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4. Die Rechtslehre als Lösung politischer Problemlagen am Beispiel der ‚Armeefrage‘

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Die Geltungsbegründung des Rechts durch eine hypothetische Grundnorm wurde hier als ein paradigmatisches Beispiel für die umfassende Lehre Kelsens gewählt, um deren absolute Loslösung von naturrechtlichen Ansätzen und radikale Ideologiekritik zu veranschaulichen. Dass Kelsens Ansatz viel Kritik und Widerstand1 provoziert hat, ist naheliegend. Jestaedt schreibt diesbezüglich: „Die Reine Rechtslehre ist mit ihrer alles zermalmenden juridischen Ideologiekritik für ihre Gegner eine veritable Zumutung, löst sie bei der Mehrzahl von ihnen doch traumatische Verlustängste aus.“2 Von den vielen Kritikpunkten, die Kelsens These provoziert haben, seien zwei wesentliche kurz erwähnt: Einerseits blende die Reine Rechtslehre gesellschaftliche Wirklichkeiten aus und sei somit praxisfern. Andererseits sei die Lehre politisch und ethisch problematisch, weil sie aufgrund der Betonung der ausschließlich formalen Aspekte von Recht inhaltliche Vorstellungen (von Gerechtigkeit) außer Acht ließe und somit potenziell jegliche Zwangsordnung, wie auch den Nationalsozialismus legitimiere.3 Kritik an der Rechtslehre gab und gibt es aus allen politischen Lagern – Kelsen selbst meint dazu: „Es gibt überhaupt keine politische Richtung, deren man die Reine Rechtslehre noch nicht verdächtigt hätte. Aber das gerade beweist besser, als sie selbst es könnte: ihre Reinheit.“4

Was beide – die Kritik an der Theorie und Kelsens Verteidigung ihrer Reinheit – verkennen, ist, dass die Reine Rechtslehre selbst das Produkt konkreter gesellschaftlicher Wirklichkeiten ist und in der Zeit ihrer Genese durchaus praxisnah war. Begreift man, wie hier unternommen, Kritik als das Verstehen einer Theorie in ihrem Werden, so müssen Geburtstakt und Genesis der Reinen Rechtlehre noch genauer betrachten werden, sind doch Kelsens Aktivitäten im Ersten Weltkrieg von seinen rechtstheoretischen Überlegungen nicht zu trennen, ja erweisen sich geradezu als Abfolge von Versuchen, konkrete Probleme zu lösen. Busch spricht in diesem Zusammenhang von einem Schema, wie es sich ergebe, wenn Kelsens Lösungsvorschläge zu konkreten Verfassungsfragen aus seiner Zeit im Präsidium des Kriegsministeriums während des Krieges mit seinen Verfassungsarbeiten in der Staatskanzlei der neuentstandenen Republik verglichen werden: Immer handele es sich um verfassungsrechtliche Angebote, die auf dem Boden der realen politischen Gegebenheiten stehen, und es sind diese realen politischen Gegebenheiten, denen rechtlich beizukommen Kelsen von Seiten der Politik aufgetragen wurde.5

Wissenschaftlich flankiert wurden diese Auftragsarbeiten von Kelsens Begegnung mit Vertretern der Marbacher Schule unmittelbar vor dem Ausbruch des Krieges. Sie bewirkt eine Öffnung für die Rechtsphilosophie, welche Kelsen selbst nachträglich wie folgt beschreibt:

Mit der Vertiefung in die auf höchste Methodenreinheit abzielende Kantische Philosophie Marburger Richtung schärfte sich mein Blick für die zahlreichen höchst bedenklichen Trübungen, die die juristische Theorie durch bewusste oder unbewusste politische Tendenzen der Autoren erfährt. […] Nunmehr erkannte ich auch den dritten und bedeutungsvollsten Dualismus, der der herrschenden Lehre zugrunde liegt, den Gegensatz von Recht und Staat, der die beiden früher genannten Gegensätze von subjektivem und objektivem, privatem und öffentlichem Recht fundiert.6

