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3. Integration: das ‚dreinamige Volk‘ und seine Literatur

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Dass die jugoslawische Integration als Mission zur Konsolidierung des ‚geistigen Raums der Nation‘ erscheint und in Abhandlungen mit Titeln wie Nationalphilosophie oder Unser Jugoslawien-Ideal im Modus abstrakter kulturphilosophischer Spekulation elaboriert wird, hat neben kontextuellen auch immanente Gründe. In der Perspektive der jugoslawischen Nationalisten bedurfte der befreite und geeinte Volkskörper nach Jahrhunderten gewaltsamer Trennung und nach Jahren erzwungener Selbstzerfleischung an den Fronten des Weltkriegs in der Tat nicht nur politischer Akte und Akteure (denen man mit guten Gründen skeptisch entgegen sah), sondern vor allem der „wahre[n] und einzige[n] Aristokratie des Geistes“, um „unser Volk für den finalen Akt der jugoslawischen Revolution durch den Aufbau der ethischen Einheit der jugoslawischen Seele“ vorzubereiten.1 Mit anderen Worten: Es bedurfte geeinter Anstrengungen der kulturellen Elite zur Entwicklung des Zusammengehörigkeitsgefühls der ‚imaginierten Gemeinschaft‘ und ihrer Legitimation im Rahmen möglichst weit ausgreifender Einheitsnarrative.

Wenn auf der Suche nach der Nationalspezifik der jugoslawischen Kultur ein „angeborener Sinn für Gleichheit“ oder eine „Philosophie des Heroismus als jugoslawische Philosophie“ detektiert wird,2 oder wenn „der Glaube an die moralische Kraft und den Schaffensgeist der ganzen jugoslawischen Rasse“3 beschworen wird, dann scheinen zeittypische Denk- und Sprachmuster auf, die von der geistesgeschichtlichen und volkspsychologischen Spekulation bis zum völkischen Gedankengut in der Art von Josef Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften reichen.4 Die Forderung der Stunde bestand offenbar darin, aktuelle Diskurse für die Entdifferenzierung und Homogenisierung der endlich vereinten jugoslawischen ‚Stämme und Landschaften‘ fruchtbar zu machen.

Der Homogenitätsstiftung mit den Mitteln spekulativer Einheitsnarrative stehen im „Literarischen Süden“ freilich konkrete Maßnahmen und Vorschläge zur Integration des Kulturbetriebs zur Seite, wobei der Zeitschrift selbst aufgrund ihres gesamtjugoslawischen Bezugs- und Resonanzraums eine wichtige Rolle zukommt. Der Umfang des Projekts zur Konstituierung einer einheitlichen jugoslawischen Literatur mit geeintem Literaturbetrieb, dem sich die Zeitschrift seit ihrer Gründung zu Beginn des letzten Kriegsjahres dezidiert widmete, wird im einleitenden programmatischen Text nüchtern umrissen: „Hier harren unser hundert praktische Aufgaben: die Frage einer einheitlichen Literatur, einer einheitlichen Sprachvariante mit einer Schrift und einer Rechtschreibung; die Frage gemeinsamer literarischer Betriebe, literarischer Gesellschaften und Zeitschriften, die Organisation unseres Buchhandels usw.“5 Die Liste der Desiderata ist freilich noch länger; in weiteren Beiträgen wird auch die Zusammenarbeit in der Wissenschaftskultur, das Zusammenwachsen des Übersetzungsbetriebs, Aufgaben der Schulbildung u.a. genannt.6

