Читать книгу Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs - Группа авторов - Страница 11

5. Close Reading 2: Joseph Roths Das Spinnennetz

Оглавление

Den gleichen Zeitraum behandelt auch Joseph Roths erster Roman Das Spinnennetz, der zunächst, der Germanistik lange unbekannt, in der Wiener „Arbeiterzeitung“, dem Zentralorgan der österreichischen Sozialdemokratie erschien, dessen Handlung indes in Berlin angesiedelt ist, auch wenn mit der Familie Ephrussi/Efrussi eine Spur nach Wien gelegt wird. Wie im Sladek spielt hier das Thema männlicher Marginalität im Gefolge von Krieg und Inflation, sowie der Bekämpfung durch Rechtsradikalismus und die schwarze Reichswehr eine maßgebliche Rolle.

Roths Figur des Theodor Lohse ist freilich aus gänzlich anderem Holz geschnitzt als jene des Sladek, der sich in die völkische Welt ebenso verirrt wie in die der Frauen. Seine Ausgangssituation ist erbärmlich und unerfreulich. Sein männlicher Wert als Soldat, ja sogar als Leutnant des wilhelminischen Heeres, ist – wie die Geldwerte in der Inflation – auf ein Nichts zusammengeschrumpft. In der von Frauen, der Mutter und Schwestern, dominierten Nachkriegs-Familie, ist er ein geduldeter, nicht wohlgelittener Gast,1 was der Erzähler sarkastisch kommentiert:

Die Mutter kränkelte, die Schwestern gilbten, sie wurden alt und konnten es Theodor nicht verzeihen, daß er nicht seine Pflicht, als Leutnant und zweimal im Heeresbericht genannter Held zu fallen, erfüllt hatte. Ein toter Sohn wäre immer der Stolz der Familie geblieben. Ein abgerüsteter Leutnant und ein Opfer der Revolution war den Frauen lästig. Es lebte Theodor mit den Seinigen wie ein alter Großvater, den man geehrt hätte, wenn er tot gewesen wäre, den man geringschätzt, weil er am Leben bleibt.2

Dass er nach 1918 nichts mehr wert ist und dass er gleichsam vor der Zeit ein Pensionistendasein in der bürgerlichen Gesellschaft führt – sozialer Tod statt heroischen Untergangs – führt eben jene Entwertung des Mannes herbei, gegen die sich Lohse, der sich als Hauslehrer bei der reichen Familie Efrussi verdingt, aufbäumt. Marginalität und Identitätsverlust treiben ihn in die Arme rechter Kreise, die wissen, wen sie für die „neuen Situationen“ verantwortlich machen können, den Sozialismus, den neuen demokratischen Staat, die Vaterlandslosigkeit, den Pazifismus und die „Liebe für den Feind“, das angebliche Streben der Juden nach Weltherrschaft. Ganz besonders aber die Juden. Diese Weisheiten beziehen die damals neuen Rechten aus den Protokollen der Weisen von Zion, die, wie es im Roman heißt, „alle Mitglieder des Reserveoffiziersverbandes zu den Hülsenfrüchten am Freitag“ bekamen. Diese symbolische Ernährung macht sie bereit für den Aufstand gegen jene Welt, in der sie keinen Platz finden und in der sie sich – Parallele zu Horváths Stück – als deren Opfer sehen.

Lohses Antisemitismus speist sich auch aus dem Neid des Verlierers, der sich von allen Reichtümern und von jedweder Anerkennung ausgeschlossen sieht. Auf Grund seines Statusverlustes hat er in seiner Interpretation auch sein sexuelles Kapital eingebüßt, das es ihm in besseren Zeiten ermöglich hätte, etwa der Liebhaber der schönen Frau Efrussi zu werden. Lohse träumt einem Liebesabenteuer mit einer Berliner Dame nach, die – Ausdruck bürgerlicher Distinguiertheit – ein „lila Unterhöschen“3 trug. Zur Marginalisierung gesellt sich das Kastrationsphantasma, das sich auch nicht durch kurzlebige sexuelle Affären mit sogenannten leichten Mädchen aus der Unterschicht oder Halbweltdamen kompensieren lässt.

