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Vorwort

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Die Kapitulation der Achsenmächte im November 1918 brachte Europa bekanntlich keinen Frieden – bereits 1917 begann eine Reihe von Revolutionen, Konterrevolutionen, Bürgerkriegen, ethnischen Säuberungen und verschiedenen anderen gewaltsamen Konflikten, die sich über viele europäische Länder ausbreitete und bis 1923 andauerte. Diese Welle der politisch und ideologisch bedingten Gewalt, die sich nach einer Stabilisierungsphase mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1929 wieder entfesseln und ihren Höhepunkt mit dem Zweiten Weltkrieg erreichen würde, hing mit mehreren, miteinander eng verbundenen Ursachen zusammen: mit dem Kollaps großer dynastischer Imperien, mit der Gründung neuer, in vielerlei Hinsicht problematischer Nationalstaaten und mit der Entstehung zahlreicher radikaler Bewegungen, die ihre erklärten Ziele – ob nationalistisch-revisionistische oder sozial-revolutionäre – mit unterschiedlichen Formen der paramilitärischen Gewalt zu erreichen suchten. Dass die Gewalt der Nachkriegszeit auch im Kontext mehrerer bewaffneter Konflikte wie Balkankriege 1912–1913, die dem Ersten Weltkrieg vorausgegangen waren, betrachtet werden sollte, versteht sich von selbst.

In der Erforschung des Ersten Weltkriegs ging man lange von zwei Voraussetzungen aus: 1) der Krieg begann Anfang August 1914 mit dem österreichisch-ungarischen Angriff auf Serbien und endete am 11. November 1918 mit der Unterzeichnung des Waffenstillstandes an der Westfront; 2) der Erste Weltkrieg war ein Krieg zwischen Nationalstaaten. In der neueren Zeit – z.B in den Forschungen von Historikern wie Robert Gerwarth, John Horne, Erez Manela oder John Paul Newman – wird der ‚Große Krieg‘ jedoch als Epizentrum einer großen Reihe bewaffneter Konflikte betrachtet, die einige Jahre vor 1914 begonnen und sich bis 1923 hingezogen haben. Als Anfang dieser Abfolge gewaltsamer Auseinandersetzungen werden der italienische Angriff auf die osmanische Provinz Libyen und der Ausbruch der Balkankriege 1912 angesehen, Kriege, die zu weiteren territorialen Verlusten des schon stark angeschlagenen Osmanischen Reiches führten. Nach der Beendigung des Ersten Weltkriegs waren insbesondere die Nachfolgestaaten zusammengebrochener Imperien von der Gewaltanwendung heimgesucht, ein Prozess, der 1923 mit dem griechisch-türkischen Friedensvertrag von Lausanne ein (vorläufiges) Ende fand; im gleichen Jahr wurde auch der irische Bürgerkrieg beendet, die Weimarer Republik begann sich rasch vom Chaos der Nachkriegsjahre zu erholen und ein Jahr danach wurde mit der NEP auch die Konsolidierung Sowjet-Russlands eingeleitet.

Auch die zweite genannte Voraussetzung, wonach der Erste Weltkrieg als ein Krieg der Nationalstaaten angesehen werden sollte, wird in der neueren Zeit infrage gestellt. Sieht man hingegen den ‚Großen Krieg‘ primär als einen Krieg multiethnischer Reiche an, so kann auch die massive Gewaltanwendung vor 1914 und nach 1918 als Prozess einer Neuordnung von globalen Machtverhältnissen leichter nachvollziehbar sein. In diesem Prozess wird nämlich die politisch-räumliche Organisation Zentral-, Ost- und Südosteuropas – bis dahin von kontinentalen dynastischen Imperien dominiert – von einer neuen, nationalstaatlich bestimmten Ordnung ersetzt: Aus dem Zusammenbruch der alten Reiche der Habsburgs, Romanovs, Hohenzollern und Osmanen sind – zumeist instabile – Nationalstaaten hervorgegangen, die wegen ihrer multiethnischen Bevölkerungsstruktur oft an soeben zugrunde gegangene Imperien erinnerten und daher auch mit ähnlichen Problemen konfrontiert waren.

Die größte Gefahr für die Begründung und Konsolidierung demokratischer politischer Ordnungen kam dabei von verschiedenartigen revolutionären und gegenrevolutionären Bewegungen, die nach dem Kriegsende insbesondere in den Nachfolgestaaten zusammengebrochener dynastischer Reiche entstanden sind und in ihrem Kampf gegen die liberaldemokratische Staatsordnung, oft aber auch gegeneinander, sich paramilitärischer Verbände bedienten. Den ‚Gewaltkulturen‘, die in verschiedenen europäischen Ländern sehr unterschiedliche Ausmaße und Organisationsformen angenommen haben, gehört daher ein zentraler Stellenwert bei der Beschäftigung mit dem Untergang der Imperien, der Entstehung neuer staatlicher Entitäten wie auch den damit zusammenhängenden ethnischen Konflikten, Revolutionen und Gegenrevolutionen.

