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Publizistische Diskurse Sternstunde des transethnischen Nationalismus

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Das Periodikum „Književni Jug“ (1918/19) und die Programmatik einer jugoslawischen Literatur

Svjetlan Lacko Vidulić (Zagreb)

Die notorisch instabile Taxonomie jugoslawischer Literatur(en) kann als Paradebeispiel für die mögliche Komplexität von Nationsbildungsprozessen mittels Literatur gelten. Die historischen Umbrüche und Zäsuren von 1918, 1945, 1963, 1991 öffneten jeweils neue Perspektiven im Zusammenspiel oder Konflikt monoethnisch-exklusivistischer, transethnisch-integralistischer und föderalistischer Konzepte nationalliterarischer Grenzziehung. Die dabei wirksamen Faktoren reichen von den politisch-ideologischen Rahmenbedingungen und kulturpolitischen Weichen bis zu dem „tiefgreifende[n] Bewusstseinswandel der Zeitgenossen“ aufgrund der „Erfahrungseinbrüche“ der beiden Weltkriege, mit denen, so der Historiker Reinhard Koselleck, „gleichsam Schwellen überschritten [werden], nach denen vieles, vielleicht alles, ganz anders aussieht“.1

Vor dem Hintergrund des jüngsten, wiederum von einem Krieg begleiteten Umbruchs um 1990 verwundert es nicht, dass auch die neueren Perspektiven auf die südslawischen Literaturen im Zeichen von Diskursverschiebungen standen, die nicht mit neuen literaturgeschichtlichen Erkenntnissen, sondern mit dem Ende des jugoslawischen Staates und der Erfahrung des Scheiterns eines real existierenden Kultur- und Literaturbetriebs verbunden waren. Paradoxerweise waren diese Verschiebungen im jugoslawischen Raum nach 1991, etwa in der Literaturgeschichtsschreibung der Nachfolgestaaten, weniger spektakulär als in der journalistischen, z. T. auch slawistischen Auslandsperspektive. Dies war mit der unterschiedlichen Gewichtung innerjugoslawischer Entwicklungen nach 1945 verbunden und resultierte u.a. in der Annahme einer ‚Zerschlagung‘ der jugoslawischen Literatur und der ‚Erfindung‘ neuer Sprachen und Literaturen, wobei die föderalistische Dimension der jugoslawischen Kulturpolitik und die Logik eines komplexen Literaturbetriebs gerne übersehen bzw. marginalisiert wurden.2 Es ging um die Tendenz, beim Rückblick über die historische Schwelle den roten Faden der Entwicklung in der – letztlich gescheiterten – Integration zu sehen, während die tiefgreifenden Brüche und Diskontinuitäten, etwa in Gestalt inkommensurabler Integrationskonzepte, zugunsten der Kohärenz des Geschichtsnarrativs geglättet wurden.3

Genau genommen hat es das Konzept einer jugoslawischen Nationalliteratur im Sinne einer die Nation fundierenden, im gemeinsamen Staat gepflegten und in der Nationalsprache verfassten Literatur nur in der Zwischenkriegszeit, und in reinster Form nur in der kurzen Spanne zwischen 1918 und der politischen Etablierung der Nachkriegsordnung um 1921 gegeben – in einer Sternstunde des jugoslawischen Nationalismus. Im Möglichkeitsraum der historischen Wende konnte die Konstituierung einer gemeinsamen Nationalliteratur und die Etablierung eines gemeinsamen Literaturbetriebs in programmatischer Reinform verhandelt werden, scheinbar noch unbelastet von den politischen Dilemmata, die den südslawischen Vereinigungsprozess fortan begleiten sollten.

Als „radikalstes Experiment“4 in dieser Richtung kann das Periodikum „Književni Jug“5 („Der literarische Süden“) gelten, ein „experimentelles Kuriosum der kroatischen Zeitschriftenlandschaft“,6 das von Januar 1918 bis Dezember 1919 in Zagreb erschien und somit die Wendezeit rahmte und begleitete. Die programmatischen Texte in dieser Zeitschrift demonstrieren in hoch konzentrierter Form den ‚postimperialen‘ Bewusstseinswandel, die damit verbundene diskursive Logik einer jugoslawischen Nationsbildung und der entsprechenden Funktionalisierung von Sprache und Literatur. Im Folgenden soll, nach einer Einführung in maßgebliche Kontexte, das nationalliterarische Projekt der Zeitschrift unter den Stichworten Separation, Integration und Rückprojektion skizziert werden.

Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs

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