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3. Kelsens Reine Rechtslehre
ОглавлениеKelsens wissenschaftliches Hauptanliegen war es, die Rechtswissenschaft als eigenständige Wissenschaft zu etablieren und sie dabei von ideologischen Verstrickungen mit der Politik loszulösen: „Nicht um die historische, politische, ökonomische, soziale, moralische, psychische Qualität von Recht geht es, sondern um Recht als Recht. D.h. die spezifisch juristische, eben eigengesetzliche Dimension des Rechts.“1 Als sein oftmals modifiziertes Hauptwerk gilt die Reine Rechtslehre, deren Grundzüge er bereits in seiner Habilitationsschrift Hauptprobleme der Staatsrechtslehre (1911)2 entworfen und dann 1934 paradigmatisch in der Reinen Rechtslehre präsentiert hat. Wie Zeleny hervorhebt, hat Kelsen selbst seine Reine Rechtslehre stets als work in progress verstanden, als ein auf „Fortentwicklung gerichtetes Unternehmen unter Beteiligung einer Mehrzahl gleichgesinnter Gelehrter“.3 Diese Weiterentwicklung wurde zum einen von seinen Schülerinnen und Schülern und zum anderem von ihm selbst vorangetrieben. Kelsen ist den Grundpfeilern seiner Lehre zwar grundsätzlich treu geblieben, hat sie aber immer wieder umfassend überarbeitet und als modifizierten Gesamtüberblick publiziert: in der Allgemeinen Staatslehre (1925),4 der bereits erwähnten ersten Ausgabe der Reinen Rechtslehre (1934),5 der General Theory of Law and State (verfasst auf Englisch, 1945),6 der zweiten, deutlich umfassenderen Ausgabe der Reinen Rechtlehre (1960)7 und der posthum veröffentlichten Allgemeinen Theorie der Normen (1979)8.
Kelsens revolutionäre Ansätze haben in den Jahren nach seiner Habilitation zur Herausbildung der bereits angesprochenen so genannten Wiener rechtstheoretischen Schule geführt, eines losen Kreises gleichgesinnter Gelehrter.9 Mit Kelsens Weggang aus Wien nach Köln und spätestens mit seiner Emigration in die USA vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Machtergreifung zerfällt der Wiener Kreis jedoch zunehmend.10 Kelsens Bemühungen um eine Verwissenschaftlichung und Entideologisierung der Rechtswissenschaft haben jedoch bei weitem nicht nur Zustimmung, sondern auch breite Ablehnung erfahren. So wurde Kelsens Doktrin oft als Provokation bzw. als Angriff auf die etablierte Jurisprudenz wahrgenommen.11 Kelsens Bestreben, eine reine und damit erst wissenschaftliche Rechtslehre zu entwickeln, wurde von vielen als Herabsetzung der bisherigen Jurisprudenz als unwissenschaftlich und unrein wahrgenommen.12 Mehrfach kritisiert Kelsen, dass die traditionelle Rechtstheorie vor allem seit dem Ersten Weltkrieg wieder stark von der konservativen Naturrechtslehre beeinflusst ist.13
Wie bereits angedeutet, ist es kaum möglich, von der Reinen Rechtslehre als geschlossenem theoretischen Ansatz zu sprechen.14 Grundsätzlich bezieht sich die Reine Rechtslehre, wie Jestaedt im Vorwort zur Studienausgabe der ersten Auflage der Reinen Rechtslehre hervorhebt, auf drei Punkte: Erstens, den in zwei unterschiedlichen Auflagen (1934, 1960) erschienenen Text Kelsens, dessen Version von 1934 als paradigmatisches rechtstheoretisches Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen ist. Zweitens, als ideologiekritische, rechtspositivistische Theorie, die eng mit dem Namen Kelsen verknüpft ist. Drittens, als Gruppierung von RechtswissenschaftlerInnen, die, wie oben ausgeführt, die Wiener Schule der Rechtstheorie geformt haben und eng mit der Wiener Moderne verbunden sind.15 Der vorliegende Beitrag fokussiert vor allem auf die Reine Rechtslehre16 Kelsens, wie sie in theoretisch verdichteter Form erstmals 1934 veröffentlicht worden ist und bezieht sich auch auf die zweite Auflage von 1960.17
