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1918, Untergang der Habsburgermonarchie und ihre Historiker

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Eine unendliche Geschichte vom Fall und Ende

Filip Šimetin Šegvić (Zagreb)

Das große Erinnerungs- und Gedenkjahr 1918 wurde auf globaler Ebene als hundertstes Jubiläumsjahr mehrerer wichtiger Ereignisse ‚konsumiert‘, unter anderem hat man den Untergang der Habsburgermonarchie sowie Gründung sämtlicher neuen Staaten, so auch des SHS-Staats, der Republik Österreich oder der Tschechoslowakei mit verschiedenen Veranstaltungen bedacht. Auf Tagungen und in wissenschaftlichen Publikationen wurde das Jahr 1918 als Umbruchsjahr oder als „Stunde null“ dargestellt. Das Themenspektrum eines Sammelbands versuchte zum Beispiel 1918 nicht als eine strikte Demarkierung vorzustellen, sondern auf übergreifende politische, soziale und kulturelle Strukturen hinzuweisen und somit klassische Spaltungen zu vermeiden.1 Ernsthafte wissenschaftliche, aber auch politische bzw. öffentliche Debatten wurden darüber in ganz Mittel- und Südosteuropa geführt. Dabei kam heraus, dass die meisten Debatten unabhängig voneinander, also ohne jegliche komparativgeschichtliche Perspektive, nicht im Dialog, sondern als monologische Einzelbestandteile geführt wurden. Man konnte auch feststellen, dass bei den Historikern in Mittel- und Südosteuropa nicht nur Kontroversen und größere Fragenkomplexe offen geblieben sind, sondern dass man sich auch auf anderen Ebenen nicht ergänzen konnte, beispielsweise bei einer Suche nach den kroatisch-serbischen oder habsburgisch-patriotischen sowie jugoslawischen Erinnerungsorten, den lieux de memoire.2

Der Begriff ‚konsumiert‘ wurde absichtlich verwendet, weil Historiker, die noch 2014 auf einen neuen bzw. methodologisch differenzierten Erfahrungsraum vorbereitet waren, sich bis 2018 wahrscheinlich ernüchtert haben. Auch Christopher Clarks literarisch gelungene „Master-Darstellung“, die auf der Suche nach den Ursachen des Ersten Weltkriegs neue Debatten hervorrief, mangelte an wirklich neuen Interpretationen und Ideen; dennoch bleiben Die Schlafwandler ein multiperspektives Meisterwerk der neuesten Geschichtsschreibung.3 Eine propulsive Bereicherung und Erneuerung der Habsburgerstudien, mit allen zugehörigen modernen methodologischen und theoretischen Ansätzen in der Geschichtsschreibung, lässt allerdings immer noch auf sich warten, trotz einer Überproduktion von re-traditionalisierten und klassisch politisch-historischen Beiträgen. Es wurden zahlreiche Konferenzen und Tagungen abgehalten, die einen neuen Blickwinkel oder aber einen Blick aus der Vogelperspektive auf die letzten Jahre der Habsburgermonarchie und anderer europäischer Imperien geboten haben, ohne dabei traditionelle Fragestellungen zu erweitern, manche wurden sogar aufgegeben. Viel häufiger rückten aber alte Argumente und sogar alte Einstellungen in den Vordergrund.

Das Jahr 1918 als das große Bruchjahr bezeichnet in der Geschichtsschreibung unter anderem auch den endgültigen Untergang der Habsburgermonarchie. Bis heute erhält sich in zahlreichen Werken die alte Perspektive von der geschwächten „alten“ Donaumonarchie, die als ein Anachronismus dargestellt wird und daher nicht überraschend ihr Ende 1918 erfährt – zu erwähnen wären in diesem Zusammenhang insbesondere zahlreiche Beiträge der kroatischen Historiographie, die sich auf 1918 und die darauffolgenden Jahre konzentrieren. Mehrere dieser Beiträge, die sich mit diesem Thema in der neueren Zeit beschäftigen, bleiben in erster Linie auf Ereignisse, also auf die von Fernand Braudel benannte „Zeit der Geschichte“ und den „mechanischen Zeitlauf“, auf die histoire événementielle („Ereignisgeschichte“) konzentriert.4 Gerade diese Ebene der historischen Prozesse wurde bereits im heute vergessenen, aber nichtdestotrotz wichtigen Werk Raspad Austro-Ugarske i stvaranje južnoslavenske države (Der Untergang Österreich-Ungarns und die Gründung eines jugoslawischen Staates) des kroatischen Historikers Bogdan Krizman (1913–1994) aus dem Jahr 1977 untersucht.5 Und gerade für die kroatische Situation um 1918 ist die Perspektive der langen Dauer gut geeignet: nicht die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien oder Österreich, sondern gerade Kroatien bzw. Jugoslawien.6 Es handelt sich dabei um einen Sonderfall, der tatsächlich für die Durchführung einer transepochalen komparativen Studie geeignet wäre. Kroatien fügte sich nach jahrhundertelanger Dominanz der Dynastie Habsburg als einziges mitteleuropäisches Land in ein neues multinationales, multikulturelles und multikonfessionelles Imperium bzw. Königreich ein. Doch außer der hervorragenden Arbeit des Historikers Ivo Banac, dem Buch The National Question in Yugoslavia: Origins, History, Politics hat die kroatische Geschichtsschreibung bis heute kaum solche übergreifenden Studien hervorgebracht.7

