefeld et al. 2015; Kranefeld und Dücker 2013):

1. Ausschließlicher Plenumsbezug,

2. Sequenzieller Einzelunterricht,

3. Ritualisierter Wechsel von Plenumsbezug und Einzelbetreuung,

4. Aufrechterhaltung eines Beschäftigungsradius bei gleichzeitiger Einzelbetreuung.

Charakteristisch für das jeweilige Inszenierungsmuster ist – analytisch betrachtet – die je spezifische Kombination der Ausprägung der Kriterien der Involviertheit der Kinder der Lerngruppe und der Zuwendung der Lehrkräfte zu Einzelnen:

■ Beim Sequenziellen Einzelunterricht (Inszenierungsmuster 2) etwa gibt es keine Involviertheit der übrigen Kinder bei intensiver Zuwendung zu einem einzelnen Schüler oder einer einzelnen Schülerin, die nacheinander allen Kinder der Gruppe zuteil wird.

■ Im Kontrast dazu spielt beim Inszenierungsmuster Ausschließlicher Plenumsbezug (Inszenierungsmuster 1) die individuelle Rückmeldung kaum eine Rolle. So werden Korrekturhinweise hier in der Regel nicht individuell gegeben, sondern werden an das gesamte Plenum formuliert. Als Reaktion (auch auf individuelle Schwierigkeiten) lassen die Lehrenden die Passage dann noch einmal gemeinsam spielen, ohne Einzelne besonders anzusprechen. In einigen Fällen betonen Lehrkräfte den Plenumsbezug noch dadurch, dass sie sich selbst in das Plenum – zumindest sprachlich – miteinbeziehen mit Formulierungen wie: „Worauf müssen wir bei dieser schwierigen Stelle achten?“

Die beiden Extrempositionen von Sequenziellem Einzelunterricht und Ausschließlichem Plenumsbezug werden ergänzt durch zwei Inszenierungsmuster, die Einzel- und Gruppenbetreuung stärker verbinden, allerdings in sehr unterschiedlichen Formaten, die man als konsekutiv und integrativ bezeichnen könnte.

Im Muster des Ritualisierten Wechsels von Plenumsbezug und Einzelbetreuung (Inszenierungsmuster 3) entsteht die Verbindung konsekutiv in der kurzfristigen Abfolge von Gruppenbetreuung und Einzelbetreuung. Auf Phasen des gemeinsamen Spiels eines musikalischen Abschnitts folgen jeweils sehr kurze Einzelspielphasen der Schülerinnen und Schüler mit der gleichen Passage, meist in derselben Reihenfolge und gegebenenfalls mit kurzer, individueller Rückmeldung des Lehrenden.

Fachdidaktisch besonders interessant sind die Unterrichtsszenen, in denen der Beschäftigungsradius der Gruppe aufrechterhalten wird und gleichzeitig eine Einzelbetreuung stattfindet (Inszenierungsmuster 4). Den Begriff Beschäftigungsradius nutzt Jacob Kounin als Beobachtungskategorie zur „Charakterisierung des Unterrichtsaufbaus im Hinblick darauf, wie stark sich die Gruppenmitglieder an den Aktivitäten beteiligen müssen“ (Kounin 2006, 120). Entsprechend den oben genannten Kategorien gilt die Zuwendung der Lehrkraft sowohl der Gruppe als auch speziell einem einzelnen Schüler und alle Gruppenmitglieder sind involviert. Während die Lehrerin oder der Lehrer sich individuell einem einzelnen Kind widmet, sollen die anderen Kinder zum Beispiel

■ zuhören und Töne erraten,

■ sich gegenseitig beobachten, um anschließend untereinander Feedback zu geben,

■ stumm auf dem Instrument mitspielen oder

■ das solistische Spiel eines einzelnen Schülers begleiten, der aktuell im Fokus der Zuwendung steht: Eine Cello-Lehrerin wendet sich z. B. jeweils nacheinander einem einzelnen Kind zu, unterstützt es bei der Bogenführung und gibt individuelle Hilfestellungen, leitet gleichzeitig die anderen dabei an, im Pizzicato das Streichen auf der leeren Saite zu begleiten (vgl. Kranefeld et al. 2015). Dies sind Beispiele für Versuche von Lehrenden, die Einzelbetreuung und die Aufmerksamkeit für die Gruppe integrativ zu verbinden.