Die größte, bereits im Februar 1918 in Angriff genommene Herausforderung des integralistischen Programms war die Initiative zur Fusion der Sprachen und Schriften. Während die Außengrenzen der postulierten Nationalliteratur aufgrund der Integrationsbemühungen seit dem 19. Jahrhundert auch vor der staatspolitischen Rekonstruktion vom Herbst 1918 keiner Diskussion mehr bedurften, war die „Invisibilisierung der Binnendifferenzen“7 im südslawischen Rahmen eine komplexe Herausforderung. Im Mittelpunkt der Debatte stand die Integration der standardsprachlichen Varianten des dominanten ‚Serbokroatischen‘, während die marginalisierten (slawischen, deutschen u.a.) Komponenten der Kultur mit der Selbstverständlichkeit der zunehmend gefestigten und 1918 auch staatspolitisch gekrönten Dominanzverhältnisse übergangen wurden. Die Initiative zur Fusion der serbokroatischen Sprachvarianten knüpfte an serbische Initiativen von 1913 und 1914 an: Die Kroaten sollten ihre ‚ijekawische‘ Sprachvariante, die Serben ihre kyrillische Schrift aufgeben. Die angestrebte Lösung, 1918/19 offenbar unterstützt von einer gewachsenen Zahl von Schriftstellern ‚aller drei Stämme‘, war also die nur noch in lateinischer Schrift geschriebene ‚ekawische‘ Variante des Serbokroatischen.8 Die programmatischen Texte und andere Beiträge im „Literarischen Süden“ machten allerdings deutlich, dass der Umsetzung des ambitionierten Projekts – auf Anhieb erkennbar an der Durchmischung der Sprachvarianten und Schriften unter den Beiträgern der Zeitschrift, vor allem an der Umstellung auf die ekawische Variante bei kroatischen Schriftstellern – klare Grenzen gezogen waren. Zum einen musste der „uniformierende Prozess der gegenseitigen Verschmelzung“9 im Falle des eindeutig differenten Slowenischen dem Prinzip einer „spontanen, gewaltlosen und somit organischen“10 Entwicklung im Sinne einer mehr oder weniger spontanen Assimilation überlassen werden.11 Zum anderen musste von der Abschaffung der kyrillischen Schrift vorerst Abstand genommen werden, war diese doch für die Serben ein „Leidensgenosse“ im Krieg und „graphisches Symbol unseres Kampfes um Selbsterhaltung“12 geworden. So konnte auch die kyrillische Schrift, neben der Wahl der ekawischen Variante, vor allem bei kroatischen Schriftstellern als Zeichen der integralistischen Gesinnung fungieren.13

Sprache und Schrift stehen im Dienste der Nationalliteratur, des zentralen Mediums nationaler Integration auch in der Spielart des integralen Jugoslawismus. Auch in dieser Spielart kommen die charakteristischen Muster organizistischer und zirkulärer Funktionsbestimmung der Literatur zum Einsatz: Bleibt sie volks- und lebensnah, ist sie genuiner Ausdruck des nationalen Bewusstseins – zu dessen Konsolidierung und Ausbau wiederum gerade sie, die Nationalliteratur, maßgeblich beitragen soll.14 Zwischen der organizistischen Perspektive und den – gerade auf den Seiten der Zeitschrift mit besonderer Kühnheit erbrachten – Aufbauleistungen im Bereich von Sprache, Schrift, Kanonisierungsprozessen u.a. wird kein Widerspruch wahrgenommen, da in dieser Perspektive jede Aufbauleistung als Freilegung, Revitalisierung oder Ausbau nationaler Substrate in der Regie der entsprechenden Avantgarde ausgelegt wird.

So kann auch für die Behauptung, dass „die literarische Einheit kein Phantom, sondern Tatsache ist“,15 in Ermangelung literatursoziologischer Argumente auf die literarische Avantgarde verwiesen werden: auf die jugoslawische Orientierung der literarischen „Pioniere“ und die grenzüberschreitenden Leseinteressen des „intelligenten Lesepublikums“. Literaturgeschichtsschreibung und Literaturkritik, so der Literaturhistoriker Antun Barac, hinken der Entwicklung allerdings nach, indem sie innerjugoslawische, also stammesbezogene „Unterschiede hervorheben, die winzig sind, die nichts zu bedeuten haben“, und somit den „Fortschritt verhindern“. Für die Offenlegung der jugoslawischen Einheit in Vergangenheit und Gegenwart sei die übliche Faktenhuberei denkbar ungeeignet; gefragt seien „künstlerischer Instinkt“ und „Intuition“. Antun Barac selbst lieferte in der Zeitschrift Prolegomena für ein entsprechendes literaturhistorisches Narrativ.

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