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Unterschiedliche Diskursivierungen der genannten Themenkomplexe, die dem historischen Rahmen der 1910er und 1920er Jahre entsprungen sind und in der darauffolgenden Zeit weiterentwickelt wurden, werden im vorliegenden Sammelband von Forschern und Forscherinnen aus verschiedenen Ländern, unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und differenten methodologischen Perspektiven aufgegriffen und diskutiert. Die hier versammelten Beiträge gehen auf Vorträge der Konferenz „Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs: kollabierende Imperien, Staatenbildung und politische Gewalt“ – „Europe in the Wake of World War I: Collapsing Empires, Emerging States and Post-War Violence“ zurück, die an der Universität Zagreb im Rahmen des von der Croatian Science Foundation finanzierten Forschungsprojektes „Postimperiale Narrative in den zentraleuropäischen Literaturen der Moderne“ im März 2019 stattgefunden hat.

Der interdisziplinäre Ansatz, ein erklärtes Anliegen des an der Zagreber Germanistik situierten und an das Wiener Projekt kakanien revisited anschließenden Forschungsprojektes, ist auch im vorliegenden Sammelband von zentraler Bedeutung und reicht von den literatur- und kulturwissenschaftlichen bis zu den historiographischen und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen. Als primäre Untersuchungsbasis – ein weiteres Anliegen der Konferenz und der beiden Projekte – dient hier Literatur, jenes Medium, das über die besondere Fähigkeit verfügt, die Bestände des kulturellen Gedächtnisses und damit auch die Prozesse individueller wie auch kollektiver Identitätsbildung komplex darzustellen. Über die Literatur hinaus werden die genannten Problembereiche auch in diversen nichtfiktionalen Diskursen und Formaten (Periodika, Vereine, politische und soziale Zeitphänomene mit Langzeitwirkung) erörtert, deren Entstehung nicht unbedingt in den fokussierten Zeitraum fällt, mit ihm jedoch in einer engen Verbindung steht. Aus einer solchen Ausrichtung der Beiträge geht auch die Gliederung des Sammelbandes in drei Sektionen hervor, deren jede schwerpunktmäßig einem der genannten Aspekte der Diskursivierung – theoretisch/historisch, publizistisch, fiktional – entspricht.

Die erste Sektion, die sich auf theoretische und historische Diskurse konzentriert, wird mit den Reflexionen Wolfgang Müller-Funks eröffnet, die den kulturanalytisch und narratologisch inspirierten Rahmen des anvisierten Forschungsgegenstands mit der Lektüre einiger paradigmatischer Literaturtexte der Nachkriegszeit verbindet. Wie sich die geschichtsträchtigen Ereignisse der Umbruchzeit in der Historiographie und den Rechtswissenschaften ausgewirkt haben, zeigen die Arbeit von Filip Šimetin Šegvić, der sich mit der recht widersprüchlichen Narrativierung des Untergangs Österreich-Ungarns in der neueren Geschichtsforschung befasst, sowie die Arbeit von Christine Magerski und Johanna Chovanec, die der Entstehung der „Reinen Rechtslehre“ Hans Kelsens, eines fundamentalen Beitrags zur modernen Rechtstheorie, aus dem Zusammenbruch imperialer Ordnungen nachgehen. Der theoretische Teil des Sammelbandes wird mit dem Aufsatz von Fatima Festić abgeschlossen, der ein close reading von Freuds Essay Jenseits des Lustprinzips (1919–1920) und den gleichzeitig entstanden Gedichten Anna Achmatovas bietet.

Im zweiten, den publizistischen Diskursen gewidmeten Abschnitt des Sammelbandes wird eine Bandbreite unterschiedlicher ideologischer, politischer und/oder kultureller Leitbilder und Verhaltensmuster der 1910er und 1920er Jahre aufgezeigt, wobei nicht nur ihre zeitgenössischen Kontexte, sondern zugleich auch ihre – oft verhängnisvollen – Folgen für spätere Zeiten sichtbar gemacht werden. So wird von Svjetlan Lacko Vidulić ein Zagreber literarisches Periodikum der frühen Nachkriegszeit präsentiert, dessen Programmatik auf dem jugoslawischen Integralismus beruhte, jener politischen Option, die die Unzulänglichkeiten des südslawischen Königreichs schon in seinen Anfängen freilegte. Einen genauso ambivalenten Blick auf die Auflösung imperialer Ordnungen und die schwierige Konsolidierung neubegründeter Staaten bietet Johann Georg Lughofer in seinem Beitrag über die Zeitungsberichte des jungen Joseph Roth über den polnisch-sowjetischen Krieg im Jahre 1920, die den späteren Monarchisten als Bewunderer der Roten Armee erscheinen lassen. Wie sich eine lokale Ritualmordlegende zu einer antisemitischen Affäre mit langwierigen, heute noch spürbaren Folgen entwickeln konnte, zeigt Endre Hárs am Fall „Tisza-Eszlár“ und an dessen zahlreichen Literarisierungen. Ungarische Zustände hat auch der Beitrag Andrea Seidlers zum Thema, in dem sehr unterschiedliche, von der politischen Positionierung abhängige Reaktionen der Wiener Presse auf die Räterepublik Béla Kuns zur Darstellung kommen. Viel mehr stereotypisiert als politisch bedingt erweisen sich – wie Toni Bandov in seinem Aufsatz festhält – die Berichte niederländischer Publizisten über ihre Reisen durch das Königreich Jugoslawien. Dass die frühe Nachkriegszeit nicht nur von nationalstaatlichen Absonderungsbestrebungen dominiert war, sondern auch erste moderne, wenngleich nicht unumstrittene europäische Vereinigungskonzepte mit sich brachte, wird von Aleš Urválek am Beispiel von Karl Anton Rohans „Kulturbund“ und dessen Organ „Europäische Revue“ sichtbar gemacht.