Was Sladek in Grübelei und Melancholie treibt, das löst bei Lohse Willen zum Handeln aus: „Bald wird er aus seinem ruhmlosen Winkel treten, ein Sieger, nicht mehr gefangen in der Zeit, nicht mehr unter das Joch seiner Tage gedrückt.“4 Roth entwirft das Soziopsychogramm eines Typus, der den eigenen Stolz wiederaufrichten möchte und der sich dem Traum von Superiorität und Anerkennung hingibt. Lohse ist keineswegs ein Ideologe, das symbolische Mobiliar seines postsoldatischen völkischen Milieus ist für ihn nur ein Mittel zum Zweck, sich Geltung zu verschaffen.

Durch die Vermittlung von Doktor Trebitsch gerät Theodor alsbald in rechtsradikale Kreise. Dieser Name besitzt eine historische Referenz, war doch ein Arthur Trebitsch (der Vorname ist im Roman einem Onkel vorbehalten, der nach dem Ersten Weltkrieg in die USA emigriert ist) nach und neben Otto Weiniger der prominenteste jüdische Antisemit. Ihm, dem reichen Seidenhändler und autodidaktischen Philosophen, der 1925 unter dem Einfluss des Verdikts gegen die „Sklavenmoral“ eine „Arische Wirtschaftsordnung“ vorlegte, hat Theodor Lessing in seinem Buch Der jüdische Selbsthass ein ganzes Kapitel gewidmet.5 Dieses Paradox, Jude und Antisemit zu sein, wird im Roman Roths nicht angesprochen oder gar geklärt. Überhaupt bleibt es rätselhaft, warum sich in Das Spinnennetz so viele Menschen jüdischer Herkunft im Milieu von Spionage, verbotener Reichswehrkontingente oder völkischer Parteien tummeln.

Durch Trebitschs Vermittlung lernt Lohse das ganz rechte Milieu Berlins und danach auch Münchens kennen, er gerät in die Nähe des dubiosen Prinzen Heinrich, der ihn für seine homosexuellen Neigungen instrumentalisiert, er lernt die Hintermänner der verbotenen Aufrüstung, aber auch die Führer der neuen völkischen Gruppierungen kennen. Er verrichtet die niederen Arbeiten, die Erledigung kommunistischer Gruppen, die Niederschlagungen eines Aufstandes von Landarbeitern oder die Beseitigung von Gesinnungsgenossen, die seinem Aufstieg im Wege stehen. Er ist auch aktiv an der Beteiligung eines Putsches beteiligt, der im Roman mit dem Datum des 2. Novembers (statt wie historisch korrekt mit dem des 9. Novembers) versehen wird – zusammen mit der Feier für Ludendorff –, eine ganz normale völkische Karriere. Seine Mordgeschäfte bringen ihm Geld ein, die sein ökonomisches Vorankommen gewährleisten. Aber was ihm fehlt, ist der Bekanntheitsgrad eines Hitlers, denn Lohse arbeitet mit seinen geheimen Missionen, schwarze Reichswehrkontingente aufzustellen, zumeist im Verborgenen. Er agiert dabei so mechanisch und professionell so wie zu den Zeiten, als er als Schüler komplette ‚fremde‘ Sätze auswendig gelernt hatte:

Er wollte Führer sein, Abgeordneter, Minister, Diktator: Noch kannte man ihn nicht außerhalb seiner Kreise. Noch brannte der Name Theodor Lohse nicht in den Zeitungen. […] Es schmerzte ihn der Zwang zur Namenlosigkeit, unter dem er alle Taten verrichten mußte.6

Dann trifft er auf einen zweiten jüdischen Geheim- und Doppelagenten, Benjamin Lenz, einen Nihilisten durch und durch, dessen ideologische Verankerung sehr locker ist:

Seine Idee hieß: Benjamin Lenz. Er haßte Europa, Christentum, Juden, Monarchen, Republiken, Philosophie, Parteien, Ideale, Nationen. Er diente den Gewalten, um ihre Schwäche, ihre Bosheit, ihre Tücke, ihre Verwundbarkeit zu studieren. Er betrog sie mehr, als er ihnen nützte. Er haßte die europäische Dummheit. Seine Klugheit haßte. Er war klüger als Politiker, Journalisten und alles, was Gewalt hatte und Mittel zur Macht. Er probte seine Kraft an ihnen […], er freute sich an dem gläubigen Gesicht des Betrogenen, der aus den falschen Tatsachen Kraft zu neuer Grausamkeit schöpfte […].7