Wenn im Art. 18 der österreichischen Bundesverfassung paradigmatisch festgelegt wird, dass die gesamte staatliche Vollziehung, also Verwaltung und Gerichtsbarkeit, nur aufgrund der Gesetze zur erfolgen hat, so wird die Frage nach der Geltung des Rechts angesprochen. Weshalb Recht gilt, wird von VertreterInnen verschiedener rechtstheoretischer Schulen abweichend beantwortet: Kelsen ist einer der wichtigsten Vertreter des Rechtspositivismus, seine Reine Rechtslehre eine spezifische Ausformung desselben.18 Wenngleich Kelsens Schaffen über den Lauf der Jahrzehnte viele Veränderungen erfahren hat, bleiben, wie Meiners hervorhebt, zwei Grundannahmen in Kelsens Schaffen konstant: Die Positivität und die Normativität des Rechts als Grundlagen seines Rechtsverständnisses.19 Positives Recht bezeichnet das vom Menschen gesetzte Recht, welches, im Gegensatz zu anderen Normen wie religiösen Vorstellungen, Teil einer normativen Sollensordnung ist.20 Rechtspositivistische Ansätze vertreten die Ansicht, dass nur die von Menschen gesetzten Normen als Recht gelten und sich ausschließlich von den in der Rechtsordnung bestimmten Rechtserzeugungsregeln ableiten lassen. Transzendentale Vorstellungen von Gerechtigkeit, Vernunft oder Moral spielen keine oder nur eine geringe Rolle. Der Naturrechtslehre hingegen liegt die Vorstellung zugrunde, dass sich das vom Menschen gesetzte Recht aus einer universal gültigen, höheren Ordnung ableiten lässt. Die Geltung des Rechts wird somit beispielsweise in einer gottesgegebenen Ordnung, wie dem Gottesgnadentum, begründet.
Kelsen wendet sich dezidiert gegen naturrechtliche Vorstellungen, wenn er betont, dass das positive Recht von ideologischen Tendenzen mit machtpolitischen Absichten abhängig gemacht wird, wenn es als „Ausfluß einer natürlichen, göttlichen oder vernünftigen, das heißt aber absolut richtigen, gerechten Ordnung“21 betrachtet wird. Die reine Rechtslehre, als Rechtswissenschaft im eigentlichen Sinne, verfolgt das Ziel, „das Recht dar(zu)stellen, so wie es ist, ohne es als gerecht zu legitimieren oder als ungerecht zu disqualifizieren“.22 In diesem Sinne sei seine Rechtslehre anti-ideologisch, weil sie „die Darstellung des positiven Rechts von jeder Art naturrechtlicher Gerechtigkeitsideologie zu isolieren sucht“.23 In dieser Befreiung der Rechtswissenschaft „von allen ihr fremden Elementen“ und dem Fokus auf „eine nur auf das Recht gerichtete Erkenntnis“24 liegt die Reinheit der Rechtslehre. Kelsen löst den Begriff der Rechtsnorm von jenem der Moralnorm ab25 und betont die Eigengesetzlichkeit des Rechts: Gerechtigkeit, auf die sich Vorstellungen von Moral beziehen, wird von Kelsen verstanden als gesellschaftliches Glück und kann nicht Untersuchungsgegenstand der reinen, auf die Untersuchung des Rechts gerichtete Rechtslehre sein.26
Die Reine Rechtslehre als spezifische Rechtswissenschaft muss als Normwissenschaft verstanden und von den Kausalwissenschaften abgegrenzt werden, die „auf die kausal-gesetzliche Erklärung natürlicher Vorgänge abzielen.27 Der Begriff der Norm bezieht sich stets auf ein Sollen: darauf, dass etwas sein oder geschehen soll, bzw. dass sich Menschen auf bestimmte Weise verhalten sollen.28 Daraus ergibt sich auch die Unterscheidung zwischen Natur- und Rechtsgesetzen: Während erstere verdeutlichen „Wenn A ist, so muß B sein“, so zeigen letztere „Wenn A ist, so soll B sein, ohne daß damit irgend etwas über den moralischen oder politischen Wert dieses Zusammenhangs ausgesagt ist.“29