Im kritischen Rekurs auf die herrschende Lehre vollzieht Kelsen eine Denkbewegung, in der die juristische Theorie von den Trübungen durch politische Tendenzen gereinigt, der Gegensatz von Recht und Staat in Zweifel gezogen und die Reine Rechtslehre selbst nicht nur zur Normwissenschaft, sondern zur normativen Grundlage staatlicher Ordnung erklärt wird. Ob es sich bei diesem Akt der Geltungsstiftung nicht selbst (wieder) um eine Trübung der Rechtstheorie durch eine politische Tendenz handelt, wäre an anderer Stelle zu diskutieren. Hier ist entscheidend, dass Kelsen, eben weil er während der Kriegsjahre „den alltäglichen politischen Missbrauch der Personifizierung und metaphysischen Überhöhung des Staates – und die eigene Verstrickung in diese – vor Augen“7 hatte, nach einer Form suchte, die einem solchen Staatsverständnis entgegenzuwirken vermag. Die von Kelsen während des Krieges und in der Zwischenkriegszeit verfassten Schriften sind dann auch vor diesem Hintergrund zu lesen, angefangen von Reichsgesetz und Landesgesetz nach der österreichischen Verfassung (1914), Eine Grundlegung der Rechtssoziologie (1915), Die Rechtswissenschaft als Norm- und Kulturwissenschaft von 1916, die Denkschrift Vom Wesen und Wert der Demokratie (1920) bis hin zur Reinen Rechtslehre (1934).

Zugespitzt ließe sich von Auftragsarbeiten sprechen, die Kelsen zwangen, den festen Grund bestehenden Rechts zu verlassen und ins Rechtsphilosophische auszuschweifen. Die Aufträge selbst zielten auf die Lösung von Problemen, die sich mit Busch wie folgt konkretisieren lassen: Immer handelt es sich bei Kelsens Angeboten um einen Interessenausgleich zwischen politischen Gegenpolen, der sozialtechnisch durch eine dem Gegenstand angemessene Verrechtlichung des politischen Konfliktpotentials erreicht wird, welche sich wiederum im Kern oft als „Vergerichtlichung“ entpuppe, da die Konfliktaustragung nun auf dem Rechtsweg und nicht auf dem Weg reiner Machtpolitik erfolgt, was Konzessionen auf beiden Seiten des politischen Konflikts wissentlich voraussetzt. Dieses zunächst in der „Versuchsstation des Weltuntergangs“ zur Anwendung gebrachte Prinzip wird weitergetragen von den zwischen 1918 und 1920 vorgelegten Verfassungsarbeiten auf die „Weltbühne internationaler Beziehungen“ bis hin zu den Vereinten Nationen und der „Peace Through Law“ Bewegung.8 Busch spricht in diesem Zusammenhang gar von einer persönlichen, Kelsen eigentümlichen Form der Vergangenheitsbewältigung seiner intensiv erlebten Weltkriegs- und Umbruchsjahre als Rechtsberater der untergehenden Monarchie wie auch der entstehenden Republik.9

Innerhalb der Forschung wird dieser Abschnitt der Biographie Kelsens kontrovers diskutiert. Kelsens eigener, betont unpolitisch gehaltener und von Teilen der Wissenschaft verlängerter Beschreibung stehen hier äußerst kritische Arbeiten gegenüber.10 Fest steht, dass Kelsen auf seinen Stationen zwischen Offiziersausbildung, Studium und Kriegsdienst nicht nur prägende Erfahrungen, sondern auch bedeutsame Bekanntschaften machte, wie etwa die mit dem deutschen Staats-, Verwaltungs- und Völkerrechtler Walter Jelinek, der 1908 die verwaltungs- und prozessrechtliche Studie Der fehlerhafte Staatsakt und seine Wirkungen veröffentlicht hatte, sowie jene mit dem deutschen Staatsrechtslehrer Gerhard Anschütz.11 Wenn Lindström heute Kelsen (neben Robert Musil) zu den „two high profile Austrian intellectuals“ zählt, deren Karrieren geformt waren vom historischen Prozess der Bildung der österreichischen Staatselite, so weil zu ihren fundamentalen Aspekten die weitreichende Beschäftigung mit Ordnungs-, Verwaltungs- und Verfassungsfragen zählt.12 Diese Beschäftigung vermengte sich bei Kelsen bereits vor Ausbruch des Krieges mit der wissenschaftlichen Tätigkeit und kann zumindest tendenziell als Ausgriff in den Raum der politischen Bildung verstanden werden.13