Lenz ist ein früher Vertreter von Falschmeldungen und ein Propagandist sinnloser Grausamkeit, ein geschickter Segler in der Intransparenz eines Netzes von Geheimdiensten, Verschwörergruppen, sinisteren Parteien und Terroristen. Er durchschaut Lohse, der für ihn weder ein Gesinnungstäter noch ein „geborener Mörder“ ist:

Sie sind auch kein Politiker. Sie wurden von ihrem Beruf überfallen. Sie haben ihn sich nicht gewählt. Sie waren unzufrieden mit ihrem Leben, Ihren Einnahmen, ihrer sozialen Stellung. Sie hätten versuchen sollen, im Rahmen Ihrer Persönlichkeit mehr zu erlangen, niemals aber ein Leben, das Ihrer Begabung, Ihrer Konstitution zuwiderläuft.8

Ob das nun ehrlich gemeint ist oder ob es sich um einen Trick handelt, den Ehrgeiz Theodors anzustacheln, bleibt an dieser Stelle offen. Für ihn ist der umtriebige, leicht zu lenkende Weltkriegsleutnant Instrument und Mittel zugleich, um Geld und Einfluss zu maximieren. Er fädelt eine Hochzeit von Theodor mit einer preußischen Aristokratin ein und verschafft ihm einen einflussreichen Job knapp unterhalb der Minister-Ebene. Während Lohse einem unaufhaltsamen sozialen und politischen Aufstieg entgegenstrebt, kommen seine beiden jüdischen Förderer, zunächst Trebitsch, der sich mit seinem Onkel nach Amerika absetzt, und Lenz, der sich spontan entscheidet, mit seinem Bruder Lazar in den Zug nach Paris einzusteigen, der Bewegung abhanden. Sang- und klanglos verschwinden sie aus dem narrativen Raum des Romans. Für beide war es ein Spiel, das sich vor allem für Lenz, der sich rührend um seine ostjüdische Familie kümmert, finanziell ausgezahlt hat und das wie jedes Spiel einmal an ein Ende kommt.

So verschieden die Figuren bei Horváth und Roth sich unterscheiden mögen, hier der erfolgreiche Politiker, dort der einsame Melancholiker in der braunen Masse, beide sind sie getragen von jenem politischen Dispositiv, das man einmal als braune Revolution bezeichnet hat. Von ihr versprechen sie sich einen dynamischen Effekt, der ihre mehrfache Marginalisierung kompensieren soll. Oder anders gesagt: Die erfahrene und erlittene soziale, geschlechtliche und ökonomische Deplacierung und die daraus erwachsene Selbstkränkung und Identitätskrise des Mannes und Soldaten nach 1918 bilden die entscheidende Bedingung der Möglichkeit für den so überraschenden wie rapiden Aufstieg der Voraussetzungen für den rechtsradikalen Aufstand gegen die liberale Demokratie. Hier gibt es, über die unleugbare ökonomische Krisensituation, Inflation und Massenarbeitslosigkeit, einen symbolischen Überschuss. Männer, die auch in den eigenen Augen ein überflüssiges Nichts sind, laden sich durch ein Programm auf, das ihnen verspricht, wieder etwas zu werden. Den hohen Preis sind sie bereit zu zahlen, eben weil sie wahre Männer sein wollen, die sich vor Gewalt und Grausamkeit nicht fürchten, sondern diese als Medizin für ihre prekär gewordene Männlichkeit sehen. Sie bringen die Gewissensbisse im Hinblick auf die gemeinen Taten zum Verstummen:

Er stand auf dem Podium, und der Schall seiner Stimme hob ihn empor. Seine Frau saß in der ersten Reihe. Gesichert waren die Eingänge, die Türen, die Fenster, hier vergaß er jede Gefahr und sogar den Feind, den lauernden, den unbekannten. „Ich muß zu dir aufschaun!“ sagte Elsa, und sie saß in der ersten Reihe und sah zu ihrem Mann empor, dem Erwachsenen und Wachsenden, Chef der Sicherheit – dachte sie –, Präsident des Reiches, Platzhalter für den kommenden Kaiser.9

Ein solcher Befund anno 1923 ist erstaunlich und prophetisch, nimmt er doch den Habitus all jener vorweg, die es im Gefolge der Machtergreifung von 1933 nach Oben spülen sollte. Man muss mit historischen Vergleichen vorsichtig sein, aber einige der psychischen Dynamiken, die Roth und Horváth in ihren literarischen Werken herausarbeiten, sind auch im gegenwärtigen Kontext hundert Jahre danach durchaus wirksam.

Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs

Подняться наверх