Wichtige Ansätze dazu gibt es schon seit einiger Zeit in der österreichischen und deutschen, aber vor allen in der anglo-amerikanischen Geschichtsschreibung: die Sektion „Habsburgia“ – ein Begriff des Historikers Tony Judt8 (1948–2010) – gab es auch schon vor 1918 in der britischen Geschichtsschreibung, was auf keinen Fall eigenartig vorkommen sollte. Das Thema „Untergang der Monarchie“ ermöglichte vorerst den Historikern nach 1918 Zuflucht ins sogenannte „grand narrative“. Britische Historiker der Zwischenkriegszeit, zumal Emigranten aus dem mitteleuropäischen Raum wie Lewis B. Namier oder Alfred F. Přibram, knüpften an die Geschichtsschreibung von Edward Gibbon aus dem 18. Jahrhundert an. Sein Werk über den Fall des Römischen Imperiums popularisierte eine Geschichte des decline and fall – des „Verfalls und Untergangs“.9 Die frühe britische Geschichtsschreibung zum Thema Donaumonarchie wurde auch durch die späten Ansätze der Macauley’schen sogenannten whig-history beeinflusst. Schilderungen politisch aktiver Historiker und Journalisten wie Henry Wickham Steed (1871–1956) und Robert William Seton-Watson (1879–1951), insbesondere auf die Lage der Südslawen konzentriert, prägten dabei ein politisch motiviertes Bild der Donaumonarchie als „Völkerkerker“.10 Die Habsburgermonarchie zu untersuchen, war in vielerlei Hinsicht eine zeitgemäße Angelegenheit: Die politische Krise und die Nationalitätenkämpfe in der Habsburgermonarchie haben den Kontext zu den jüngsten politischen Entwicklungen in Mittel- und Südosteuropa in den 1920er und 1930er Jahren sowie auch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg geboten. Dabei sollte man sich an die zahlreichen Werke der anglo-amerikanischen Geschichtsschreibung erinnern: vom ausschlaggebenden Essay über den Zerfall der Monarchie in 41 Punkten von Lewis B. Namier (1888–1960)11 bis zu den synthetischen Werken von Arthur J. May, Robert A. Kann, A. J. P. Taylor, C. A. Macartney und zahlreichen anderen Historikern.

Natürlich hatten politische Umstände früher wie auch heute einen bestimmten Einfluss auf die Geschichtsschreibung. Nach 1918 war es nicht nur wichtig, den Zerfall großer europäischer Imperien zu analysieren, sondern gewiss auch neue „grand narratives“ für Nachfolgestaaten zu gestalten; der Habsburger „Völkerkerker“ spielte dabei eine wichtige Rolle. Anderseits wurde im Kalten Krieg wieder vieles umgedacht: der „Eiserne Vorhang“ und die Sowjetisierung Ost-Mitteleuropas und Osteuropas ließ schnell den „Völkerkerker“ vergessen. Heute werden wiederum in Bezug auf die Europäische Union Parallelen mit dem Habsburger Vielvölkerstaat gezogen, wobei sich diverse Kolumnisten und Journalisten fragen, ob man von Franz Joseph und der Doppelmonarchie noch etwas lernen könnte.12 Diesbezüglich sind Historiker aber vorsichtiger geworden, als dies der Fall nach 1918 oder nach 1945 war.

