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3. Roth und Horváth als Sonderbeobachter

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In das Werk der beiden Autoren, von denen im Folgenden die Rede sein soll, Ödön von Horváth und Joseph Roth, ist die von Park umrissene Marginalität eingeschrieben. Dass dies bei den beiden heimatlosen altösterreichischen Schriftstellern der Fall ist, dazu bedarf es eigentlich nicht des Rückgriffs auf deren Lebensdaten. Aber in diesem Falle sind sie doch erhellend. Beide Autoren entstammen dem österreichischen Kontext der Habsburger Monarchie, beide befinden sich in einem gewissen Sinne in einer marginalen Situation, eben weil sie, der eine mit einem ungarisch-mitteleuropäischen Hintergrund, der andere auf Grund seiner galizisch-jüdischen Ausgangssituation, nicht eindeutig einem bestimmten, womöglich zentralen Code zuzuordnen sind. Überhaupt lassen polykulturelle Gebilde wie die Habsburger Monarchie des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein Nebeneinander und eine Überlappung verschiedener Codes zu, die, ungeachtet eines forcierten Nationalismus, lange Zeit kohabitationsfähig sind.

Beide Autoren finden sich nach dem Ende des Weltkriegs in der Situation des ‚marginal man‘ wieder. Ihre vertraute Welt, Österreich-Ungarn, existiert nur mehr als Erinnerungsraum, während das gleichfalls marginalisierte, politisch höchst instabile Österreich, auf den Status eines pauperisierten kleinen Landes herabgedrückt, ihnen gleichfalls fremd geworden ist. Man kann in bestimmten historischen Situationen ohne eigenes Zutun fremd werden, ohne dass man sich zunächst innerlich verändert hat. Zu Ende von Roths Roman, der den bezeichnenden Titel Die Flucht ohne Ende trägt, heißt es:

[…] da stand mein Freund Tunda, 32 Jahre alt, gesund und frisch, ein junger, starker Mann von allerhand Talenten, auf dem Platz vor der Madeleine, inmitten der Hauptstadt der Welt und wußte nicht, was er machen sollte. Er hatte keinen Beruf, keine Liebe, keine Lust, keine Hoffnung, keinen Ehrgeiz und nicht einmal Egoismus. So überflüssig wie er war niemand in der Welt.1

Diese Befindlichkeit charakterisiert viele Figuren in den literarischen Welten von Horváth und Roth. Die neue Umgebung, das geschlagene und von Krisen geschüttelte Deutschland, ist, ungeachtet der sprachlichen Nähe, wiederum ein fremdes symbolisches Territorium, das sich markant von dem alten, aber auch von dem fragilen neuen Österreich nach 1918 unterscheidet. In gewisser Weise ließe sich also sagen, dass Autoren wir Roth und Horváth eine dreifache Erfahrung von Marginalität in sich tragen: durch ihre ‚hybride‘ Herkunft, durch den Verlust ihrer Heimat und durch ihre Migration nach Deutschland und später nach Frankreich, in ein Land, in dem das Leben der beiden übrigens miteinander befreundeten Autoren endet.

Mit Blick auf das Rahmenthema des Bandes sind sie, auch wenn die Unterscheidung von deutsch und (alt-)österreichisch noch nicht exklusiv ist, sondern vielfach komplementär bleibt, systemtheoretisch gesprochen, literarische Sonderbeobachter eines bekannten und zugleich doch fremden, anderen Land, der Weimarer Republik, die auch durch einen Bruch gekennzeichnet ist: den verlorenen Krieg, Einbuße an Macht und ein neues instabiles, aber kulturell ungeheuer produktives liberales Regime. Roth und Horváth sind auch insofern prädestiniert für diese literarische ‚Aufgabe‘, insofern ihnen ja selbst die Erfahrung von Randständigkeit nicht fremd ist.

Wofür sich Roth und Horváth als sensible Sonderbeobachter der Welt nach 1918 interessieren, das ist eine ganz bestimmte Form von Marginalisierung, eben jene der vielen heimkehrenden männlichen Soldaten, von Menschen, die beinahe alles verloren haben: ihre angesehene soziale Stellung, ihre physische oder auch psychische Gesundheit, ihren Status als Mann, ihr Selbstwertgefühl, ihre sozialen Beziehungen, ihre Werte und Überzeugungen. Ähnlich wie es Alfred Schütz in seinem berühmten Aufsatz über den Fremden nahelegt, ist der Code ihrer alten Heimat, das Dasein als Soldat in einem mächtigen imperialen Gebilde, völlig wertlos geworden.2 Aus diesem brisanten Gemisch entstehen, um einen heutigen Terminus zu verwenden, Parallelwelten, die die Demokratie in Deutschland und parallel dazu in Österreich am Ende zu Fall bringen werden. Übrigens ist Hitler, der in Joseph Roth epischem Erstling Das Spinnennetz namentlich vorkommt, der österreichische Gefreite in fremden Diensten, zunächst durchaus ein ‚marginal man‘ im Sinne von Park. Die Bewegung, die er in Gang setzt, bezieht ihre Energie nicht zuletzt daraus, dass sie den Marginalisierten einen Weg aus ihrer prekären Situation weisen will. Der Kampf gegen das verhasste System von Weimar ist der Zerrspiegel der eigenen prekären bzw. prekär empfundenen Lage.

Marginalisierte Menschen aller Art bevölkern die beiden Œuvres der beiden Autoren altösterreichischer Provenienz. Im Falle Horváths denke ich, um nur die bekanntesten Werke zu erwähnen, an Kasimir und Karoline oder an Der ewige Spießer, in der die Marginalisierung des Mannes mit Arbeitslosigkeit mit Weltfremdheit und männlicher Marginalisierung einhergeht, zu denken ist auch an die gescheiterten, zumeist männlichen Existenzen in Geschichten aus dem Wiener Wald, vor allem aber an die beiden Versionen seines Sladeks, die im kommenden Abschnitt behandelt werden. Bei Joseph Roth, dem Erfinder des Kurzromans, wären Die Flucht ohne Ende, der Heimkehrer-Roman Hotel Savoy oder Die Rebellion, der Geschichte eines äußerlich wie innerlich amputierten Mannes, zu erwähnen – übrigens ist auch die Geschichte der ostjüdischen Familie Singer (Hiob) durch Marginalisierung und Migration bestimmt. Der Text, der indes den Zusammenhang zwischen Marginalisierung und Rechtsradikalismus literarisch demonstriert, ist der Roman Das Spinnennetz – es ist der zweite Text, der einer exemplarischen Analyse unterworfen wird.

Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs

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