Die dritte Sektion des Sammelbandes bringt ein breites Spektrum fiktionaler Darstellungen, die diversen nationalen Traditionen entspringen, sich auf spezifischen individuellen Poetiken begründen und demzufolge auch die Turbulenzen des Kriegsgeschehens und der darauffolgenden Jahre in unterschiedlicher, oft gegensätzlicher Weise in Szene setzen. Als eine Art „loss of innocence“ werden von Jelena Šesnić die Narrativierungen des ‚Großen Krieges‘ in der amerikanischen Literatur bezeichnet, die – wie an Fallbeispielen von Hemingway und Dos Passos gezeigt – Rituale von Gewalt und Männlichkeit auf der Folie einer massiven Traumatisierung zum Vorschein bringen. Im Beitrag von Davor Dukić werden repräsentative Texte des jungen Ivo Andrić vorgestellt, die nicht nur ästhetische, sondern – wenngleich indirekt – auch weltanschaulich-politische Präferenzen des späteren Nobelpreisträgers vorwegnehmen. Zwei diametral entgegengesetzte Inszenierungen von D’Annunzios ‚Fiume-Unternehmen‘ – als ein dionysisches Fest beim Italiener Giovanni Comisso und als eine hysterische Tragikomödie beim Kroaten Viktor Car Emin – kommen im Aufsatz von Marijan Bobinac zur Darstellung. Der Roman des kroatischen Schriftstellers August Cesarec Des Kaisers Königreich (1926), der die Umtriebe der revolutionären kroatischen Jugend in der Vorkriegszeit zum Thema hat, wird von Milka Car im Spannungsfeld postimperialer und nationaler Diskurse analysiert. Das verunsicherte Zeitgefühl der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg wird von Hans Richard Brittnacher am Beispiel von Leo Perutz’ Roman Wohin rollst Du, Äpfelchen? (1928) ins Blickfeld gerückt, vordergründig einem konventionellen Heimkehrer- und Racheroman, dessen politische und ästhetische Relevanz sich insbesondere am Schicksal seiner deplatzierten und traumatisierten Protagonisten festmachen lässt. Ein völlig anderes Anliegen verfolgt Bruno Brehm mit seiner erfolgreichen Romantrilogie Die Throne stürzen (1931–1933) über den Verfall des Habsburgerreiches: Entgegen dem Versuch des Autors, seinen Longseller nach dem Zweiten Weltkrieg als eine Art retrospektive Utopie darzustellen, weist die ursprüngliche Fassung der Trilogie – wie Jörg Jungmayr in seinem Aufsatz zeigt – deutlich auf Brehms Ablehnung der multinationalen Monarchie und dessen Befürwortung eines großdeutschen Führerstaats. Den Sammelband schließt der Beitrag von Jelena Spreicer über Miroslav Krležas Roman Ohne mich (1938), in dem die Inszenierung des postimperialen Kroatien auf der Folie der gewalttätigen Geburt einer neuen, von Anfang an korrupten Elite, die den anonymen Romanhelden „an den Rand des Verstandes“ treibt, geboten wird.

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Für die finanzielle und logistische Unterstützung bei der Realisierung des Forschungsprojektes, der Konferenz und des vorliegenden Bandes möchten wir den Geldgebern, der Croatian Science Foundation, der Universität Zagreb und der Universität Brno, wie auch anderen fördernden Institutionen, insbesondere dem ÖAD, dem Österreichischen Kulturforum Zagreb und der Universität Wien herzlich danken. Unser Dank gilt auch allen Konferenzteilnehmern und Konferenzteilnehmerinnen für rege Diskussionen und gemeinsame Erkundungen auf dem Gebiet der postimperialen Narrative im zentraleuropäischen Raum. Last, but not least danken wir auch dem Narr Francke Attempto Verlag und der Reihe „Kultur – Herrschaft – Differenz“ für die freundliche Aufnahme in ihr Verlagsprogramm. Dank gilt auch jenen Kollegen, die sich am Peer Review-Verfahren beteiligt haben.

Marijan Bobinac, Wolfgang Müller-Funk, Jelena Spreicer, Andrea Seidler, Aleš Urválek

Brno, Wien und Zagreb im März 2021

Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs

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