Zusammen mit den Arbeiten österreichischer und deutscher Historiker bieten diese synthetischen Werke eine Fülle von Thesen und Argumenten über den Zusammenbruch der Habsburgermonarchie. Dabei fallen mindestens zwei oder drei miteinander verbundene, aber grundsätzlich unterschiedliche Denkrichtungen auf. Hinzuweisen wäre in diesem Zusammenhang vor allem auf die mehrbändige österreichische Edition Die Habsburgermonarchie 1848–1918, die seit 1973 erscheint und verschiedene Historiker aus Österreich und anderen Ländern verbindet; dieses Werk bietet zwar keine Synthese, stattdessen werden aber in seinen voluminösen Bänden diverse Themen vertieft.

Die erste historiographische Richtung bringt einen detaillierten Überblick der inneren politischen Situation in der Habsburgermonarchie und rückt dabei die Analyse der Reform- und Reorganisationsbestrebungen in den Vordergrund. Nach dieser Interpretation sei die Donaumonarchie von inneren Faktoren, vor allem von miteinander zerstrittenen Nationalitäten, die niemals „von oben“ befriedigt wurden, geschwächt und endgültig im Krieg zertrümmert worden. Oftmals kommen dabei Magyaren oder Slawen als überwiegend destabilisierende Faktoren vor. Vereinfacht gesagt, würde das eine Geschichte der „verpassten Chancen und Gelegenheiten“ zur Reform des Staatswesens der Dynastie Habsburg und somit zur Rettung der immer mehr anachronistischen Habsburgermonarchie bedeuten. Der ungarische Soziologe und Historiker Oszkár Jászi (1875–1957), selbst in der letzten Periode der Monarchie politisch aktiv und nach 1925 in den USA tätig, befürwortete diesen Zugang in seinem einflussreichen Werk The Dissolution of the Habsburg Monarchy (1929).13 Ein ebenso analytisches Panorama der konstitutionellen und politischen Probleme der Donaumonarchie bietet das Buch Das österreichische Staats- und Reichsproblem des Juristen und Historikers Josef Redlich (1869–1936).14 Diese Ausrichtung erreichte ihren wissenschaftlichen Höhepunkt mit den Werken des US-Historiker Robert A. Kann (1906–1981).

Einen anderen Blickwinkel bieten Synthesen, die die Dominanz der Außenpolitik zu unterstreichen versuchen: Damit wird die These aufgestellt, dass die innere Nationalitätenfrage – vor dem Ausbruch des Weltkrieges sekundär – eigentlich von Außenfaktoren beeinflusst und durch die Inkompetenz der Habsburger bzw. Kaiser Franz Josephs sowie seiner politischen Ratgeber verschärft worden sei. Solche Ansätze können bei A. J. P. Taylors (1906–1990) Werk über die Habsburgermonarchie gefunden werden: Für Taylor ist die Monarchie ein merkwürdig anachronistisches System für die Außenpolitik und im Grunde ein Werkzeug des europäischen Kräftegleichgewichts gewesen. Taylors „grand narrative“ wird in den Arbeiten von Roy Bridge mit analytischer Quellenkritik der diplomatischen Dokumente ersetzt.15 Aber dieser Blickwinkel gipfelt erst in der Synthese des britischen Historikers Alan Sked unter dem Titel Decline and Fall of the Habsburg Empire (1989),16 wobei auch wirtschaftliche Faktoren eine Rolle spielen: besonders ergiebig waren in dieser Hinsicht die Werke von Richard Rudolph, David F. Good, John Komlos, usw., in denen eine äußerst differenzierte Perspektive auf die ökonomische Lage der Habsburgermonarchie durchgesetzt wurde.17 Zwar direkt mit der früheren britischen Schule der Habsburgerstudien (mit A. J. P. Taylor als Schlüsselfigur) eng verbunden, präsentierte diese Synthese von Alan Sked dennoch neue Perspektiven und ergänzte dabei eine Reihe von neuen Ansätzen. Die deutsche Version des Buchs unter dem Titel Der Fall des Hauses Habsburg. Der unzeitige Tod eines Kaiserreichs schildert vielleicht besser die Intention des Autors, der von einem „Fall ohne Niedergang“ (fall without decline) spricht und dabei noch behauptet, dass die lokalen Formen des Nationalismus bis 1914 keine ernstere Bedrohung für die Donaumonarchie dargestellt haben.18 Also stellte gerade Sked in seiner provokativen, aber gut argumentierten Interpretation fest, dass die Existenz der Habsburgermonarchie zwischen dem Ausgleich von 1867 und 1914 keiner größeren Gefahr ausgesetzt war.

