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2. Kelsens Aufstieg in die österreichische Wissenschafts- und Staatselite

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Hans Kelsen war ein Kind der Donaumonarchie, das heißt eines historisch betrachtet lange währenden multinationalen und multikonfessionellen europäischen Großreichs. In ihm wiederum war er ein Teil der „Austrian State Elite“ und mithin einer Gruppe, für die Fredrik Lindström folgende Charakteristiken nennt: Ihre Teilnehmer durchliefen ein Studium der Rechte an österreichischen Universitäten, hatten gleichzeitig mehrere Betätigungsfelder, innerhalb derer sie zumeist insofern reformerisch tätig waren, als sie institutionelle Veränderungen als Staatsbeamte begleiteten oder als Experten für konstitutionelle Fragen wirkten, jedoch mehrheitlich keine politischen Karrieren anstrebten.1 In die so beschriebene österreichische Staatselite wurde Kelsen nicht hineingeboren, sondern musste sich in sie hineinarbeiten. Dem jüdischen Bürgertum zugehörig, wurde Kelsen im Jahr 1881 in Prag als Sohn eines Mannes geboren, der wiederum in Brody (Galizien) aufgewachsen war und in Wien starb. Seine Mutter, geborene Löwy, stammte aus Böhmen und starb 1950 in Bled, damals Jugoslawien.

Suchte man nach einer (post)imperialen Geschichte der Donaumonarchie in nuce, hier hätte man sie. Das dem habsburgischen Großreich inhärente Zentrum-Peripherie-Problem für sich lösend, zieht die Familie Kelsen 1884 nach Wien, wo der Sohn im Jahr 1900 die Matura am Akademischen Gymnasium Wien ablegt, um ein Jahr darauf ein Studium der Rechts- und Staatswissenschaften an der Universität Wien aufzunehmen.2 Der Beginn des Studiums im Zentrum des Reiches markiert den Anfang jener Weltkarriere, der ihre Achsenzeit noch bevorsteht. Gleichzeitig markiert die Zeit um 1900 einen staatsgeschichtlichen Einschnitt: „around the year 1900, this state was close to abdicating its role of leading and governing the society it was framing“.3 Genau diese Frage nach der möglichen ‚Rahmung‘ der Gesellschaft wird für Kelsen zur prägenden intellektuellen Herausforderung.

Um sie anzunehmen, musste sich Kelsen noch tiefer in das Zentrum hineinarbeiten. 1905 tritt er zum Katholizismus über. 1906 erfolgt die Promotion zum Dr. jur. an der Universität Wien, gefolgt von Studienaufenthalten in Heidelberg und Berlin. Im Frühjahr 1911 habilitiert sich der dreißigjährige Kelsen an der Universität Wien und beginnt dort noch im selben Jahr seine Lehrtätigkeit als Privatdozent für Staatsrecht und Rechtsphilosophie. Daneben lehrt er als Dozent für Verfassungs- und Verwaltungslehre an der Wiener Exportakademie des k.k. österreichischen Handelsmuseums. Als festen Baustein umfasst Kelsens Lehre eine Vorlesung, die sich ihrerseits als Seismograph des Wandels am Schnittpunkt von Politik-, Rechts- und Wissenschaftsgeschichte lesen lässt: Ab 1911 hält Kelsen in jedem Wintersemester die einstündige Vorlesung „Der österreichisch-ungarische Ausgleich“. Ab 1919/1920, also nach dem verlorenen Krieg und dem Untergang der Donaumonarchie, entwickelt Kelsen aus ihr sukzessive die Vorlesungen „Deutschösterreichisches Staatsrecht“, „Die Verfassung des Deutschen Reiches“ sowie, schließlich, „Allgemeine Staatsrechtlehre und österreichisches Staatsrecht“.4

Spätestens mit der Habilitation (1911) hatte sich Kelsen dabei nicht nur als Rechtsspezialist ausgewiesen, sondern innerhalb der sozialen Hierarchie des Großreiches auch endgültig den Aufstieg in die obere Mittelklasse vollzogen. Die Mittelklasse selbst war geradezu an das Rechtsstudium gebunden: „The Austrian middle class in the last decades of the empire was to a high degree a law educated class.“5 Als solche war sie von einer Kultur geprägt, welche wiederum, zumindest im Falle Kelsens, bis auf jene staatsbezogene, formalistische Rechtswissenschaft durchschlug, der Kelsen seine Mittelklasse-Existenz verdankte: „the basic abstract, a-national, and strongly state-centred culture“.6 Darauf wird zurückzukommen sein. Hinsichtlich der Biographie Kelsens bleibt zu ergänzen, dass das Leben der Familie Kelsen während des Krieges weitgehend ungestört verlief. Auch unterbrach der Krieg nicht die Wissenschaftskarriere Kelsens, im Gegenteil.7 Kelsens vielfältige Tätigkeiten im Kriegsministerium während des Ersten Weltkriegs und seine Positionierung im Hinblick auf die österreichisch-ungarische Armeefrage zeigen, wie nah an den Regierungskreisen Kelsen gearbeitet hat und wie sehr sein rechtswissenschaftliches Wirken in Wechselwirkung mit den politischen Gegebenheiten stand. Zudem hielt Kelsen während des Krieges, und zwar durchgängig von Ende 1913 bis 1918, in seiner Wohnung Privatseminare ab, aus denen sich ein engerer Kreis bildete, der nach dem Krieg die Form einer Schule annahm. In einer Art Sonntags-Kreis kam es einmal im Monat zu einer intellektuellen Zusammenkunft, deren bloße Existenz bezeugt, dass sich selbst noch die Urkatastrophe beobachten und reflexiv einholen ließ.

Unmittelbar nach dem Ende des Krieges, im März 1919, wird Kelsen zum Mitglied des deutschösterreichischen Verfassungsgerichtshofes ernannt und, im Sommer desselben Jahres, zum ordentlichen Universitätsprofessor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Wien. Die Professur besetzt Kelsen bis 1930.8 Vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges und des Antisemitismus an den Hochschulen verlassen Hans und Margarete Kelsen in Jahr 1940 Europa und gehen nach New York, wo Kelsen seine „wissenschaftliche Weltkarriere“ fortsetzt.9

Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs

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