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5. Fazit und Ausblick
ОглавлениеDer Geburtsakt und die Genese der Reinen Rechtstheorie sind an die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts gebunden. Angesichts politischer Spaltung, Differenzierung, Sezession und Krieg generiert sie das Recht als Recht, das heißt als eine menschengemachte und nichtsdestoweniger verbindliche Form mit eigenen Gesetzen. Wird ihm Geltung zugeschrieben und entfaltet es Wirkung, kann das Recht leisten, was vormals vielfach Politik und Militär oblag: die Legitimation und Aufrechterhaltung einer Ordnung (gleich welcher). Als Antwort auf die „Armeefrage“ ist sie gescheitert. Kelsen kommentierte die Niederlage nüchtern mit den Worten:
Nach dem Durchbruch der Bulgarischen Front war es jedermann, der die Verhältnisse in der Armee kannte, klar, dass der Krieg endgültig verloren war. Da die Armee das einzige war, was die Monarchie zusammenhielt, hatte ich keinen Zweifel mehr, dass ihre Auflösung unvermeidlich war, wenn nicht irgendein Versuch gemacht würde, sie in völlig neuer Form zu erhalten.1
Die von Kelsen angesichts des Untergangs der Donaumonarchie aufgerufene völlig neue Form des Rechts-Staats betritt gezwungenermaßen staatstheoretisches Neuland und lässt sich als eine jener „utopische[n] Geste[n] bei der Formulierung langfristiger sozialer und politischer Zukunftsmodelle“2 verstehen, wie sie laut Reimann aus der Erfahrungswelt des Krieges hervorgingen. So gesehen, ist die Reine Rechtlehre vor allem eins: Die Form, in der der Vertrauensverlust in die Kompetenz und Autorität der politischen und militärischen Eliten seinen Ausdruck findet.3
Für das realpolitische Gebilde der Donaumonarchie und die Opfer des Krieges kam die utopische Geste aus dem Raum der Rechtswissenschaft und ihrer Theoriebildung zu spät, und dies, wie Busch lakonisch kommentiert, „um mindestens einen ganzen Weltkrieg“.4 Doch liegt die Leistung der Reinen Rechtslehre nicht darin, dass sie einen Krieg verhinderte, an dem Kelsen als Verfassungsexperte beim Kriegsministerium selbst maßgeblich beteiligt war, sondern in der Vorlage eines Entwurfs, mit dem die Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens auf der Basis des Rechts dauerhaft neu gelegt werden. Die Theorie bzw. der Text aber ist noch in seiner reinsten Form von seinem Kontext nicht zu trennen. Kelsen selbst wusste das, als er im Jahr 1934, aufgrund seiner jüdischen Herkunft der Professur in Köln verlustig gegangen und nach Genf ausgewandert, im Vorwort zu seiner Reinen Rechtslehre auf deren Relevanz verweist in einer „durch den Weltkrieg und seine Folgen wahrhaft aus allen Fugen geratenen Zeit, in der die Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens aufs tiefste erschüttert […] sind“.5
Nicht allein an die Reine Rechtstheorie, sondern auch und vielleicht mehr noch an ihre Genese wäre zu erinnern, wenn es heute in einem Einführungswerk in die Politische Theorie und Ideengeschichte heißt:
Wir leben in politisch bewegten Zeiten. Eine Krise folgt auf die nächste, die Weltordnung hat sich in eine Weltunordnung verwandelt. Wohl dem, der in dieser Lage in das Archiv politischen Denkens steigen und sich dort Material holen kann für das Labor, in dem am Verständnis der aktuellen Probleme gewerkelt wird. Wie lassen sich politische Ideengeschichte und politische Theorie für das Verständnis unserer Gegenwart nutzen?6
In dem Archiv des politischen Denkens liegen auch die Schriften von Kelsen. Sie bieten sich gegenwärtig in besonderem Maße als Material für das Labor an, in dem am Verständnis der aktuellen Probleme gewerkelt wird. Entstanden in politisch überaus bewegten Zeiten, in denen nicht nur eine Krise auf die nächste folgte, sondern sich die Weltordnung durch den Großen Krieg gänzlich in eine Weltunordnung verwandelte, weisen Kelsens Schriften den Weg in eine neue Ordnung allein durch das Recht, wie sie vielleicht erst heute ihren Wirkungsanspruch einzuklagen vermag.7
Zudem wäre die hier nur gestreifte kultur- und literaturtheoretische Facette der Kelsen’schen Theoriearbeit schärfer ins Auge zu fassen und zu fragen, inwiefern sich die Reine Rechtslehre nicht nur als Idee und Paradigma, sondern auch als ein genuin literarischer Akt der Wertzuschreibung lesen lässt, kraft dessen im Raum der Texte die Entscheidungsgewalt von der Politik auf das Recht überschrieben wurde. Mit seiner Rechtslehre hat Kelsen das Labor der politischen Ideen in einen Ort des Konstruktivismus verwandelt: Er hat die Grundnorm offenkundig zu einer reinen Fiktion erklärt und der Fiktion im Gewand der Rechtsphilosophie ein politisches Eigenrecht zugesprochen.