Einen dritten und sehr spezifischen Ansatz bietet das äußerst interessante, 1968 veröffentlichte Werk The Habsburg Empire von C. A. Macartney (1895–1978). Es analysiert extensiv innenpolitische Wandlungsprozesse im österreichischen wie auch im ungarischen Teil der Donaumonarchie, darüber hinaus auch diplomatische und außenpolitische Faktoren im „langen 19. Jahrhundert“.19 Macartneys Antwort auf die Frage vom Zerfall der Habsburgermonarchie ist zweiseitig: zum einen stellt er strukturelle Fehler und Probleme fest, die bis 1914 immer mehr Wirbel auslösten, auf der anderen Seite sieht er auch die außenpolitische Lage vor 1914 als problematisch an. Macartney schreibt:

The Austo-Hungarian Monarchy did not survive the conflict which it unleashed when it declared war on Serbia. The end of the war was also the end of the Monarchy. Many is the book which has been written on the question whether this consummation was forced on it, unnaturally, by foreign enemies, some of which have become so only by accident, or whether it was the natural and inevitable result of the forces of decay within its own organism.20

Hinsichtlich der analytischen Breite und des periodenübergreifenden Ansatzes ist der Arbeit Macartneys eine weitere Studie verwandt: die Synthese des britischen Historikers Robin Okey, die einen politisch- und gesellschaftshistorischen Überblick der Geschichte der Habsburgermonarchie von 1765 bis 1918 bietet.21 Dabei verweist Okey auf langfristige Strukturen, die desintegrativ wirkten (Nationalismus) oder einen Zerfall unvermeidlich machten (Modernisierungsprozesse der Aufklärung), darüber hinaus auch auf andere strukturelle Fehler. Aber auch kurzfristige Ereignisse (Weltkrieg) zählen bei Okey zu den Schlüsselfaktoren des Umbruchs:

In the case of the Habsburg Monarchy and the First World War the big issues concern the outbreak and conduct of the war but above all the break-up of the old state at its end. What is the balance between individual and structural factors, and between shorter- and longer-term ones, in shaping what came about?22

Nachfolgende Generationen von Historikern hatten durch diese Bücher ihre ersten Begegnungen mit der Geschichte der Donaumonarchie. Sie entwickelten jedoch auch eine kritisch differenzierte Perspektive. Der sogenannte cultural turn fand auch in den Habsburgerstudien statt: William M. Johnston, Carl Schorske, Edward Timms, Allan Janik, Steven Beller sowie österreichische Historiker wie Moritz Csáky, Wolfgang Maderthaner und viele andere beleuchteten mit ihren Werken kulturelle, intellektuelle, gesellschaftliche und geistesgeschichtliche Aspekte. Gerade kultur- und geistesgeschichtliche Beiträge von Johnston und Schorske (1915–2015) oder Péter Hanák (1921–1997)23 erinnerten nicht nur an eine Fülle von Kreativität und Innovation in Wien (und anderen urbanen Zentren der Monarchie) um die Jahrhundertwende, sondern trugen dazu bei, die Habsburgermonarchie umzudenken, das heißt, sie nicht als Anachronismus, sondern als ein „Laboratorium der Moderne“24 zu betrachten, darüber hinaus auch auf gesellschaftlicher und politischer Ebene.

Die Werke von David F. Good und John Komlos eröffneten neue Ansätze in Bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung der Donaumonarchie. Seit den 1980er Jahren kamen parallel dazu auch die Beiträge von Gary B. Cohen und anderen, wieder zumeist US-amerikanischen Historikern, die den Weg für eine neue Generation von Forschern freigemacht hatten. Anknüpfend an Benedict Anderson und seine Imagined Communities,25 suchte diese Generation neue Antworten auf alte Fragen, stieß aber dabei auch auf ganz neue Fragenkomplexe. Nicht nur eine Fülle von wichtigen kulturhistorischen und sozialhistorischen Studien haben bedeutende Durchbrüche ermöglicht. Bald kamen auch Beiträge, die bekannte Themen mit neuen methodologischen Fragenstellungen verbinden, sei es in Bezug auf verschiedene Aspekte des Habsburger Heeres, auf diverse nationale und dynastische Loyalitäten bzw. Loyalismen oder auf andere Ansatzpunkte der „new political history“.26