Während des Krieges durchläuft Kelsen, dank guter Kontakte als für den Kriegsdienst untauglich erklärt, zahlreiche Stationen, bevor er schließlich Konzeptoffizier in der Justizabteilung des Kriegsministeriums wird. Folgt man Busch, so vermag Kelsen in dieser Zeit nicht nur weiter wissenschaftlich zu arbeiten, sondern auch routinemäßig Gegenstände mit völkerrechtlichem Bezug zu bearbeiten. Der von Kelsen selbst vertretenen „Version vom ruhigen Durchtauchen durch alle damit [dem Krieg, Anm. C. M. und J. Ch.] verbundenen Schrecken und Wirrnisse in einer davon unberührten Zentraldienststelle“14 widerspricht Busch entschieden. Mehr noch: Er sieht in den von Kelsen gemachten Erfahrungen und Einblicken in die Militärjustizverwaltung die Veranlassung dafür, dass dieser sich als Berater des letzten k.u.k. Kriegsministers aktiv einzubringen vermochte. Um zu veranschaulichen, inwiefern diese Aktivitäten mit der Genese der Kelsen’schen Rechtslehre korrelieren, empfiehlt sich seine Beratung im Fall der sogenannten „Armeefrage“; eine Fragestellung, bei deren Beantwortung deutlich zutage tritt, wie sehr sich Kelsen um eine Einbeziehung der Militärverwaltung in das Rechtsstaatsgefüge und mithin in eine Setzung des Rechts als neue Grundnorm bemühte.

Worum handelt es sich bei der „Armeefrage“? Zusammenfassend lässt sich sagen, dass dahinter die Problematik steht, bei welcher Reichshälfte (Ungarn oder Österreich), nach der Teilung des Staatsgefüges die militärische Kommandogewalt bleiben soll. Die Lösung der Problemstellung erlangte Wichtigkeit in der Donaumonarchie, als ein „Ausweg aus der schwierigen und umstrittenen staatsrechtlichen Situation der Heereskompetenz nach dem Ausgleich 1867“ gesucht werden musste.15 Drängend wurde sie, als Ende August 1917 zur Durchsetzung von Wahlrechtsreformplänen für die ungarische Reichshälfte ein entsprechender Regierungsbildungsauftrag des Kaisers an den ungarischen Ministerpräsidenten Alexander Wekerle erging. Letzterer verständigte sich mit seinem König auf Konzessionen in der „Armeefrage“, woraufhin der Landesverteidigungsminister in Budapest, zuständig für die königlich-ungarische Verteidigung einschließlich der kroatisch-slawonischen Landwehr, konkrete, auf eine Teilung der gemeinsamen Armee hinauslaufende Reformpläne vorlegte. Diese brachten den k.u.k. Kriegsminister Generaloberst Rudolf Freiherr von Stöger-Steiner in eine Notlage, die, wie Busch es formuliert, „nun zeitlich mit dem Erscheinen einer militärpolitischen und militärverfassungsrechtlichen Schrift Kelsens ‚Zur Reform der verfassungsrechtlichen Grundlagen der Wehrmacht Österreich-Ungarns’ im August 1917 zusammen(fällt)“.16

