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1. Einleitung

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Mit dem Ersten Weltkrieg vollzog sich die intellektuelle Grundlegung der Reinen Rechtslehre, und dies „in dramatischer Verdichtung und Verquickung von Biographie, Wissenschaft und Politik“.1 Als Architekt der österreichischen Bundesverfassung wird der Jurist Hans Kelsen (1881–1973) auf den Parlamentsseiten der Republik Österreich zu den wichtigsten Persönlichkeiten gezählt, welche nach dem Zusammenbruch der imperialen Ordnung an dem Aushandlungsverfahren zwischen Politik und Recht beteiligt waren. Kelsens Prominenz wurde insbesondere im öffentlichen Diskurs rund um das 100-jährige Jubiläum der österreichischen Bundesverfassung im Jahr 2020 sichtbar. 2018 präsentierte das Wiener Volkstheater die Uraufführung „Verteidigung der Demokratie“; eine historische Rückschau auf das verfassungsrechtliche Wirken Kelsens mit kritischen Verweisen auf anti-demokratische Tendenzen im zeitgenössischen Europa. Die Ausstellung „Hans Kelsen und die Eleganz der österreichischen Bundesverfassung“ im Jüdischen Museum Wien (2020–2021) würdigte nicht nur Kelsens Biographie, sondern ermöglichte auch eine detaillierte Beschäftigung mit dem Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) selbst. Thomas Olechowskis Biographie eines Rechtswissenschaftlers (2020)2 und Pia Plankensteiners graphic novel Gezeichnet, Hans Kelsen (2020)3 setzten neue Standards für die respektive wissenschaftliche und popkulturelle Beschäftigung mit Kelsen.

Kelsen hatte die habsburgische Tragödie, das heißt die Zuspitzung und den Untergang der österreichisch-ungarischen Großmacht(politik), nicht nur mit eigenen Augen gesehen, sondern deren Werden im Machtzentrum regelrecht studiert und nach denkbaren Alternativen gesucht. Die bis zum Ausbruch der so genannten Urkatastrophe unvorstellbaren Ereignisse der Realgeschichte öffneten ihm gezwungenermaßen die Augen für die Kontingenz politischer Ordnungen, welche wiederum den Versuch ermutigten, eine verbindliche Grundnorm als Fiktion zu setzen, um auf dieser die vorrangige Geltung der Rechtsordnung zu begründen. Jürgen Busch spricht bezüglich der Wirkung des Ersten Weltkriegs für Kelsen dann auch treffend von der „Achsenzeit einer Weltkarriere“ und resümiert, dass die Kriegsjahre 1914 bis 1918 für dessen Entwicklung von ganz entscheidender Bedeutung waren.4

Die Frage nach der Bedeutung des Ersten Weltkriegs und des Zusammenbruchs der Österreichisch-Ungarischen Monarchie für die Entwicklung Kelsens Reinen Rechtslehre steht im Fokus dieses Beitrags. Die Fragestellung selbst wird einerseits als Beitrag zur Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts und andererseits als eine mögliche Form der Kritik an der oftmals als unangreifbar und kristallklar betrachteten Reinen Rechtslehre verstanden. Bezugnehmend auf Christoph Menke begreifen wir Kritik dabei als das Verstehen eines Textes in seinem Werden. Wie Menke betont, muss die Kritik den Geburtsakt oder die innere Genesis ihres Gegenstandes nachvollziehen.5 Die Reine Rechtslehre und ihr politisches Potenzial, so gilt es zu zeigen, wurden vor der Folie des Ersten Weltkriegs geboren. Ihre Genese bleibt, auch wenn der Abstraktionsgrad der Theorie dies vergessen lässt, an die zuvor unvorstellbaren Ereignisse der Realgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts, den Zusammenbruch eines politischen Systems und die damit verbundene Einsicht in die Kontingenz von Ordnung gebunden. Ein solcher, formgenealogisch ausgerichteter Zugang bezieht die Entstehungshintergründe und den Kontext der von Kelsen gezielt als reine Form entworfenen Rechtstheorie notwendig mit ein.

Um die formgenealogische Kritik an der Rechtstheorie Kelsen zu entfalten, wird im Folgenden zunächst Kelsens Biographie enggeführt auf die beispiellose „wissenschaftliche Weltkarriere“, die der Rechtstheoretiker im 20. Jahrhundert durchlief.6 Der zweite Schritt konzentriert sich auf Kelsens Hauptwerk, die Reine Rechtslehre, als eine der wichtigsten rechtstheoretischen Schriften der Moderne. Ein besonderes Augenmerk wird in diesem Zusammenhang auf die Grundnorm als Höhepunkt Kelsens konsequent gedachten Rechtspositivismus gelegt. Der dritte und abschließende Schritt kontextualisiert den ideengeschichtlich radikalen Akt der Setzung der Grundnorm, indem er ein Schlaglicht auf Kelsens Aktivitäten während des Ersten Weltkriegs wirft und sein Rechtsdenken als Antwort oder auch mögliche Lösung einer politisch konkreten Problemlage, nämlich der österreichisch-ungarischen Armeefrage, aufweist.

Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs

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