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2. Separation: im Umfeld der postimperialen ‚Stunde Null‘

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Folgt man der Typologie von Hans-Ulrich Wehler,1 so ist der südslawische Integrationsprozess insgesamt, und ganz unmittelbar in seiner dramatischen Kulmination von 1918, eine Kombination des ‚sezessionistischen‘ und des ‚unifizierenden‘ Typus des Nationalismus gewesen: Mit dem Zerfall der multiethnischen Reiche ergab sich die historische Chance einer nationalstaatlichen Vereinigung südslawischer Ethnien über die Grenzen der alten Staatenordnung hinweg. Der notorische Zusammenhang von Sezession und Unifikation im Jahr 1918 musste im Rahmen des ‚integrativen Modells‘ der Vereinigung, ausgerichtet auf die „vollkommene wechselseitige Integration auf der Basis des Jugoslawismus“,2 eine Zuspitzung erfahren, da die ‚vollkommene Integration‘ eine restlose Lösung aus alternativen Zusammenhängen vorauszusetzen schien.

Exemplarischen Ausdruck findet das Phantasma von einer postimperialen ‚Stunde Null‘ in einer Umfrage zur Freiheit, gestartet von der Redaktion der Zeitschrift „Književni Jug“ Ende 1918 mit der Frage nach den persönlichen „Gefühle[n] und Gedanken zur Volksbefreiung“.3 Die erste abgedruckte Antwort stammt von Ivo Vojnović, einem der bedeutendsten Autoren der ästhetizistischen Moderne und überzeugtem jugoslawischen Patrioten,4 gestaltet in Form eines lyrisch getönten Kurzessays unter dem ironischen Titel Dasselbe, nur ein wenig anders.5 Das erzählende Ich schaut durchs Fenster und betrachtet die gewandelte Landschaft der historischen Gegenwart. Auf die Ansicht der neuerwachten Natur folgt das ebenso naturmetaphorisch konturierte Bild historischer Müllentsorgung: „Dann aber ruhte ich mich aus von der schweren Bürde des Glücks und richtete mein geistiges Auge auf den angeschwollenen, schlammigen Fluss der Niederlage […].“6 Der Anblick entsorgter imperialer Altlasten, dominiert von den flüchtenden Habsburgern und ihren von Handlangern der imperialen Macht zu Möchtegern-Republikanern gewandelten Untertanen, führt zu der folgenden erinnerungspolitischen Bilanz:

Vor dieser ekelhaften aber gesundheitsfördernden Ansicht äußerster Schande und des Endstadiums jener Krankheit, die in der Pathographie des endgültigen Untergangs des Metternichschen Reiches für alle Zeiten den Namen: lues Austriaca erhalten wird, – erschauderte ich ob der Jahrhunderte unserer Blindheit, unserer Charakterlosigkeit, die uns die Herrschaft solcher Herren, die Züchtigung durch solche Knechte ertragen ließ, – und weit öffnete ich nun das Fenster in dem entfesselten Drange, in diesen Strom aus Fäulnis und Dreck zu spucken – doch es hatte auf der Flur zu schneien begonnen… […]

Im Vergessen die Rettung! – erscholl der Ruf des schwarzen Schattens der Vergangenheit durch die wirbelnden Flocken aus vereisten Tränen und ausgezehrten Leiden, welche fielen und fielen und alle Missgestalten, alle Leiden, allen Schmutz des Lebens und der Welt überdeckten.

Nur dies rief ich dem Schatten zu: – So ist es! Und ich schloss das Fenster.7

Das Bild der historischen Müllentsorgung und der Behandlung einer „lues Austriaca“, unterstützt vom Vergessen als therapeutischer Maßnahme zur Tilgung der historischen Schande der Fremdherrschaft: Dieses Bild impliziert eine posthabsburgische Genesung, ja Neugeburt im Rahmen einer selbstbestimmten Ordnung. Die politischen Konturen dieser Ordnung bleiben allerdings eigentümlich unterbelichtet – nicht nur in Vojnovićs Abrechnung mit der Vergangenheit, sondern im gesamten Erscheinungszeitraum der Zeitschrift.

Die charakteristische Leerstelle korrespondiert mit dem Wandel der politischen Umstände – vom letzten Kriegsjahr, in dem noch Zensurbestimmungen in Kraft waren, bis zur Gründung des südslawischen Staates, die von Konflikten um seine politische Verfassung begleitet war. Im Eingangstext der ersten Nummer vom 1. Januar 1918 benennt der Herausgeber die Aufgaben der Zeit (so der Titel) als „Aufgaben des Jugoslawentums“,8 geht aber der politischen Dimension dieser Aufgaben aus dem Weg. Der Text beginnt mit einer ausführlichen Darlegung der universellen Dimension ‚zeitgemäßen Wirkens‘ (die im vorliegenden Fall in der Förderung von „Gerechtigkeit“, „Freiheit und Fortschritt“ bestehe), bevor mit dem Hinweis, dass kulturelle Aufgaben „zu Einheit und Freiheit“ führen,9 ein bekanntes Entwicklungsmuster gehemmter Nationsbildung evoziert wird – hier im Mikrokontext der noch nicht überschrittenen Schwelle zur Auflösung der Monarchie.

Große Zurückhaltung war allerdings nicht mehr nötig, da nach vier Jahren Krieg – so der Herausgeber im April 1918 – das immer dringlichere „Problem der kulturellen Einheit“ nun „erfolgreicher, sicherer, offener und auf andere Weise als vor vier Jahren“ gelöst werden könne.10 Nicht nur das programmatische Ziel der südslawische Einigung im kulturellen Bereich, sondern auch die gemeinsame „Heimat“ oder eine „dreieinige Volksgemeinschaft“ konnten bereits angesprochen werden.11 Allerdings wurde jede direkte Stellungnahme zu der nach wie vor kontroversen politischen Dimension der Einigung strikt vermieden, und zwar nicht nur im letzten Jahr der Habsburgischen, sondern auch im ersten Jahr der südslawischen Monarchie. Die politische Abstinenz scheint Voraussetzung für die programmatische Kühnheit des kulturpolitischen Vereinigungsprogramms gewesen zu sein.

So wird auch die Staatsgründung im Dezember 1918 von der Redaktion zwar enthusiastisch begrüßt, aber nicht etwa mit der „Freude entfesselter Horden“,12 sondern im Bewusstsein einer langfristigen kulturellen Mission, die der politischen Entwicklung stets vorausgegangen sei und auch jetzt zur generellen Skepsis gegenüber den Volksvertretern zu berechtigen scheint, da diese „dem richtigen Verständnis der wahren Einheit und Freiheit des Volkes am entferntesten stehen“.13 Die Haltung kulturmissionarischer Distinktion ist wohl zum einen als Reaktion auf die (in der gesamten Zeitschrift übrigens nur marginal thematisierten)14 Nachkriegswirren zu deuten, zum anderen als Vermeidungshaltung im Kontext der zunehmend kontroversen Fragen der politischen Konstitution im neuen Staat. Auch die Fortsetzung der Mission nach der Gründung des südslawischen Staates erscheint daher als ein geistiges Unternehmen, dessen Erfolg vor allem auf die Konsolidierung der Nation auf der Basis der „hohen ethischen Werte unseres Stammes“15 – und nicht etwa auf die Gestaltung bestimmter politischer Rahmenbedingungen angewiesen scheint.16

Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs

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