Dieser Dualismus von Sein und Sollen steht im Zentrum von Kelsens Geltungskonzeption. Kelsen setzt diese dichotome Unterscheidung voraus und erklärt sie nicht näher, da sie dem Bewusstsein unmittelbar gegeben sei.30 Wenn transzendentale Vorstellungen von einer gerechten, vernünftigen, oder gottgegebenen Ordnung als Geltungsbegründungen abgelehnt werden, stellt sich die Frage, was die Einheit von Normen und letztendlich die Geltung einer gesamten Rechtsordnung begründet. Für Kelsen kann die Geltung einer Norm nur von einem Sollen und nicht von einem Sein abgeleitet werden: „[…] daraus, daß etwas ist, kann nicht folgen, daß etwas sein soll; sowie daraus, daß etwas sein soll, nicht folgen kann, daß etwas ist. Der Geltungsgrad einer Norm, kann nur die Geltung einer anderen Norm sein.“31
Aus diesem Grundsatz ergibt sich, und das ist bis heute ein Grundbaustein der juristischen Ausbildung in Österreich, der so genannte Stufenbau der Rechtsordnung, der besagt, dass die Erzeugung und Geltung jeder Norm auf eine andere, übergeordnete Norm zurückgehen. Die Vielheit von Normen kann dann als zusammenhängende Einheit verstanden werden, wenn sie letztendlich auf eine gemeinsame Quelle rückführbar ist.32 Dieser Regress von der Norm zur übergeordneten Norm führt bei Kelsen zur Annahme einer Grundnorm, aus der sich die Verfassung und damit alle anderen Normen ableiten lassen. Die Grundnorm ist wohl eine der umstrittensten, teils enthusiastisch befürworteten, teils strikt abgelehnten Thesen Kelsens und wurde in der Sekundärliteratur als „the most notorious of the puzzles in Kelsen’s legal philosophy“33 beschrieben. Von Kelsens vielen Doktrinen ist es die Grundnorm „that has attracted most attention and captured the imagination“.34
Kelsen selbst beschreibt die Grundnorm in seiner Rechtslehre von 1934 als „hypothetische Grundlage“, „Bedingung aller Rechtsetzung, alles positiven Rechtsverfahrens“,35 „hypothetische Grundregel“ und „oberster Geltungsgrund“.36 Im Gegensatz zu den positiven Rechtsnormen wird sie nicht vom Menschen gesetzt, sondern vorausgesetzt.37 Damit erhält die Grundnorm die erkenntnistheoretische Funktion der Geltungsstiftung. Kelsen selbst erläutert den Inhalt der Grundnorm anhand des Beispiels, dass ein bisher monarchischer Staat durch eine Revolution gewaltsam gestürzt und schließlich durch die republikanische Staatsform ersetzt wird. Wenn nun das Verhalten der Menschen nicht mehr der alten, sondern der neuen Ordnung entspricht, der Umsturz also gelungen ist, wird eine neue Grundnorm vorausgesetzt, nämlich „nicht mehr jene, die den Monarchen, sondern eine, die die revolutionäre Regierung als rechtsetzende Autorität delegiert“.38
Es besteht demnach ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis zwischen der das Verhalten der Menschen regelnden Rechtsordnung und dem tatsächlichen Verhalten der Menschen. Kelsen spricht in diesem Zusammenhang bildlich von der „Spannung zwischen dem Sollen und dem Sein“.39 Hier wird implizit die Frage nach der Wirksamkeit von Normen aufgeworfen, bzw. nach dem Verhältnis von Geltung und Wirksamkeit.40 Jabloner betont in diesem Zusammenhang, „dass der Rekurs auf die Wirksamkeit nicht als Geltungsgrund, sondern als Geltungsbedingung anzusehen ist, als Voraussetzung dafür, die Grundnorm eben nur bestimmten Sollensordnungen voranzustellen“, nämlich jenen, die von den Menschen befolgt werden41. Zentral ist, dass aus der Grundnorm nur die Geltung und nicht der Inhalt einer Rechtsnorm abgeleitet werden kann.