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4.10 Implizieren und Vorantragen
ОглавлениеNach Rogers schließen sich einerseits Vorstellungsgestalt und Aktualisierungstendenz und andererseits dialogisches Verhalten und organismisch ausgerichtete Personzentriertheit nicht aus (s. o.). Es blieb aber Eugene Gendlin, der 1951 an das Rogers’ Counseling Center (Universität Chicago) kam, vorbehalten, diese Pfeiler seines Personzentrierten Ansatzes theoretisch sowie praktisch zu integrieren.
Gendlin wies hinsichtlich seines Schaffens auf die große Bedeutung Diltheys hin (vgl. Wiltschko, 2008, S. 150). Zu den relevanten Fundstellen von Gendlins Konzepten bei Dilthey gehören Begriffe wie Kreuzen,Implizieren und Vorantragen (vgl. u. a. Dilthey, 1910/1965, S. 156 ff.). Nach Dilthey vermag kein Mensch aus seiner Kultur, Gesellschaft, Familie usw. herauszutreten. Das sind alles persönliche Bezüge, die sich in seinem Organismus kreuzen. Der Mensch kann sich so seines Strukturzusammenhangs innewerden (vgl. u. a. ebd., S. 195). Dilthey sah sich in der Nähe Schopenhauers, versuchte indes dessen »Paradox« der Wirklichkeitsstruktur zu überwinden (vgl. Rodi, 2016, S. 56).
In seinem theoretischen Hauptwerk Ein Prozess-Modell geht Gendlin (1997/2016) von der Interaktion aus (vgl. ebd., S. 51 ff.). Die Interaktion ist Gendlins wichtigster Grundsatz (vergleichbar mit einem Axiom). Gendlin nennt sein Konzept »Interaktion first« (vgl. u. a. ebd., S. 92; Hervorhebung i. Org.). Nach dem Autor ist der Lebensprozess eine beständige Leib-Umwelt-Interaktion.
Gendlin zufolge werden mit der Interaktion jeweils neue Erfahrungen vom Organismus einbezogen, wodurch sich das schon früher Integrierte verändert, bevor es weitergehend aufgefächert und ausgebreitet wird. Gendlins Prozess ist ein sich selbst generierender Lebensprozess, der im Wesentlichen darin besteht, dass sich die Person in etwas Gegebenes hineinbegibt; i. d. R. in etwas bereits interaktiv Involviertes, wodurch sich etwas Weiteres ereignet, das weitergehend wiederum ausgedrückt wird. Auf jede weitere Aktivität erfolgt wieder ein neues Implizieren. »Jedes Geschehen geschieht in das letzte Implizieren hinein und verändert es« (ebd., S. 171; Hervorhebung i. Org.).
Ein sich vorantragendes Geschehen ist ein bestimmter Modus der Explikation. Im Sinne Gendlins kann die Explikation nicht als einfache Repräsentation verstanden werden, sondern ist selbst jeweils ein weitergehender Prozess. Gendlin zufolge bedeutet Explizieren auch, dass es mehr und auch anderes umfasst als das Geschehen, in dem das jetzt Explizierte vorgängig noch implizit war. »Keine Explikation ist je äquivalent mit dem […], was sie expliziert« (ebd., S. 57). Was sich gleichbleibt, kann nicht abgesondert von dem betrachtet werden, was sich verändert, und vice versa. Das Explizieren trägt das Implizieren, natürlich immer auch das neuerliche, mit sich voran; das heißt, der Prozess setzt sich stets weiter fort.