Das glückliche Zusammentreffen von Politik- und Wissenschaftsgeschichte ist überaus bemerkenswert und kann als Schulbeispiel der Ideengeschichte gelten. In seiner Schrift zur Reform der verfassungsrechtlichen Grundlage der Wehrmacht regte Kelsen, sich auf das preußische Militärkabinett berufend, an, die Kommandogewalt neu zu organisieren und die ministerielle Militärverwaltung von der obersten Kommandogewalt des Kaisers strikt zu trennen. Die Heereskompetenz würde sich so in einem Armeeoberkommando (AOK) bündeln, zusammengesetzt aus ausgewählten Agenden der Kommandogewalt des Monarchen, welches auch in Friedenszeiten weiterbestehen sollte. Praktisch liefe eine solche Reorganisation auf eine Machtübernahme des Landesverfassungsministeriums hinaus. Das Kriegsministerium wäre überflüssig, da die beiden Landesverfassungsministerien die gesamte Militärverwaltung übernähmen und mithin die gesamte Militärverwaltung unter die Rechtskontrolle der Verwaltungsgerichtshöfe der beiden habsburgischen Reichshälften käme.

Kelsen selbst sah in seinem verfassungsrechtlichen Vorstoß auf dem umkämpften Gebiet des Militärwesens eine „sichtliche Anerkennung der Souveränität des ungarischen und österreichischen Staates“, während Busch diesbezüglich von einem „Aufsehen erregenden und militärpolitisch ‚häretischen‘ Gedanken“ spricht, der als solcher eine Disziplinierung durch den Minister nach sich zog.17 Dabei sei es Kelsen nicht um die „hehre Idee des Habsburgerreiches“ gegangen, sondern um die „rechtliche Kittung eines durch die Verquickung von Wahlrechtsreform und Armeefrage von Kaiser Karl herbeigeführten innenpolitischen Dilemmas“.18 Kelsen bietet einen juristischen Ausweg aus dem Dilemma, indem er eine neue gemeinsame rechtsstaatliche Klammer für die beiden Reichsteile konstruiert. Das höchste Interesse der Heeresverwaltung müsse demnach dem Bestreben gelten, dass der durch die Reform geschaffene Zustand durch je ein gleichlautendes österreichisches und ungarisches Gesetz – gleich welchen Inhalts – klar und unzweideutig fixiert werde.

Die von Kelsen vorgelegten Reformentwürfe lassen sich als rechtstheoretische Lösung eines konkreten politischen Problems lesen, wie es die Donaumonarchie insbesondere nach dem Ausgleich massiv belastete. Weitergehend und pointierter könnte man sagen, dass Kelsen auf die Staatskrise – Lindström spricht von einem „state that had strenuously avoided identifying itself“19 – mit der Umklammerung der politischen Ordnung durch das Recht bzw. mit der Konzeption des „Rechts-Staats“20 antwortete. Oder, noch einmal anders und in unmittelbarem Rückbezug auf die im vorangestellten Kapitel näher ausgeführte Reine Rechtstheorie formuliert: Mit der „Armeefrage“ sind wir an dem Punkt, an dem Kelsen erstmals die Theorie an der Praxis (und umgekehrt) zu erproben anhebt, indem er versucht, seine Grundnorm des Rechts zu setzen und dieser zur Geltung zu verhelfen. Die Geltungsstiftung, von der es in der Theorie heißt, sie sei die erkenntnistheoretische Funktion der Grundnorm, tritt hier aus der Theorie heraus und wird zum Akt. Wenn, wie Kelsen am Beispiel des Ersetzens der monarchischen durch eine republikanische Staatsform illustrierte, Revolutionen und politische Umstürze möglich sind, und sich die Faktizität des Wechsels politischer Ordnungsmodelle oder auch Formen als Beleg dafür nehmen lässt, dass das Setzen einer neuen Grundnorm möglich ist, dann kann (und soll) auch die eigengesetzliche Form des Rechts zu jener Grundnorm werden, auf der weitere Sollensordnungen aufbauen können.

Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs

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