Читать книгу Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs - Группа авторов - Страница 8

2. Marginalität und Heimatlosigkeit

Оглавление

Der gegenwärtige Diskurs über Fremdheit ist, nicht zuletzt vor dem Hintergrund massenhafter Migration, von ethnisch-kulturellen Parametern bestimmt. Wie ein kurzer Blick auf soziologische und anthropologische Perspektivierungen zeigt, lässt sich das Fremde weiter und das heißt auch in einer soziologischen Beschreibung als randständig, deplaciert und marginalisiert innerhalb einer Gesellschaft, einer Kultur, eines Systems und eines partikularen Feldes beschreiben. Beinahe alle kulturell bestimmten Fremdheiten (Religion, Sprache, Gewohnheiten und informelle Regeln) gehen Hand in Hand mit jener Marginalität, wie sie der Chicagoer Soziologe Robert E. Park beschrieben hat. Aber nicht jedwede Form von Deplaciertheit und Außenseitertum ist an diese Parameter geknüpft. In einer bestimmten Situation und in einem anderen Kontext kann jeder sich in einer randseitigen Lage befinden, eine Frau in einer Männerrunde, ein Autor in einem Gespräch mit Bankern usw. Fremdheit ist bekanntlich keine Eigenschaft, sondern ein relationales Phänomen. Im Extremfall bedeutet Marginalität das absolute Fehlen von Bindungen und Beziehungen in einem gegebenen kulturellen Kontext, zum Beispiel die Nicht-Zugehörigkeit zu beiden Kulturen, der alten und der neuen.

Randständigkeit kann sich auch durch politische Zäsuren, wie sie das Ende des Ersten Weltkriegs darstellt, einstellen. Die Marginalität des migrantischen Menschen ergibt sich aus der Tatsache, dass er sein Land und damit seine vertraute soziale Situation mitsamt den vertrauten Codes hinter sich lässt. Die Marginalisierung von Menschen im Zentrum Europas nach 1918 ergibt sich nicht aus einer äußeren Migration, sondern durch das plötzliche Verschwinden vertrauter sozialer und kultureller Welten, und dies in einem doppelten Sinn, durch die militärische Ordnung der Dinge, die im Krieg bestimmend wird und die zivile Welt in den Hintergrund drängt, aber auch durch das Ergebnis dieses Krieges, als dessen Folge nicht nur ganze Staaten, sondern auch die symbolische Vorkriegswelt verschwindet. Ohne sich vom Fleck zu bewegen, ist man, Mann, in eine Situation geraten, die der Marginalität des Migranten (oder der Migrantin) sehr ähnlich ist. Der gemeinsame Nenner zwischen Migranten und Heimkehrer (oder eigentlich Nicht-Heimkehrer) lautet dabei: mangelnde Integration.

Parks ‚marginal man‘ findet sich in der Position des Randständigen wieder, der auf Grund seiner schwachen sozialen Integration durch eine so produktive wie prekäre Grenzlage charakterisiert ist. Im Gegensatz zu „innerer Distanz“ ist schwache soziale und kulturelle Einbindung aber eher ein defizitärer Befund, eine Herausforderung für Sozial- und Gesellschaftspolitik.1 Park hat den marginalen Fremden in seiner Schrift aus dem Jahre 1928 als einen kulturell gemischten Menschen, in der heutigen Terminologie, als einen ‚Hybriden‘, beschrieben:

[…] ein Mensch, der im kulturellen Leben und in den Traditionen zweier Kulturen lebt und sie auf intime Weise teilt; der, auch wenn es ihm niemand untersagen könnte, nie bereit wäre, mit seiner Vergangenheit und mit seinen Traditionen zu brechen, und der, aus einem rassischen Vorurteil heraus, in der Gesellschaft, in der er jetzt seinen Platz sucht, nie vollständig akzeptiert wurde. Er ist ein Mensch auf der Grenze zweier Kulturen und zweier Gesellschaften, die sich nie vollständig fusionieren und miteinander funktionieren.2

Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs

Подняться наверх