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1. Der Rahmen

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Dass die kriegerischen Ereignisse von 1914 bis 1918 als Weltkrieg bezeichnet werden, ist ein Fall für eine narrative Kulturanalyse, die davon ausgeht, dass eine Erzählung immer auch schon eine retrospektive Deutung des Erzählten beinhaltet. Er ist für Ödön von Horváth ein Weltkrieg, weil viele Menschen eine Welt verloren haben, eben jene Welt der Habsburger Monarchie. Damit sind drei Schatten-Phänomene benannt: die Fremdheit der neuen Welt, in der viele Menschen verloren sind, der Bruch mit der bisherigen selbstverständlichen Zugehörigkeit (‚Heimat‘, ‚Identität‘) und daraus resultierend eine Marginalisierung: die Bedeutungslosigkeit der neuen Welt geht Hand in Hand mit einer sozialen Deplacierung. Dies ist bei genauerer Betrachtung ein Kernstück in den Werken von Joseph Roth und Ödön von Horváth.

Mit Blick auf die Psychoanalyse, die schon sehr früh dem Begriff „Trauma“ als einer spezifischen Form der Neurose eine konzise Bedeutung gegeben hat, lässt sich sagen, dass dieser Krieg traumatisierte Menschen en masse hervorgebracht hat, was Freud, der gerade an seinem neuen, die eigene Lehre dramatisch verändernden Werk Jenseits des Lustprinzips arbeitet, in einer ironischen Replik in einem Brief an Sándor Ferenczi festhält: „Unsere Analyse hat eigentlich auch Pech gehabt. Kaum daß sie von den Kriegsneurosen aus die Welt zu interessieren begann, nimmt der Krieg ein Ende, und wenn wir einmal eine Quelle finden, die uns Geldmittel spendet, muß sie sofort versiegen.“1

Mit Freud lässt sich gegen diesen sarkastischen Kommentar geltend machen, dass die durch das Geschehen des Ersten Weltkriegs und die ihm nachfolgenden Ereignisse bewirkte Traumatisierung mit dem Kriegsende nicht aufhört, sondern erst recht eigentlich beginnt. Traumatisierung und Marginalisierung werden zu kollektiven Phänomenen, deren systematische Analyse die nachfolgende Katastrophe von Faschismus und Nationalsozialismus, von Shoah und Wiederholungskrieg schlimmsten Ausmaßes tendenziell zu erhellen vermag.

Bruch, Fremdheit und Marginalität erzeugen ein Gemisch von Melancholie und Aggression, Themen, deren sich die Psychoanalyse Freuds nach 1918 intensiv angenommen hat. Die Menschen, so lautet der Befund bei vielen ‚altösterreichischen‘ Autoren, agieren noch immer im Schatten der Gewalt. Zugleich sind sie ein Schatten ihrer selbst. Viele österreichische und deutsche Soldaten sind in ihren Uniformen nach 1918 stecken geblieben, der Übergang in das Zivilleben ist ihnen nicht wirklich gelungen. Der Krieg ist nicht zu Ende, er geht weiter. Dieser Schatten mündet psychoanalytisch betrachtet im Sinn des Wiederholungszwangs in einen zweiten Weltkrieg. Das erlaubt die Konstituierung eines Narrativs, in dem der Erste Weltkrieg, die Zwischenkriegszeit und der Zweite Weltkrieg als einen modernen Dreißigjährigen Krieg zu deuten, eine Konstruktion, die es gestattet, externe und interne gewaltsame Auseinandersetzungen, Kriege und Bürgerkriege, in einem zeitlich-kausalen roten Faden miteinander zu verbinden. Dieser Dreißigjährige Krieg führt zu einer vollständigen geographischen und symbolischen Neuordnung Europas, die man als post-imperial bezeichnen kann.

Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs

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