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4. Rückprojektion: die Integration der Vergangenheit

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Geschichte ist bekanntlich die Rekonstruktion der Vergangenheit nach Maßgabe aktueller Interessenlagen. Nichts illustriert diesen Befund besser als der Paradigmenwechsel nach historischen Umbrüchen, wie ihn „Der literarische Süden“ auch in diesem Bereich auf eindrückliche Weise dokumentiert. Während in der aktuellen Produktion der zahlreichen MitarbeiterInnen der Zeitschrift die integralistische Vision der Vergangenheit hier und da im Gewand patriotischer Gesinnungslyrik aufscheint, so wird in den programmatischen Texten die Vergangenheit insgesamt in teleologischer Perspektive als Vorgeschichte der jugoslawischen Einigung neu aufgewickelt. Mit der Kurzschaltung von Gesinnung und Wertung, d.h. mit der Erhebung der jugoslawischen Gesinnung zum Kanonisierungsprinzip, erscheint nun als „Tatsache“, „dass alle unsere besten Wissenschaftler, alle unsere besten Dichter, ob Serben, Kroaten oder Slowenen, seit den Anfängen unseres kulturellen Erwachens, begeistertste und überzeugendste Jugoslawen sind“, während umgekehrt gelten dürfe, „dass kein irgend bedeutender Kulturarbeiter im slawischen Süden Separatist gewesen“ sei.1 Literarischen Größen, deren patriotische Gesinnung mit mehr oder weniger Gewalt auf den integralistischen Rahmen gespannt werden kann, werden ganze Themenhefte gewidmet: so dem Illyristen Petar Preradović zum 100. Geburtsjubiläum und dem Modernisten Silvije Strahimir Kranjčević zum 10. Todestag.2

Das Programm einer integralistischen Gesamtrevision der literarischen Vergangenheit lieferte der erwähnte Antun Barac (1894–1955), der sich in den kommenden Jahrzehnten einen Namen als Literaturhistoriker und Kritiker machen sollte. Am Ende seiner Karriere als führende Persönlichkeit der Zagreber Südslawistik legte Barac übrigens eine Geschichte der jugoslawischen Literatur (1954) vor, deren Anlage und internationale Rezeption die schrittweise Distanzierung vom integralistischen Paradigma im sozialistischen Jugoslawien dokumentiert.3 Am Anfang der Karriere, in der Euphorie der großen Wende von 1918/19, machte sich der frisch promovierte Slawist für eine überfällige Modernisierung der Literaturgeschichtsschreibung im Sinne einer jugoslawischen Nationalliteratur stark.4

Den Paradigmenwechsel leitet Barac mit der Kritik an der dominanten Literaturgeschichtsschreibung ein, deren Leitprinzipien in seiner Sicht lauter Widersprüche und Unstimmigkeiten produzieren: Das territoriale Prinzip spalte die Literatur entlang historisch kontingenter Verwaltungsgrenzen; die inkonsequente Anwendung des ästhetischen Prinzips ergäbe weder eine kohärente Literaturgeschichte, noch eine Geschichte der Schriftlichkeit; und das philologische Prinzip, worunter Barac positivistische Faktenhuberei versteht, führe die analytischen Ergebnisse keiner Synthese zu. Die verfehlten Perspektiven, so Barac, nehmen ephemere Differenzen wie territoriale, religiöse oder orthographische Besonderheiten in den Blick und etablieren Korpora, hinter denen keine zusammenhängende Entwicklung zu erkennen ist.

Die scharfsichtige Kritik an der fehlenden Kohärenz literaturgeschichtlicher Narrative wird Barac in seiner späteren Entwicklung zu unterschiedlichen, auch literatursoziologischen Kontextualisierungen der Literatur führen. Jetzt wird der übergreifende Zusammenhang noch abstrakt als „Wesen der Nation“5 bezeichnet und wird dieses in der „Volksseele“ und im „Volksleben“ erblickt,6 die nur im jugoslawischen Rahmen betrachtet eine zusammenhängende Entwicklung offenbaren. Die organizistische Perspektive lässt den gesamtjugoslawischen Beobachtungsrahmen als zwingend, jede getrennte Beobachtung hingegen als ‚Zerstückelung‘ erscheinen, denn: „Das Volk ist ein Organismus, der geboren wird, der wächst und der stirbt.“7 Entsprechend gilt: „Unsere Volksliteratur wird zu einer sinnvollen, organischen Einheit, wenn alle drei Teile zusammen genommen werden, so dass von den ältesten Anfängen bis heute eine kontinuierliche Entwicklung beobachtet werden kann.“8

Die Einheit der jugoslawischen Literatur sei nicht das Ergebnis einer „Deduktion“, sondern literaturgeschichtliche „Tatsache“.9 Dabei seien die eindeutigen regionalen Verflechtungen (Barac nennt die Bereiche: liturgische und apokryphe Literatur, Ragusaner Literatur, kajkawische und protestantische Literatur, Literatur in Bosnien) sowie die Parallelen der Stilepochen (Barac erwähnt Romantik, Realismus, Naturalismus) zu einem Gesamtnarrativ zu ergänzen, indem die temporären Entflechtungen und Entwicklungslücken mit dem Substrat der Volksdichtung geschlossen werden. Denn diese, die Volksdichtung, führe ein Leben, dass auch in scheinbar ertraglosen Zeiten gleichsam „im Untergrund gedieh“.10 Nur so: überregional betrachtet und mit dem Kitt der Volksdichtung verbunden, offenbare sich „unsere Literatur“ als „einheitlicher, lebendiger Organismus, existierend ohne Unterbrechung von der Geburt bis heute“,11 vergleichbar mit einem „unterirdischen Fluss“, der schlussendlich „in voller Kraft zum Vorschein kommt“, oder mit den „Schlägen eines einzigen Herzens, die nicht überall zu hören sind, und doch niemals verschwinden“.12

Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs

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