Der aus der Zwischenkriegszeit datierende historiographische empirische Rahmen, der unter dem Einfluss Oswald Spenglers und Arnold Toynbees sowie ihrer Theorie der historischen Zyklen von Aufstieg oder Fortschritt und Verfall oder Rückschritt stand, wurde nun endgültig gesprengt.27 Auch die Carlyle’sche „Geschichte großer Männer oder Helden“ rückte in den Hintergrund. Der Umstand, dass die Habsburgermonarchie im 19. Jahrhundert eben keine Erfolgsgeschichte ist, dass große Männer der Monarchie nicht als Helden angesehen werden und „zum Heroischen in der Geschichte“ gehören, ermöglichte andere Wege. Neue, kleinere Studien machten nun die Erforschung von Verbindungen zwischen lokalen Phänomenen und generellen Transformationen des Habsburgerreichs zum Thema. In den letzten zwei Jahrzehnten wurde die Habsburgerforschung nicht nur konzeptuell oder durch verschiedene Themen bereichert, erweitert wurde auch unser Wissen über die Peripherie und deren Entwicklung. Carlyle’sche Fragen und Kontroversen, zum Beispiel die Frage, inwiefern die private Welt des Kaisers Franz Joseph dessen politische Entscheidungen beeinflusste oder wie schwer bzw. verloren die Lage für Kaiser Karl gewesen war, werden von nun an mit neuen Fragenkomplexen ersetzt. Vorangeführt werden solche modernen Habsburgerstudien von Laurence Cole, Daniel Unowsky, Tara Zahra, Robert Nemes, Deborah Coen und vielen anderen, dazu auch von ihren europäischen Kollegen wie Heidemarie Uhl, Rok Stergar, Mark Cornwall, Philipp Ther, Tamara Scheer und vielen anderen. Diese neuen Generationen der Historiker der Habsburgermonarchie finden im vereinfachten Sinn unter der Kategorie „New Habsburg History“ ihren kleinsten gemeinsamen Nenner. Als spezifische case-studies wurden diese Ansätze der „New Habsburg History“ schon längere Zeit geprüft. Aber gerade eine Synthese fehlte lange Zeit um all diese scheinend partikularen Fortschritte zu verbinden und schlaggebend eine „Stimme“ der ganzen Generation zu werden.28

Die neue Synthese der Geschichte der Habsburgermonarchie von Pieter Judson, erschienen auf Deutsch 2017 unter den Titel Habsburg: Geschichte eines Imperiums, ist aber in diesem Zusammenhang nicht eine „New History“ (der englische Titel ist The Habsburg Empire. A New History), weil sie erst vor kurzer Zeit publiziert wurde. Sie ist auch auf den methodologischen Ansätzen der Sozialgeschichte und Kulturgeschichte begründet und bietet neue Interpretationen zum Staatswesen und zu dessen Entwicklung im langen 19. Jahrhundert.29 Als jahrelanger Chefredakteur der Zeitschrift „Austrian History Yearbook“ hatte Judson einen klaren Überblick über die meisten neuen Tendenzen der Habsburgerstudien. Dazu wirkt gerade diese Zeitschrift in englischen Wissenschaftsraum als methodologische Werkstatt und Plattform für neue Ansätze nicht nur in der Geschichte der Habsburgermonarchie, sondern auch für die Geschichte(n) der Nachfolgestaaten. Wie wissenschaftliche Diskussionen über das Buch von Pieter Judson bereits gezeigt haben, zeichnet diese Geschichte des Habsburgerreichs ein revisionistisches Bild über dessen Schlussphase.30 Auch andere bekannte historische Eckpfeiler, zum Beispiel die Regierungszeit Maria Theresias und Joseph des II. oder die Metternich-Ära, werden aufs Neue untersucht. Judsons Arbeit ist gleichzeitig provokativ, aber immer noch in „Kommunikation“ mit anderen, älteren Historikern der Geschichte des österreichischen Imperiums. Einige Aspekte werden dennoch vernachlässigt, wie beispielsweise die immer wichtigen außenpolitischen und diplomatischen Ebenen. Dazu kommt auch ein weiteres Problem hinzu, das sich teilweise auch in anderen Synthesen festhalten lässt: Verschiedene Gruppen, Einzelpersonen, Orte oder Beispiele wechseln sich zunehmend ab und werden meistens ungenügend kontextualisiert – ansonsten ein Nachteil mehrerer Synthesen, die die Gesellschaftsgeschichte auf einer Basis der entangled history/histoire croisée also als Verflechtungsgeschichte, darzustellen suchen. Der Historikergeneration, die die „New Habsburg History“ als ihren Forschungsansatz nimmt, bleibt Judsons Synthese zweifelsohne ein deutlicher Wegweiser.