Um die kulturwissenschaftliche Brisanz der Reinen Rechtslehre in diesem Ausblick noch deutlicher herauszustellen: Entsprechend der Kelsen’schen Idee hat die politische Wirklichkeit einer Fiktion zu folgen. Die Menschen müssten sich – wie in der Kunst und der Literatur – kollektiv und wissentlich auf eine in ihrer Geltung gestiftete Grundnorm einlassen, um auf ihr weitere bindende Normen etablieren zu können. Das ist ein radikaler Ausgriff des politischen Denkens in die Rechtsphilosophie und die Fiktionalität, der innerhalb der Staatswissenschaften nicht unwidersprochen bleibt. So hat Robert Chr. von Ooyen jüngst in seiner Studie Hans Kelsen und die offene Gesellschaft auf den unzureichenden Volks- oder auch Staatsbegriff bei Kelsen verwiesen und unter dem sprechenden Titel „Demokratietheorie ohne Volk, Staatstheorie ohne Staat. Kelsens postnationale und demokratisch-pluralistische Verfassungstheorie“ eine weitreichende Kritik vorgelegt.8
Und doch: Jede auf die Reinheit und Praxisferne der Rechtstheorie zielende Kritik ist ihrerseits zu relativieren durch eine formgenealogische Kritik. Erst die Genealogie, so heißt es bei Christoph Menke, enthülle die Kontingenz des Bestehenden.9 Dies gilt für die politische Ordnung der Donaumonarchie einschließlich ihres Zusammenbruchs ebenso wie für die Reine Rechtslehre. Beide hätten anders ausfallen können und sind gleichwohl in ihrer jeweiligen Form aneinander gekoppelt. Die Rechtsstaatstheorie Kelsens hatte einen Staat: Die Donaumonarchie war vor ihrem Untergang bereits seit längerem auf dem Weg zu einer Rechtsgemeinschaft.10 James Shedel betont, dass die Situation in Österreich vor dem Ersten Weltkrieg keine Krise war, sondern „the product of a developmental continuity defined by the concept of the Rechtsstaat“.11Auch Lindström spricht von einer „public culture strongly shaped by the norms and ideals of the Rechtsstaat“.12 Kelsen war ein Teil der Reformbürokratie und mithin ein Akteur, der um die Dringlichkeit von Normen ebenso wusste wie um deren Kontingenz. Seine intellektuelle Biographie begann in einer Zeit weitreichender politischer Entscheidungen:
Around 1900, the situation of the Josephinist state was indeed balancing on the edge: Should it keep its basic a-national, abstract character of a Rechtsstaat that insisted on recognizing the population as a collection of individuals who should be treated equally and impartially, or should it compromise with developments in society and begin to politically recognize the different sub-groups that had been forming in society?13
Die Würfel waren noch nicht gefallen, als Kelsen sich dem Staatsrecht zuwandte. Erst der Große Krieg ließ die alte Ordnung untergehen. Ein zweiter Weltkrieg folgte. Ob heute über den Weg der Rechtstheorie eine neue, langfristig friedliche Ordnung zu werden vermag, ist offen.14 Sicher aber scheint uns, dass Kelsens radikale Form der Rechtswissenschaft als Norm- und Kulturwissenschaft nur über ihre Genese im Kontext der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu verstehen ist.