Bei den beschriebenen Inszenierungsmustern handelt es sich zunächst lediglich um „beobachtbare Oberflächenstrukturen“ (Hugener 2008, 93) von Unterricht, die per se keine Auskunft über die Qualität des Unterrichts geben, sondern zunächst jenseits normativer Bewertung dazu dienen können, Handlungsmuster von Lehrenden systematisch zu beschreiben und zu unterscheiden.

Diese können anschließend unter unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden, etwa auch in Bezug auf Merkmale guten Unterrichts, wie sie die Unterrichtsqualitätsforschung diskutiert, etwa die Frage nach dem Anteil aktiver Lernzeit6 an der Unterrichtszeit: Wird etwa ein Sequenzieller Einzelunterricht konsequent und ausschließlich durchgeführt, so werden die Kinder in der Regel nacheinander „instruiert“, die übrigen Kinder sind in der Zeit unbeschäftigt und es entsteht für sie die Situation, die Kounin als „untätiges Warten“ (Kounin 2006, 124) und Lohrmann als „ungenutzte Lernzeit“ (Lohrmann 2008, 97) beschrieben haben und die dort als Ursache für Störungen bzw. für Langeweile assoziiert wird. Bei einem so ausgerichteten JeKi-Unterricht wird dann die steigende Gruppengröße unweigerlich zum Problem, das Unbeschäftigtsein der Kinder wird durch die Anzahl der Einzelbetreuungsphasen vervielfacht. Gerade der Anteil aktiver Lernzeit wird aber in der empirischen Unterrichtsforschung als „wichtigste Voraussetzung für wirkungsvolles und erfolgreiches Lernen“ (Weinert 1996, 124) angesehen. Anders verhält es sich beim Inszenierungsmuster 4, bei dem durch die Aufrechterhaltung eines Gruppen-Fokus (Kounin 2006) ein hoher Anteil aktiver Lernzeit für alle Kinder in der Stunde entsteht.

Keine der von uns beobachteten Lehrpersonen hat ausschließlich ein einziges Inszenierungsmuster genutzt, dennoch ließ sich bei den meisten Lehrkräften eine Bevorzugung eines dieser Inszenierungsmuster konstatieren, die bei der oben beschriebenen Überbetonung zu charakteristischen Problemstellen führen kann. Dies gilt ebenso für die konsekutive Verknüpfung von Einzelzuwendung und Plenumsphasen, wenn – wie in einem beobachteten Fall – der ritualisierte Wechsel zum bestimmenden Muster einer gesamten Unterrichtsstunde wird und die Abläufe für die Schülerinnen und Schüler somit monoton und vorhersehbar werden und damit wenig Überraschungen oder Abwechslung bieten.

Neben dem Aspekt einer aktiven Lernzeit kann man die unterschiedlichen Inszenierungsmuster auch vor dem Hintergrund eines anderen häufig genannten Merkmals guten Unterrichts diskutieren, etwa unter dem Aspekt des angemessenen Umgangs mit Differenz. Bestimmte Formate des instrumentalen Gruppenunterrichts können ein grundsätzliches Dilemma sichtbar machen: Sobald individuelle Rückmeldungen vor dem Plenum der Gruppe (als Publikum) stattfinden, besteht grundsätzlich die Möglichkeit, Kinder (auch unabsichtlich) zu exponieren, insbesondere wenn sie in der musikalischen Aktivität isoliert werden, indem sie noch einmal gesondert vorspielen müssen.7 So könnte etwa ein Ausschließlicher Plenumsbezug wie im Inszenierungsmuster 1 dazu beitragen, kein Gruppenmitglied besonders hervorzuheben oder den anderen Gruppenmitgliedern gegenüber zu exponieren. Im integrativen Inszenierungsmuster 4 wird die Exposition,8 die durch die Zuwendung zum Einzelnen entstehen könnte, abgemildert, weil die anderen Kinder ebenfalls in die musikalische Aktivität involviert sind. So wird eine „Isolierung in der musikalischen Aktivität“, die Kerstin Heberle und Ulrike Kranefeld (2012 b) als einen möglichen Beitrag zur Exposition von Schülerinnen und Schülern in der Gruppe identifiziert haben, vermieden: Die übrigen Kinder bleiben nicht unbeteiligte Zuschauer, sondern Akteure im gemeinsamen Spiel.

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