Neue Ansätze und theoretische Perspektiven von Judson, Cornwall, Zahra und anderen drehen historiographische Paradigmen um und bringen im Wesentlichen revisionistische Bemühungen in den Habsburgerstudien ein. Dieselben Ansätze begründen sich jedoch auf der Idee, dass Makro-Perspektiven wie sämtliche Verwaltungsreformen, Funktionen der bürokratischen Organisation oder die Entwicklung der Zivilgesellschaft mit anderen Mikro-Perspektiven verknüpft oder argumentiert werden. Dabei sollte man allerdings vorsichtig verfahren; im neuen Optimismus des habsburgischen Revisionismus darf der menschliche Faktor in der Geschichte, an den auch Marc Bloch stets erinnerte,31 nicht vergessen bleiben. Historiker dürfen nicht vergessen, dass die Geschichte auch für jemanden und über jemanden geschrieben wird – nicht fast ausschließlich über etwas. Das menschliche Element einiger zukünftiger Habsburgerstudien darf nicht auf Grund eines „franzisko-josephinischen normativen Optimismus“ aufgegeben werden. Außerdem sollten spezifische und partikuläre Charakteristiken der einzelnen Länder nicht geopfert werden, um weitreichende universelle Makro-Perspektiven um jeden Preis einzuwenden. Werke der kroatischen Historikerin Mirjana (Miriam) Gross (1922–2012) bieten noch heute einen zuverlässigen Wegweiser, wie spezifische Entwicklungen im Rahmen einer Makro-Perspektive der Habsburgermonarchie behandelt werden können.32 Um eine (noch) mehr nuancierte strukturelle Analyse der Habsburgermonarchie und ihrer Ambivalenzen zu erreichen, werden weitere kultur- und gesellschaftsgeschichtliche vergleichende Studien über die Peripherie des Reiches, über Galizien, Bukowina, Dalmatien, Istrien, Kroatien-Slawonien und auch Ungarn im Ganzen immer notwendiger. Gerade Ungarn als schwerwiegender Fragenkomplex wird noch immer in den meisten Synthesen reduziert oder nur auf politischer Ebene ergänzt, wobei kulturelle, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Aspekte zumeist selten vorkommen. Ein de-zentrierter, pluralisierter Blickwinkel auf die Habsburgermonarchie im langen 19. Jahrhundert sollte dabei zu neuen Synthesen individueller Erfahrungen diverser Gruppen führen, deren Existenzrahmen die Donaumonarchie darstellte. So werden weitere Studien des Verhältnisses von Zentrum und Peripherie (sowie Semiperipherie) eingebracht, die auch zu einer erweiterten Verflechtungsgeschichte führen können.

Nun besteht die Aufgabe nicht darin, nur das Umbruchjahr 1918 bzw. die Habsburgermonarchie bis 1918, sondern auch eine Epoche der langen Dauer im Wesentlichen aus anderen Blickwinkeln zu betrachten; nicht als das letzte Licht im Tunnel der Habsburgerstudien, sondern mehr als bindendes Jahr der Transition, die sich auf diversen Ebenen, sei es in der Kulturgeschichte, Literaturgeschichte, Mentalitätengeschichte oder auch in den Strukturen wie nationale Diskurse, politische Ideengeschichten usw. manifestiert. Da die „New Habsburg History“ meistens auf sozialgeschichtlicher Basis operiert, könnte man auch weiterhin epochenübergreifende Aufsätze (sowie Synthesen) erwarten, die Strukturen und Prozesse vor 1918 und nach 1918 verbinden und gründlich überprüfen.33 Multidisziplinäre und Transdisziplinäre Untersuchungen der Habsburgermonarchie und deren „Nachleben“ in der Zwischenkriegszeit (auf politischen, kulturellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ebenen) öffnen somit immer wieder neue Potentiale, die die Habsburgerstudien nicht nur durch revisionistische Bemühungen, sondern auch durch originelle Problemstellungen bereichern. Somit wird die Geschichte vom langen Fall zur Geschichte vom langen Wandel.

Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs

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